Lesejahr C: 2024/2025

1. Lesung (Weish 9,13-19)

13 Denn welcher Mensch kann Gottes Plan erkennen oder wer begreift, was der Herr will?

14 Unsicher sind die Überlegungen der Sterblichen und einfältig unsere Gedanken;

15 denn ein vergänglicher Leib beschwert die Seele und das irdische Zelt belastet den um vieles besorgten Verstand.

16 Wir erraten kaum, was auf der Erde vorgeht, und finden nur mit Mühe, was auf der Hand liegt; wer ergründet, was im Himmel ist? 17 Wer hat je deinen Plan erkannt, wenn du ihm nicht Weisheit gegeben und deinen heiligen Geist aus der Höhe gesandt hast?

18 So wurden die Pfade der Erdenbewohner gerade gemacht und die Menschen lernten, was dir gefällt; 19 durch die Weisheit wurden sie gerettet.

Überblick

Gottes Wille ist offenbart. Aber das bedeutet nicht, das man ihn auch versteht. Das Buch der Weisheit empfiehlt Demut und Gebet als Wege zur Einsicht.

 

1. Verortung im Buch

Weisheit erlangt der Mensch nicht auf Grund seiner geistigen Fähigkeiten, sondern: Sie ist ein Geschenk Gottes. So lehrt es das Buch der Weisheit. Das einzige Mittel zur Erlangung der Weisheit sei das Gebet. Selbst der weise König Salomo musste beten, um sie zu erlangen (Weisheit 9,1-19). Selbst ein mächtiger König ist nur ein schwacher Mensch und wird ohne Gottes Hilfe keinen Erfolg im Leben haben (Verse 5-8). Salomo bittet um die Weisheit, diese Kennerin der Weltordnung, damit er seine Herrscherpflichten erfüllen kann (Verse 9-12). Im Endeffekt spricht er im Namen eines jeden Menschen („wir“) – alle sind auf die Weisheit angewiesen (Verse 13-19). Die Bedeutung der Weisheit nicht nur für ein geglücktes Leben, sondern für den Heilsplan Gottes verdeutlichen dann die dem Gebet Salomos folgenden Verse mit Verweisen auf die Urgeschichte, die Erzählungen der Erzeltern und den Exodus (Weisheit 10,1-11,4).

 

2. Aufbau

Wie kann der Mensch ohne Weisheit Gottes Plan und seinen Willen erkennen und verstehen? Diese grundlegende Frage wird in den Versen 13 und 16-17 entwickelt. Die Antwort ist eine zweifache. Negativ formuliert wird eingestanden, dass der Mensch dazu unfähig ist (Verse 14-15). In Vers 17 klingt dann bereits die positive Antwort an: Die Weisheit ist eine Gabe Gottes, sein heiliger Geist. Sie rettet den Menschen (Verse 18-19).

 

3. Erklärung einzelner Verse

Vers 13: Die einleitende rhetorische Frage verdeutlicht: Gott ist dem Menschen nicht nur überlegen, sondern er und sein Heilsplan sind ein unzugängliches Geheimnis. Hierbei geht es nicht nur um den Geschichtsplan Gottes, wie man den griechischen Begriff βουλὴν (gesprochen: boul-en) hier auch verstehen könnte. Sondern es geht, wie der Fortgang des Verses verdeutlicht, um den allgemeinen Willen Gottes. Wie es möglich ist, diesen zu erkennen, erklärt Vers 17.

Verse 14-15: Die Wortwahl in Vers 15 erinnert an die Philosophie Platons (siehe sein Werk „Phaidon“, darin 66B-67B). Im Buch der Weisheit ist jedoch der Leib nicht der Kerker der Seele, ja die Seele selbst kann „böse“ sein (siehe Weisheit 8,19). Hier geht es um die Leib- und damit Erdgebundenheit des Menschen, die seine Fähigkeiten einschränkt, sodass er Gottes Willen nicht erkennen und so sein Menschsein nicht verwirklichen kann – siehe dazu auch die Aussage in Weisheit 9,5-6: „Ich bin ja dein Knecht, der Sohn deiner Magd, ein schwacher Mensch, dessen Leben nur kurz ist und zu gering an Einsicht in Recht und Gesetz. Wäre einer auch vollkommen unter den Menschen, er wird kein Ansehen genießen, wenn ihm deine Weisheit fehlt.“

Vers 16: Die „Schwäche“ des Menschen wird noch gesteigert: Nicht einmal das sich vor den Augen Abspielende, sozusagen das auf der Hand Liegende, versteht der Mensch nicht vollends. So wird ein größtmöglicher Kontrast zum Verstehen Gottes im Himmel aufgebaut. Zuvor steht im Buch der Weisheit, dass auch das Verstehen der Welt erst durch die Weisheit ermöglicht wird: „Er [Gott, der Führer der Weisheit] verlieh mir untrügliche Kenntnis der Dinge, den Aufbau der Welt und das Wirken der Elemente zu verstehen, Anfang und Ende und Mitte der Zeiten, die Abfolge der Sonnenwenden und den Wandel der Jahreszeiten, den Kreislauf der Jahre und die Stellungen der Sterne, die Natur der Tiere und die Wildheit der Raubtiere, die Gewalt der Geister und die Gedanken der Menschen, die Verschiedenheit der Pflanzen und die Kräfte der Wurzeln.“ (Weisheit 7,17-20).

