Am Anfang dieser Lesung steht ein eindeutiges Bekenntnis: Der Gott des Alten Testaments ist ein und derselbe, der in Jesus Christus Mensch geworden ist. Wenn Jesus spricht, hören wir durch ihn denselben Gott, den ein Abraham vernommen und der sich in den Propheten mutige Sprecher und damit eine Stimme verschafft hat.
Einordnung
Hintergründe des Hebräerbriefs
Mit den Worten der Lesung vom Ersten Weihnachtstag beginnt der sogenannte Brief an die "Hebräer". Dessen Verfasser ist unbekannt. Schon der frühe Kirchenschriftsteller Origenes (ca. 185 - 254 n. Chr.) schreibt, dass "Gott allein" über die Identität des Verfassers "die Wahrheit wisse". Dass es nicht Paulus war, darin sind sich alle einig. Sprache, Theologie und thematische Schwerpunkte unterscheiden sich allzu deutlich von ihm. Das durchgehende Bemühen, die Gestalt Jesu Christi bzw. seine Bedeutung für den Glauben auf "Folienbildern" des Alten Testaments zu profilieren (Jesus ist mehr als die "Engel", er ist mehr als der alttestamentliche "Hohepriester", sein "Heiligtum" ist kein irdisches [wie das Zelt in der Wüste oder der Tempel von Jerusalem], sondern ein "himmlisches" usw.), lässt am ehesten an Christen denken, die den Weg aus dem Judentum zum Christentum gefunden haben. Dies soll wohl auch durch die nachträgliche Überschrift "An die Hebräer" [griechisch: prós hebráious) nahegelegt werden. Andererseits setzt das Schreiben nirgendwo ein wirklich praktiziertes Judentum voraus, scheint sogar eher ursprünglich aus dem Bereich des Vielgötterglaubens stammende Christen vorauszusetzen (vgl. Hebräer 6,1: "wir wollen nicht noch einmal den Grund legen mit der Abkehr von toten Werken und dem Glauben an Gott"). Daher meint besonders die heutige deutsche Forschung zum Neuen Testament, dass wir uns eher eine heidenchristliche Gemeinde oder eine entsprechende Untergruppierung einer größeren Gemeinde, vielleicht im Gebiet Roms (?), vorstellen müssen. Tatsächlich machen die vielen alttestamentlichen Bezüge in Hebräer mehr den Eindruck intensiver Lektüre des Alten Testaments als denjenigen einer "Welt", in der man sich immer schon glaubend bewegt hat. Damit wäre allerdings eine sehr gebildete und wissende Gemeinde vorausgesetzt. Damit deutet sich allerdings zugleich das Problem an, dass heutzutage beim Vorlesen in der Gemeinde Lesungen aus dem Hebräerbrief kaum verstanden werden, weil das vorausgesetzte alttestamentliche Wissen eben nicht vorausgesetzt werden kann! Während heute nach ca. zwei Jahrtausenden viel Erklärungsarbeit ntowendig ist, war es für den Schreiber der damaligen Zeit offensichtlich möglich, mit seinen Worten in die Herzen zu treffen, mit denen er mahnen wollte, den Glauben nicht zu verlieren, und vor allem Mut und Hoffnung machen wollte.
Kein wirklicher Brief
Formal ist das Schreiben an die "Hebräer" kein wirklicher "Brief". Eher handelt es sich um eine groß angelegte Predigt oder gar Predigtsammlung (z. B. zu den Themen "Wort Gottes", "Ruhe", "Jesus, der Hohepriester"), die nur ganz am Ende mit Bitten und Gruß etwas künstlich an einen tatsächlichen Brief erinnert (Hebr 13,18-25). Ganz im Sinne jüdischer Predigten der damaligen Zeit kreisen die Ausführungen immer wieder um ausgesuchte Zitate aus der Heiligen Schrift, die im 1. Jh. n. Chr. noch allein aus dem Alten Testament bestand.
Hebräer 1,1-6 als Eröffnungstext
Insgesamt ist Hebr 1,1-6 ein extrem verdichteter Text. Wie eine Ouvertüre spielt er schon auf zahlreiche Themen an, die erst später entfaltet werden. In dieser Hinsicht ist der Text eher eine Art "Stichwort-Gedicht", wenn auch von höchster literarischer Qualität. Zum anderen setzt er als ein Schreiben aus dem ausgehenden 1. Jh. n. Chr. (80 - 90 n. Chr.) schon große theologische Texte bzw. zumindest deren Gedanken voraus. Hier sind vor allem die beiden Christushymnen des Philipperbriefes (Phil 2,6-11) und des Kolosserbriefes (Kol 1,15-20) sowie die Eröffnung des Johannesevangeliums (Joh 1,1-18) zu nennen.
