Der Spannungsbogen reicht von Abraham bis zur Befreiung aus Ägypten. In drei kurzen Versen lehrt der Verfasser des Buches der Weisheit, dass Gott seinem Volk beisteht und es sich auf ihn verlassen kann – und zwar immer.
1. Verortung im Buch
„In allem hast du, Herr, dein Volk groß gemacht und verherrlicht; du hast es nicht unbeachtet gelassen, sondern bist ihm beigestanden zu jeder Zeit und an jedem Ort,“ verkündet in seinem letzten Vers das erst im letzten Jahrhundert vor Christi Geburt auf Griechisch verfasste Buch der Weisheit. Mit dieser Aussage kommt eine Betrachtung der gesamten Heilsgeschichte Israel von Adam bis Mose zu einem „Ergebnis“ (Weisheit 10-19). Dazu gehört auch ein Blick auf die Nacht, in der Gott alle Erstgeburt der Ägypter tötete und so sein Volk Israel aus dem Sklavenhaus befreite (Weisheit 18,6-9). In dieser Nacht bewahrheitete sich nach dem Glauben des Verfassers des Buches der Weisheit ein Grundsatz: „Man wird durch das bestraft, wodurch man sündigt.“ (Weisheit 11,16)
2. Aufbau
„Sie [= die Ägypter] hatten beschlossen, die Kinder der Heiligen zu töten: Da hast du für das eine ausgesetzte und gerettete Kind zur Strafe eine Menge ihrer eigenen Kinder weggenommen und sie alle auf einmal in gewaltiger Wasserflut vernichtet“ – dies ist die Überschrift die nicht nur den zur Lesung gehörenden Abschnitt Weisheit 18,6-9 einleitet, sondern auch die darauffolgende Blickes auf das Schilfmeerwunder (Verse 10-13). Der erste Teil der Überschrift verweist auf die Pessach-Nacht (siehe Exodus 12,1-13,16); hier wird die blutige Tat Gottes gerechtfertigt mit dem vorherigen Kindsmord durch die Ägypter, dem nur Mose als Baby entkommen war. In den für die Lesung ausgewählten Versen stehen weniger die Geschehnisse der Pessach-Nacht in Ägypten, sondern die ausgedeutete Erinnerung an die „Väter“, wie unter anderem die Rahmung durch diesen Begriff in den Versen 6 und 9 anzeigt. Die am Ende des Textes genannten „Loblieder der Väter“ stehen dann in einem starken Kontrast mit dem im nächsten Vers erinnerten Wehgeschrei: „ Da hallte ihnen [= den Israeliten] das misstönende Geschrei der Feinde entgegen und die Wehklage um die betrauerten Kinder breitete sich aus“ (Weisheit 18,10).
3. Erklärung einzelner Verse
Verse 6-7: Die Worte „Jene Nacht“ ist eine direkte Anspielung im griechischen Text auf die Beschreibung der Bedeutung der Pessach-Nacht für die kommenden Generationen in Ex 12,42 gemäß der griechischen Übersetzung (genannt Spetuaginta): „Eine Nachtwache ist sie für den HERRN, damit er sie hinausführe aus dem Land Ägypten; jene Nacht, sie ist eine Wache für den HERRN, damit alle Israeliten sie halten in ihren Generationen.“ Der Verfasser des Buches der Weisheit erklärt, dass diese Nacht, in der Gottl die Erstgeburten Ägypten tötete, den „Vätern“ bereits vorausgesagt war. Mit den Vätern ist nicht die Exodusgeneration gemeint, sondern die Erzeltern. Die angesprochenen Eide verweisen auf die Abraham, Isaak und Jakob gegebenen Landverheißungen. Zudem verweist das Verb „glauben“ direkt zurück auf Genesis 15,6: „Und er [Abraham] glaubte dem HERRN und das rechnete er ihm als Gerechtigkeit an.“ Ihm verkündete Gott: „Du sollst wissen: Deine Nachkommen werden als Fremde in einem Land wohnen, das ihnen nicht gehört. Sie werden dort als Sklaven dienen und man wird sie vierhundert Jahre lang unterdrücken. Aber auch über das Volk, dem sie als Sklaven dienen, werde ich Gericht halten und nachher werden sie mit reicher Habe ausziehen“ (Genesis 15,13-14).
Vers 8: Die Zwiespältigkeit des Geschehens ist auch dem Verfasser des Buches der Weisheit deutlich: Die Tötung der Ägypter bedeutet Leben in Freiheit für die Israeliten. Für ihn ist dies jedoch Teil der Erwählung Israels, die so geschehen musste. Mit der Aussage, dass Gott die Israeliten „gerufen“ hat nimmt er eine Aussage im Buch Exodus aus dem Munde Moses auf. Dort sagt dieser zum Pharao: „Der HERR, der Gott der Hebräer, ist uns begegnet.“ (Exodus 3,18). Die in diesem Vers verwendete hebräische Verbform נִקְרָה (gesprochen: nikra) kann sowohl als Begegnung mit Gott gedeutet werden oder als Gerufen-Sein durch Gott.
Vers 9: Die rabbinische Tradition erzählt, dass die Israeliten die Pessach-Lämmer in aller Öffentlichkeit vor den Augen der Ägypter schlachteten. Der Verfasser des Buches der Weisheit hingegen sieht in dieser ersten kultischen Handlung Israels einen intimen Akt, der verborgen bleibt. Damit geht die Verpflichtung auf das Gesetz Gottes einher. Im Kontext des Pessach-Mahls kann dies entweder die Beschneidung bedeuten, denn nur diejenigen, die in den Bund mit Gott durch die Beschneidung Eingetretenen durften an dieser Feier teilnehmen (siehe Exodus 12,43-49). Oder es bezieht sich auf die Verpflichtung der Israeliten alle männliche Erstgeburt, sowohl von den Menschen als auch von dem Vieh bei Gott auszulösen (siehe Exodus 13,11-16). Neben diesen spezifischen Anweisungen zielt die Formulierung „Gesetz der Gottheit“ jedoch explizit auch auf das gesamte Gesetz, das Israel später am Berg Sinai erhielt. Im kultischen Akt etablierte sich so die solidarische Gemeinschaft Israel im Angesicht ihres Gottes. Und dies führte zu dem seitdem ständig erklingenden Lobpreis Gottes durch die Israeliten. In Exodus 12,1-13,6 gehört der Gesang noch nicht zur Pessachfeier, aber in 2 Chronik 30,21 heißt es später dann für dieses Fest während der Zeit des Königs Hiskija: „Tag für Tag priesen die Leviten und Priester den HERRN mit lauten Instrumenten.“