Die Weisheit lädt zu einem sättigenden, spirituellen Festmahl ein.
1. Verortung
Im Buch der Weisheit trifft man zwei Frauen: die personifizierte Weisheit und die personifizierte Torheit. Letztere wird als „fremde Frau“, als Ehebrecherin und Verführerin, die den Unerfahrenen in den Bann schlägt und in den Abgrund führt, dargestellt (Sprichwörter 1,16-22; 6,24-29; 7,5-23). Ihr gegenüber steht Frau Weisheit, die den Menschen zur Furcht des HERRN als Anfang der Erkenntnis führt (Sprichwörter 1,7; vgl. z.B. 1,20-33; 8,1-36). Sprichwörter 8 lehrt, dass Frau Weisheit eine himmlische Gestalt ist, während in Sprichwörter 7 die Torheit als ein Straßenmädchen, das aus der Dunkelheit auftaucht, dargestellt ist. Diese Gegenüberstellung spitzt sich in Sprichwörter 9 zu: Die Weisheit und die Torheit werden als edle Gönnerin (Verse 1-6) und prätentiöse Hausherrin (Verse 13-18) gegenübergestellt. Beide laden die „Unwissenden“ (siehe Kommentierung zu Vers 4) zu einem Festmahl in ihr Haus ein. Frau Weisheit wirbt aus wahrer Liebe um ihre Herzen, Frau Torheit verführt sie in den Tod. Die Weisheit lädt sie ein, ihre alte Identität hinter sich zu lassen und bei ihrem üppigen Festmahl weise zu werden; die Torheit lockt diejenigen, die den rechten Weg eingeschlagen haben, dazu, sich ohne Rücksicht auf die Konsequenzen abzuwenden und bei ihrem Mahl den falschen Weg einzuschlagen. Diejenigen, die die Einladung der Weisheit annehmen, werden leben: „Lasst ab von der Torheit, dann bleibt ihr am Leben / und geht auf dem Weg der Einsicht!“ (Vers 6). Diejenigen, die sich der Torheit zuwenden, werden hingegen sterben: „Frau Torheit ist unruhig, / eine Verführerin, das ist alles, was sie versteht. Sie sitzt vor der Tür ihres Hauses / auf einem Sessel bei der Stadtburg, 15 um die Vorübergehenden einzuladen, / die geradeaus ihre Pfade gehen: Wer unerfahren ist, kehre hier ein. / Zum Unwissenden sagt sie: Süß ist gestohlenes Wasser, / heimlich entwendetes Brot schmeckt lecker. Und er weiß nicht, dass Totengeister dort hausen, / dass ihre Gäste in den Tiefen der Unterwelt sind“ (Verse 13-18).
2. Aufbau
Der Text beginnt mit der Erzählung, dass die Weisheit ein Haus gebaut hat (Vers 1). Nach der Errichtung lädt sie in dieses Haus zu einem, von ihr vorbereiteten (Verse 2-3) feierlichen Festmahl, ein (Verse 4-5). Diese Einladung mündet in einen allgemeinen Ermahnungsruf (Vers 6).
3. Erklärung einzelner Verse
Vers 1: Hinter dem Wort „Weisheit“, wie es in revidierten Einheitsübersetzung steht, verbirgt sich im Hebräischen eine Pluralform, also eigentlich „Weisheiten“. Damit ist ein Hoheitstitel angezeigt: die hohe Weisheit und somit die einzig wahre Weisheit. Sie hat ein Haus gebaut. Bereits in Sprichwörter 8,34 gelangt der Leser in die Nähe des Hauses: „Selig der Mensch, der auf mich hört, / der Tag für Tag an meinen Toren wacht / und meine Türpfosten hütet.“ Nun wird darauf verwiesen, dass die Frau Weisheit für das Haus „sieben Säulen behauen“ hat. Durch die Jahrhunderte wunderten und wundern sich weiterhin die Ausleger, wie dies zu verstehen sei. Säulen verweisen im damaligen historischen Kontext, auf Reichtum, vgl. im Alten Testament zum Beispiel das Libanonwaldhaus, diesen königlichen Repräsentationsbau Salomos samt Säulen, bzw. Thronhalle in 1 Kön 7,1-12. Die Zahl 7 symbolisiert im Alten Testament Vollkommenheit, so wird zum Beispiel im Talmud dieser Vers auf die sieben Schöpfungstage bezogen (Sanhedrin 38a; vgl. Spr 8,22-23: „Der HERR hat mich [die Weisheit] geschaffen als Anfang seines Weges, / vor seinen Werken in der Urzeit; in frühester Zeit wurde ich gebildet, / am Anfang, beim Ursprung der Erde“). In akkadischen und babylonischen Mythen begegnet man zudem sieben urzeitlichen Verkörperungen der Weisheit. Neben der historischen und metaphorischen Deutung lässt sich die Zahl 7 auch noch im Kontext des Buches deuten. Das Buch der Sprichwörter wird durch sieben Überschriften in Sammlungen eingeteilt – somit stünden die sieben Säulen für das Buch der Sprichwörter durch das man in das Haus der Weisheit eintritt.
Vers 2: Auch das geschlachtete Vieh und der Wein verweisen auf den Reichtum, den die Weisheit im Folgenden ihren Gästen anbieten wird. Besonders der Verweis auf den gedeckten Tisch sticht in diesem Zusammenhang voraus. Tische waren in der damaligen Zeit kein Allerweltsgegenstand – und die spirituelle Bedeutung dieses Bildes zeigt sich vielleicht passend darin, dass der Rabbiner Josef Karo im 15. Jahrhundert seiner bedeutenden Zusammenfassung der religiösen Vorschriften den Namen Schulchan Aruch, was „gedeckter Tisch“ bedeutet, gegeben hat.
Vers 3: Die Frau Weisheit sendet ihre Mägde aus, um in aller Öffentlichkeit zu ihrem feierlichen Festmahl einzuladen. Der Rabbiner Malbim (Meir Löw) aus dem 19. Jahrhundert, weist vielleicht passend darauf hin, dass man die Weisheit nicht einfach erhält, sondern durch Weise, Propheten und Lehrer zu ihr und ihrem Festmahl eingeladen wird.
Vers 4: Schon zu Beginn des Buches der Sprichwörter erklingt die Einladung der Frau Weisheit: „22 Wie lang noch, ihr Törichten, liebt ihr Betörung, / gefällt den Zuchtlosen ihr dreistes Gerede, / hassen die Toren Erkenntnis? 23 Wendet euch meiner Mahnung zu!“ – und sie wirbt weiter um, wie es hier nun heißt, die Person die „unerfahren ist“. Im Vers werden die Unerfahrenen mit den Unwissenden gleichgesetzt – im Endeffekt ist damit jeder gemeint, der noch keine Einsicht in die Weisheit gewonnen hat. Diejenigen, die noch nicht von der Weisheit belehrt worden, sind die Unerfahrenen und Unwissenden.
Verse 5-6: Die Aufforderung zum Essen und zum Trinken dient nicht leiblichen Sättigung, sondern ist ein Bild das Einlassen auf die Lehre der Weisheit. So wie weltliche Nahrung sättigt und erfreut, sättigt und erfreut auch die im Buch der Sprichwörter gegebene Lehre den Menschen und führt zudem noch ins ewige Leben. Die Einladung zum Festmahl ist im Endeffekt die Aufforderung zur Entscheidung zwischen geschenktem Leben und selbstverursachtem Tod.