Lesejahr C: 2024/2025

1. Lesung (Spr 8,22-31)

22 Der HERR hat mich geschaffen als Anfang seines Weges, vor seinen Werken in der Urzeit; 23 in frühester Zeit wurde ich gebildet, am Anfang, beim Ursprung der Erde.

24 Als die Urmeere noch nicht waren, wurde ich geboren, als es die Quellen noch nicht gab, die wasserreichen. 25Ehe die Berge eingesenkt wurden, vor den Hügeln wurde ich geboren. 26 Noch hatte er die Erde nicht gemacht und die Fluren und alle Schollen des Festlands.

27 Als er den Himmel baute, war ich dabei, als er den Erdkreis abmaß über den Wassern, 28 als er droben die Wolken befestigte und Quellen strömen ließ aus dem Urmeer, 29 als er dem Meer sein Gesetz gab und die Wasser nicht seinen Befehl übertreten durften, als er die Fundamente der Erde abmaß, 30 da war ich als geliebtes Kind bei ihm. Ich war seine Freude Tag für Tag und spielte vor ihm allezeit. 31 Ich spielte auf seinem Erdenrund und meine Freude war es, bei den Menschen zu sein.

Überblick

Vor der Schöpfung der Welt entstand die Weisheit, der die Menschen nachjagen sollen. In ihr entdeckt der Mensch die Ordnung der Welt. Ist sie ein Gott? Ist sie Jesus Christus? Oder ist sie ein spielendes Kind im Angesicht Gottes?

 

1. Verortung im Buch

Die Weisheit selbst ergreift das Wort – das zweite Mal nach Sprichwörter 1,20-33. Wieder tritt sie als eine gelehrte Wanderprophetin auf, die von sich beanspruchen kann, dass sie der Anfang der Schöpfung war und ist. Nachdem der Weisheitslehrer sie in den höchsten Tönen angepriesen hat: „Denn sie zu erwerben ist besser als Silber, sie zu gewinnen ist besser als Gold. Sie übertrifft die Perlen an Wert, keine deiner Kostbarkeiten kommt ihr gleich.“ (Sprichwörter 3,14-15) – bestätigt die Weisheit seine Worte: „Reichtum und Ehre sind bei mir, angesehener Besitz und Gerechtigkeit; meine Frucht ist besser als Gold und Feingold, mein Nutzen übertrifft wertvolles Silber. Ich gehe auf dem Weg der Gerechtigkeit, mitten auf den Pfaden des Rechts, um denen, die mich lieben, Gaben zu verleihen und ihre Schatzkammern zu füllen.“ (Sprichwörter 8,18-21). Sie gibt die Fähigkeit, die für eine glückhafte Lebensgestaltung notwendig ist – und mit ihr findet man nicht nur das glückliche Leben, sondern auch Wohlgefallen bei Gott (siehe Sprichwörter 8,35). Denn in ihr findet man das ganze Geheimnis der Schöpfung, wie Sprichwörter 8,22-32 erklärt.

 

2. Aufbau

Sprichwörter 8,22-31 ist nur ein Teil einer längeren Rede der Weisheit in diesem Kapitel. Nach einer Einladung zur Weisheit folgt ihre Rede, die einer begründeten Selbstempfehlung gleicht. Sie verweist auf ihre segenreiche Wirksamkeit für diejenigen, die sie suchen (Verse 12-21). Sie offenbart, woher sie stammt (Verse 22-31). Und sie mahnt und motiviert: Sie zu suchen oder sie zu verfehlen, bedeutet Leben oder Tod (Verse 32-36). In den für die Lesung ausgewählten Worten der Weisheit blickt sie auf ihre Entstehung, bevor die Welt geschaffen wurde (Verse 22-26), und ihr Dasein während der Schöpfung (Verse 27-31).

 

3. Erklärung einzelner Verse

Verse 22-23: In ihren eigenen Worten verweist die Weisheit zurück auf Gott als ihrem Anfang. Der hebräische Text lässt jedoch am Anfang direkt offen, ob die Weisheit von Gott geschaffen wurde; oder ob er sie, wie es im Buch Ijob steht, erworben hat: „damals hat er [= Gott] sie [= die Weisheit] gesehen und gezählt, sie festgestellt und erforscht.“ (Ijob 28.27). Das in Vers 22 von der Weisheit verwende hebräische Wort קָנָה (gesprochen: kana) hat die Grundbedeutung „erwerben / besitzen“. An einigen Stellen – wie hier – bedeutet es jedoch auch „zeugen / gebären / erschaffen“. Hier verweist die parallel stehende Aussage, dass Gott die Weisheit „gebildet“ hat, auf diese, zweite Bedeutung. Dies zeigt sich auch in Vers 24: Gott hat die Weiheit „geboren“, im metaphorischen Sinne von: „hervorgebracht“. Der Weisheit kommt eine Zwischenstellung zwischen Gott und der Schöpfung der Welt zu, die sich hier in der Formulierung „als Anfang seines Weges“ ausdrückt. Ihre Existenz markiert den Beginn der Schöpfung der Welt durch Gott – so können die folgenden Worte als Auslegung des allerersten Wortes der Bibel „Am Anfang“ oder „Im Anfang“ gelesen werden.

