Die göttliche Weisheit kommt den Menschen entgegen.
1. Verortung im Buch und in der Geschichte
„Liebt Gerechtigkeit, ihr Richter der Erde, denkt gut über den Herrn, sucht ihn mit ganzem Herzen! Denn er lässt sich finden von denen, die ihn nicht versuchen, und zeigt sich denen, die ihm nicht misstrauen.“ – direkt am Anfang des Buchs der Weisheit wird der Leser und die Leserin aufgefordert die Gerechtigkeit zu lieben und Gott zu suchen, denn er lässt sich finden. Die Könige sollen auch die Weisheit „lieben“ und „suchen“ (Weisheit 6,12), so ergibt sich eine Trias aus Gerechtigkeit, Weisheit und Gott, an der sich die Mächtigen ausrichten sollen. Und das dies keine Überforderung darstellt, verdeutlicht das Bild der Weisheit als begehrenswerte Frau, die ihren Verehrern entgegeneilt.
Kurz bevor dieses Bild entfaltet wird, redet die Weisheit die Mächtigen der Welt noch direkt an (siehe V. 1) – fordet sie auf: „Verlangt also nach meinen Worten, sehnt euch danach und ihr werdet Bildung erwerben!“. Das dies kein mühsamer Weg ist, wird auch in Weisheit 6,17-21 betont: „Sie geht selbst umher, um die zu suchen, die ihrer würdig sind; freundlich erscheint sie ihnen auf allen Wegen und kommt ihnen entgegen bei jedem Gedanken. Ihr wahrhafter Anfang ist Verlangen nach Bildung; Bemühen um Bildung aber ist Liebe. Liebe aber ist Halten ihrer Gesetze, Beachten der Gesetze sichert Unvergänglichkeit, Unvergänglichkeit aber bringt in Gottes Nähe. So führt das Verlangen nach Weisheit zur Herrschaft hinauf. Ihr Gewalthaber der Völker, wenn ihr Gefallen an Thronen und Zeptern habt, dann ehrt die Weisheit, damit ihr ewig herrscht!“ Auch hier wird deutlich, wie eng Weisheit mit der sich in den Gesetzen Gottes ausdrückenden Gerechtigkeit und seinem Willen, ja ihm selbst, zusammenhängt. Das Bild der Liebe zweier Menschen für die Beziehung zwischen der Weisheit und derjenigen, die sie suchen, wird dann in Weisheit 7-8 noch weiter ausgeführt.
2. Aufbau
Die Weisheit ist nicht nur begehrenswert (Vers 12), sondern ist stets bereit sich den Suchenden zu nähern, zu schenken (Vers 16). Diese Aussage ist der Rahmen, um die Zusage, das jedes anfängliche Bemühen um sie bereits belohnt wird (Verse 13-15), denn bereits jedes Nachsinnen über die ist „vollkommene Klugheit“.
3. Erklärung einzelner Verse
Vers 12: Die Weisheit wird als eine attraktive, nicht alternde und begehrenswerte heiratsfähige, junge Frau dargestellt - ein aus feministischer Sicht sicherlich schwieriges Bild, dass der damaligen patriarchalischen Weltsicht entspricht. Die Aussage ist, dass die Weisheit auf den ersten Blick begehrenswert und zugänglich ist.
Verse 13-14: Die Zugänglichkeit der Weisheit steht im starken Kontrast zur mühevollen Lebenserfahrung des Menschen: „Es ist umsonst, dass ihr früh aufsteht und euch spät erst niedersetzt, um das Brot der Mühsal zu essen; was recht ist, gibt der HERR denen, die er liebt, im Schlaf.“ (Psalm 127,2).
Vers 15: Klugheit ist hier sowohl als eine theoretische als auch praktische Tugend zu verstehen: „Wenn jemand Gerechtigkeit liebt, in ihren Mühen findet er die Tugenden. Denn sie lehrt Maß und Klugheit, Gerechtigkeit und Tapferkeit. Nützlicheres als diese gibt es nicht im Leben der Menschen.“ (Weisheit 8,7).
Vers 16: Unwürdig sind die Gottlosen: „Die Gottlosen aber rufen den Tod mit Taten und Worten herbei und sehnen sich nach ihm wie nach einem Freund; sie schließen einen Bund mit ihm, weil sie es verdienen, ihm zu gehören.“ (Weisheit 1,16). Würdig-Sein bedeutet die Nähe und Zugehörigkeit zu Gott. In diesem Kontext entfaltet das Bild vom „Pfad“ zwei Dimensionen. Es verweist auf die Öffentlichkeit der Weisheit – sie ist überall zu finden (siehe Sprichwörter 8,2). Zugleich verweist das Bild auf die „Lebenswege“ (siehe Weisheit 2,15).