Vers 17: Die Weisheit ist die Wegführerin des Menschen. Sie erlangt man nur durch Gott. Ja, dadurch dass die Weisheit mit Gottes heiligem Geist identifiziert wird, ist die Weisheit selbst die Beziehung zu Gott. In Weisheit 7,16 wird Gott auch als „Führer der Weisheit“ betitelt.

Verse 18-19: Welch umfassende Bedeutung die Weisheit hat, wird am Ende deutlich: Die Sendung der Weisheit bedeutet Umkehr, Sündenvergebung, Erkennen des Willen Gottes und Erlösung. Vers 18 ist das abschließende Fazit des gesamten Kapitels und zugleich die Überleitung zu den im nächsten Kapitel folgenden Beispielen aus der Heilsgeschichte, die belegen, dass die Weisheit rettet; vgl. zum Beispiel Weisheit 10,4: „Die Weisheit hat die Erde, die seinetwegen überflutet wurde, wieder gerettet und den Gerechten auf wertlosem Holz durch die Wasser gesteuert.“

Auslegung

Ist der Wille Gottes gemäß der Glaubenswelt des Alten Testament in der Tora offenbart? Sie ist doch als Gottes Wort „ganz nah bei dir, es ist in deinem Mund und in deinem Herzen, du kannst es halten“ (Deuteronomium 30,14). Doch der weise Salomo bekennt in seinem Gebet, dass selbst er „zu gering an Einsicht in Recht und Gesetz“ sei (Weisheit 9,5). Auch wenn der Wille Gottes den Menschen offenbart ist, so lehrt es das Buch der Weisheit, so bedarf des doch noch eines zweiten göttlichen Geschenks: die Weisheit. Sie, die mit dem heiligen Geist identifiziert wird, ist nichts anderes als der Griff Gottes nach der Hand des Menschen, um ihn zu führen. Das Gebet um Weisheit ist ein Gebet um Beziehung zu Gott als dem Führer der Weisheit. So geht Gottes Heilshandeln nicht nur der Forderung seinem Willen zu entsprechen voraus, sondern er ist es auch, der es ermöglicht, den Heilsplan und die Welt, in der er sich ereignet, zu verstehen. Als Voraussetzung dafür lehrt das Buch der Weisheit Demut und das Gebet.

Kunst etc.

Die Worte des Gebets Salomos in Weisheit 9,1-19 sind eine literarische Aufnahme der Erzählung über Salomos Traum in 1 Könige 3,5-14:

5 In Gibeon erschien der HERR dem Salomo nachts im Traum und forderte ihn auf: Sprich eine Bitte aus, die ich dir gewähren soll! 6 Salomo antwortete: Du hast deinem Knecht David, meinem Vater, große Huld erwiesen; denn er lebte vor dir in Treue, in Gerechtigkeit und mit aufrichtigem Herzen. Du hast ihm diese große Huld bewahrt und ihm einen Sohn geschenkt, der heute auf seinem Thron sitzt. 7 So hast du jetzt, HERR, mein Gott, deinen Knecht anstelle meines Vaters David zum König gemacht. Doch ich bin noch sehr jung und weiß nicht aus noch ein. 8 Dein Knecht steht aber mitten in deinem Volk, das du erwählt hast: einem großen Volk, das man wegen seiner Menge nicht zählen und nicht schätzen kann. 9 Verleih daher deinem Knecht ein hörendes Herz, damit er dein Volk zu regieren und das Gute vom Bösen zu unterscheiden versteht! Wer könnte sonst dieses mächtige Volk regieren? 10 Es gefiel dem Herrn, dass Salomo diese Bitte aussprach. 11 Daher antwortete ihm Gott: Weil du gerade diese Bitte ausgesprochen hast und nicht um langes Leben, Reichtum oder um den Tod deiner Feinde, sondern um Einsicht gebeten hast, um auf das Recht zu hören, 12 werde ich deine Bitte erfüllen. Sieh, ich gebe dir ein so weises und verständiges Herz, dass keiner vor dir war und keiner nach dir kommen wird, der dir gleicht. 13 Aber auch das, was du nicht erbeten hast, will ich dir geben: Reichtum und Ehre, sodass zu deinen Lebzeiten keiner unter den Königen dir gleicht. 14 Wenn du auf meinen Wegen gehst, meine Gesetze und Gebote bewahrst wie dein Vater David, dann schenke ich dir ein langes Leben.“ (1 Könige 3,5-14)

Diese Erzählung wurde häufig in der Kunst dargestellt. In dem Gemälde des italienischen Künstlers Luca Giordano (1634–1705) zeigt sich worauf der Autor des Buchs der Weisheit sich im Besonderen konzentriert hat. Salomo wird schlafend, und somit untätig, aber auch schwach/verletzlich dargestellt. Die Erleuchtung geschieht allein durch Gott, der mächtig über dem Geschehen schwebt. Die Weisheit ist ein Geschenk Gottes, das der Mensch nur demütig empfangen kann.

Luca Giordano, „Saliamono sapnas” (ca. 1694-1695), Museo del Prado in Madrid (P003179) – Lizenz: gemeinfrei.
Luca Giordano, „Saliamono sapnas” (ca. 1694-1695), Museo del Prado in Madrid (P003179) – Lizenz: gemeinfrei.