Überblick
Verse 1-2a: Untypische Brieferöffnung
Kein Gruß, kein Wunsch, keine freundliche Anrede. Stattdessen setzt der Abschnitt mit höchst verdichteter Theologie ein: In wenigen Worten wird Gottes Wirken in der gesamten Geschichte bis zu der Nahtstelle zusammengefasst, die das Christentum mit der Geburt Jesu sowie seiner Kreuzigung und Auferweckung verbindet. Danach geht es nur noch um Jesus Christus, sein göttliches Wesen und das, was er bewirkt. Mit ihm ist für den Hebräer-"Brief" eine neue Zeit angebrochen. "Endzeit" nennt er sie: "Am Ende dieser Tage" (Vers 2). Mehr und Anderes als das, was sich in Jesus Christus ereignet hat, ist von Gott her in dieser zu Ende gehenden Zeit nicht zu erwarten. Der nächste Schritt wird bedeuten, dass von "diesen Tagen" der wirklich letzte kommt und damit die Zeit an sich aufhört. Dies verbindet die Heilige Schrift mit der Wiederkunft Christi, mit dem endgültigen Kommen des "Reiches Gottes", mit der "Vollendung" der Schöpfung durch Gott selbst
Vers 2 b-4: Ein Christuslied
Damit ist die Eröffnung des Schreibens beim eigentlichen Thema angelangt. Es geht um einen Hymnus auf Christus, den der unbekannte Verfasser seiner judenchristlichen Gemeinde in seiner ganzen Bedeutung vor Augen stellen will. Dabei steht er vor der Aufgabe, an aus dem Alten Testament bekannte Vorstellungen anknüpfen zu wollen und zugleich das Besondere an Jesus herauszustellen. Dazu wählt er ab Vers 4 die besonders seit dem 2. Jahrhundert v. Chr. sich ausbreitende Vorstellung von den Engeln als himmlischen Wesen, die in der Welt Gottes leben, ihm am nächsten, aber keine Götter sind, sondern Geschöpfe. Noch höhere Wesen konnte man also gar nicht denken. Genau darauf aber zielt die Lesung: Jesus ist größer und mehr als irgendein Engel. Dies wird durch nichts deutlicher als durch die Rede vom "Sohn Gottes" (Vers 5) - eine einzigartige Aussage - sowie dadurch, dass die Engel sich vor diesem Sohn Gottes "niederwerfen" (Vers 6) und ihn damit in seiner Göttlichkeit anerkennen.
Verse 5-6: Eine Zitatenkette
Die beiden letzten Gedanken werden durch eine Zitatenkette aus dem Alten Testament veranschaulicht. Unter der Voraussetzung, dass Jesus Christus in den christlichen Gemeinden als "Sohn Gottes" bekannt wird - bereits ein Bekenntnis des Paulus, des ältesten Schreibers im Neuen Testament (vgl. z. B. den Gruß in 1 Korinther 1,9)1, und ebenso des Markus, des ältesten Evangelisten (vgl. Markus 1,1)2 -, argumentiert der Hebräer-"Brief": Wenn Gott in Psalm 2,7 sagt. "Mein Sohn bist du, heute habe ich dich gezeugt", so sagt er dies nicht zu einem Engel, sondern zum messianischen, d. h. heilbringenden König, der Christus selber ist. Hebräer 1,5 deutet den Psalm also - in gut jüdischer Tradition - prophetisch. In der jüdischen Auslegung ist auch das messianische, auf einen künftigen Heilsbringer ausgerichtete Verständnis von 2 Samuel 7,14 vorgegeben. Im ursprünglichen Textzusammenhang lässt Gott dem König David durch dessen Freund und Propheten Natan ausrichten: "Ich werde für ihn Vater sein und er wird für mich Sohn sein." Gemeint ist damit zunächst einmal der Sohn und Nachfolger Davids, Salomo, der als erstes Glied einer "ewigen" Dynastie verstanden wird. Diese Natan-Weissagung wurde bereits in den letzten Jahrhunderten v. Chr. auf den erwarteten Messias bezogen. Hebräer 1,5 bezieht sie auf Christus. Auf einen "Engel" wurde sie nie bezogen.
Im Blick auf das Wiederkommen Christi als Gerichtsherr und Vollender der Welt schließt Vers 6 wieder ein Psalmenzitat an, und zwar in der Fassung der alten griechischen Übersetzung (sog. Septuaginta), auf die sich die frühen Christen zumeist bezogen. Während der hebräische Text (und entsprechend die Einheitsübersetzung) in Psalm 97,7 vom Niederfallen der "Götter" spricht, hat die griechische Übersetzung "korrigierend" eingegriffen und aus den "Göttern" "Engel" gemacht.3 Auch Deuteronomium (5. Buch Mose) 32,43 könnte als Zitathintergrund dienen: "... und alle Söhne Gottes sollen sich vor ihm niederwerfen", wobei hier jedoch Menschen und keine Engel gemeint sind. Dieser Versteil aus Deuteronomium ist in der hebräischen Bibel überhaupt nicht enthalten.
Schlussbemerkung
Übrigens hört der Prediger aus dem Hebräer-"Brief" mit dem Lesungsende keineswegs auf, alttestamentliche Zitate anzuführen. Die Verse 7-14 enthalten noch einmal 4 weitere Psalmenzitate. Damit bietet die Einleitung des Hebräerbriefs innerhalb des Neuen Testaments wohl die umfangreichste Zusammenstellung unterschiedlicher alttestamentlicher Worte "an einem Stück".