Verse 24-26: Vor der Schöpfung der Welt war die Weisheit das passive Objekt Gottes, das er geschaffen hat. Mehrfach betont die Weisheit, dass sie existierte bevor irgendetwas anderes außer Gott existierte. Bevor, wie in Genesis 1 erzählt wird, am Anfang der Schöpfung das Wässrige von dem Festen getrennt wurde, war die Weisheit bereits bei Gott. In diesen Worten verdeutlicht sich die Bedeutung der Weisheit, denn sie ist nicht wie ein Mensch. Ijob wird vorgeworfen: „Bist du als erster Mensch geboren, kamst du zur Welt noch vor den Hügeln?“ (Ijob 15,7). Die Weisheit hingegen weiß, wie die Welt erschaffen wurde und kennt die ihr zugrundeliegende Ordnung.

Verse 27-29: Die Weisheit erzählt von der Schöpfung sowohl als einem handwerklichen Tun Gottes als auch von einem Schaffen allein durch Gottes Wort. Die entstehende Ordnung, die den Naturmächten Grenzen gibt, wird hierbei mit einem Wort beschrieben, das auch für die Israel von Gott gegebenen Gesetze verwendet wird (חֹק, gesprochen: chok).

Verse 30-31: In der Schöpfung selbst hatte die Weisheit keine aktive Rolle. Gott allein ist der Handelnde. Dennoch heißt es in der antiken griechischen Übersetzung des Textes: „da war ich bei ihm als Ordnende“. War die Weisheit sozusagen die Architektin der Schöpfung? Das dieser Übersetzung zugrundliegende hebräische Wort (‎אָ֫מ֥וֹן, gesprochen: amon) ist äußerst umstritten. Die in der revidierten Einheitsübersetzung favorisierte Ableitung des Wortes passt hingegen besser zum Kontext der von Gott erschaffenen und spielenden Weisheit: „geliebtes Kind“ oder „Pflegekind“.  Eine dritte Auslegungsmöglichkeit ist die Wiedergabe des Wortes durch „beständig“ oder „treu“: „Und ich [= die Weisheit] war beständig bei ihm [=Gott].“ Dieses Verständnis passt zu der Aussage, dass die Weisheit „Tag für Tag“ und „allezeit“ bei Gott war. [zur Erklärung von Vers 31 und dem Verhältnis von Gott und Weisheit siehe „Auslegung“.]

Auslegung

Die Worte der Weisheit in Sprichwörter 8,22-31 waren bei den Kirchenvätern ein hochumstrittener Text, an dem sie diskutierten, wie Jesus Christus zu verstehen sei. Seit Justin dem Märtyrer, der 165 n. Chr. starb, wurde die hier sprechende Weisheit mit Jesus Christus identifiziert. Und an diesem Text entbrannte die Frage, ob Jesus Christus, wie es in Vers 22 heißt, von Gott dem Vater „geschaffen“ wurde und somit ein Geschöpf sei, oder mit Vers 25 gesprochen aus Gott geboren wurde und daher eins mit dem Vater sei. In dem Text selbst geht es um eine ganz andere Frage: Wie verhält sich die von den Menschen angestrebte Weisheit zu Gott?

Wie die vorhergehenden Verse betonen, ist sie die Quelle für ein glückhaftes Leben. In ihren Worten ordnet sich die Weisheit völlig Gott unter. Bereits das erste Wort in Vers 22 ist „JHWH“, der Gottesname – und sie ist nur das Objekt seines Handelns. Die Einzigkeit Gottes wird absolut betont und zugleich wird dadurch die Besonderheit der Weisheit hervorgehoben. Bevor die Welt geschaffen wurde, war sie bereits bei Gott. Sie war zugegen, als er die Welt erschuf und kennt somit ihre innere Ordnung. Sie konnte wie Gott von außen auf die Schöpfung in ihrer Entstehung sehen und kann in diesem Wissen die sie Suchenden zu Gott und zu einem gelingenden Leben führen. Weder die Welt noch die in ihr geltende Ordnung stammt von der Weisheit, sondern sie stammt von Gott.

Aber sie hat durch ihre Existenz vor der Schöpfung der Welt sozusagen eine Brückenfunktion, die sich auch in der Form der Verse 22-31 anzeigt. Während das erste Wort der Gottesname ist, benennt das letzte Wort die Menschen, „die Söhne Adams“. Die Weisheit bezeichnet sich als die Freude Gottes, die in der Schöpfung zugegen war und diese Freude richtet sich auf den Menschen. Wie David vor der Lade Gottes, tanzt, spielt und jubelt die Weisheit seit dem Anfang der Schöpfung durch die Geschichte und will den Menschen anstecken mit ihrem „Spiel“; sie will den Menschen dazu führen, das „Gefallen des HERRN“ zu erlangen (siehe Sprichwörter 8,35).

Kunst etc.

Es ist eines der bekanntesten Bilder der Kunstgeschichte: Die Erschaffung Adams von Michelangelo. Der Finger des Schöpfers, kraftvoll ausgestreckt, um den Lebensfunken überspringen zu lassen, und der Finger Adams, die kurz vor der Berührung aufeinander verweisen. Nicht im Zentrum des Bildes und beinahe versteckt unter dem Arm des Schöpfers schaut eine weibliche Gestalt auf das Geschehen. Sie wird von den meisten Kunsthistorikern als die noch zu erschaffende Eva interpretiert. Doch ihr neugieriger, kindlicher Blick könnte ebenso darauf hindeuten, dass Michelangelo hier die Weisheit darstellt, die eng an Gottes Seite die Schöpfung beobachtet.

Ausschnitt aus dem Fresko „Die Erschaffung Adams“ von Michelangelo, entstanden zwischen 1508 und 1512 in der Sixtinischen Kapelle – Lizenz: gemeinfrei.
Ausschnitt aus dem Fresko „Die Erschaffung Adams“ von Michelangelo, entstanden zwischen 1508 und 1512 in der Sixtinischen Kapelle – Lizenz: gemeinfrei.