Kinder Gottes – aber nur inkognito? Das Geschenk der Liebe Gottes und die Antwort der Glaubenden
1. Verortung im Brief
Der 1. Johannesbrief (1 Joh) gehört zu einem Dreier-Verbund von Briefen (1-3 Joh), deren Verfasser unbekannt ist. Da die Briefe insgesamt eine inhaltliche Nähe zum Johannesevangelium zeigen (z.B. Motiv des Erkennens 1 Joh 3,1), sind Evangelium und Briefe in der kirchlichen Tradition mit einem gemeinsamen Verfasser verbunden worden. Dies lässt sich jedoch nicht belegen, der Verfasser des Evangeliums wie der Briefe bleibt am Ende anonym. Allerdings steht der Verfasser der Briefe der Gemeinde des Johannesevangeliums und/oder dessen Verfasser nahe. Die Briefe sind in jedem Fall nach dem Evangelium und damit gegen Ende des 1. Jahrhunderts oder zu Beginn des 2. Jahrhunderts verfasst. Da es inhaltlich auch Berührungspunkte mit den Paulusbriefen gibt, könnte Kleinasien (heutige Türkei) Ursprungsort der Briefe sein.
Inhaltlich reagiert der Verfasser mit dem 1 Joh auf Spaltungen und Konflikte in seiner Gemeinde. Unter anderem ist die Tatsache, dass Jesus als Gottes Sohn auch wahrer Mensch ist, ein theologischer Streitpunkt. Auch das Erleben, dass auch Christen schuldig werden und wie mit dieser Erfahrung umgegangen werden kann, ist Thema des Briefes. Die Liebe Gottes, die sich in der Menschwerdung des Sohnes und dessen Kreuzestod zeigt, als wesentliches Geschenk zu begreifen und dies im eigenen Handeln sichtbar zu machen, ist für den Verfasser daher besonders wichtig. Der ausgewählte Abschnitt stammt der Mitte des Briefes, die sich mit dem Handeln als Gottes Kinder befasst.
2. Erklärung einzelner Verse
Vers 1: Mit der direkten Aufforderung „hinzusehen“ werden die Adressaten auf das hingewiesen, was ihnen als Glaubende geschenkt ist: Die Liebe Gottes. Mit der Ansprache Gottes als „Vater“ bereits im ersten Satz, wird die Kernaussage der Gotteskindschaft vorbereitet. Indem sie als Zuspruch einerseits („wir heißen“) und als Zustand andererseits („wir sind es“) präsentiert wird, wird sie zur Identitätsaussage der angesprochenen Glaubenden. Dies wird umso wichtiger, als diese Identität der Welt verborgen ist. „Erkennen“ meint wie im Johannesevangelium (Joh 10,15) ein Verstehen, das aus einer gemeinsamen Basis heraus erwächst. Darum „kennen“ sich Vater und Sohn, die Welt aber „erkennt“ das wahre Licht, das fleischgewordene Wort, nicht (Johannesevangelium 1,10). Die Nähe der Glaubenden zur göttlichen Gemeinschaft wird in der Ablehnung durch die Welt ausgedrückt, die die Christen parallel zum Sohn erfahren. Wie der Sohn von der Welt nicht erkannt wird, werden die Adressaten nicht in ihrer wahren Identität gesehen. Ihre Zugehörigkeit zum Himmel bleibt der Welt ebenso verborgen, wie die Einheit zwischen Sohn und Vater – beides erschließt sich nur im Glauben. Die Gotteskindschaft ist das Geschenk der Liebe Gottes und exklusiv vom ihm verleihbar. Sie ist das Mittel, Welt und Himmel, Mensch und Gott zu verbinden. Dabei ist die Gotteskindschaft, die den Glaubenden verliehen wird, von der Gottessohnschaft Jesu qualitativ unterschieden. Die Gottessohnschaft ist eine exklusive innergöttliche Beziehung, in die die Glaubenden als Gotteskinder hineingenommen werden. Die Gottessohnschaft ist gleichsam die Basis für das Kindsein der Menschen.
Vers 2: Der Verfasser des Johannesbriefes geht aber noch einen Schritt weiter. Die Zusage, „Kinder Gottes“ zu sein, betrifft die Gegenwart. Für die Zukunft wird noch eine Vertiefung dieses Zustandes in Aussicht gestellt, die jedoch nur in Annäherung beschrieben wird. Die direkte Anschauung Gottes bei der Wiederkunft Christi und damit am Tag der Offenbarung wird die Gotteskindschaft verwandeln in eine Gottähnlichkeit hinein. Diese ist eine Steigerung und Vertiefung des gegenwärtigen Zustandes, nicht etwas ganz Neues. Begründet ist die neue Dimension in der veränderten Form der Begegnung mit Gott – in der direkten Anschauung Gottes.
Vers 3: Den Abschluss bildet nach der Zusage eine paränetische (ermahnende) Aussage: Wer auf diese Form der Gemeinschaft mit Gott seine Hoffnung setzt, der wird ihm ähnlich werden, indem er Anteil an Gottes Eigenschaft der Heiligkeit hat. „Sich zu heiligen“ bezeichnet aber klar ein Handeln des Menschen. Der Verfasser ruft dazu auf, aus der Gotteskindschaft und der Aussicht auf eine Gottähnlichkeit heraus zu leben und zu wirken.