Vor der Schöpfung der Welt entstand die Weisheit, der die Menschen nachjagen sollen. In ihr entdeckt der Mensch die Ordnung der Welt. Ist sie ein Gott? Ist sie Jesus Christus? Oder ist sie ein spielendes Kind im Angesicht Gottes?
1. Verortung im Buch
Die Weisheit selbst ergreift das Wort – das zweite Mal nach Sprichwörter 1,20-33. Wieder tritt sie als eine gelehrte Wanderprophetin auf, die von sich beanspruchen kann, dass sie der Anfang der Schöpfung war und ist. Nachdem der Weisheitslehrer sie in den höchsten Tönen angepriesen hat: „Denn sie zu erwerben ist besser als Silber, sie zu gewinnen ist besser als Gold. Sie übertrifft die Perlen an Wert, keine deiner Kostbarkeiten kommt ihr gleich.“ (Sprichwörter 3,14-15) – bestätigt die Weisheit seine Worte: „Reichtum und Ehre sind bei mir, angesehener Besitz und Gerechtigkeit; meine Frucht ist besser als Gold und Feingold, mein Nutzen übertrifft wertvolles Silber. Ich gehe auf dem Weg der Gerechtigkeit, mitten auf den Pfaden des Rechts, um denen, die mich lieben, Gaben zu verleihen und ihre Schatzkammern zu füllen.“ (Sprichwörter 8,18-21). Sie gibt die Fähigkeit, die für eine glückhafte Lebensgestaltung notwendig ist – und mit ihr findet man nicht nur das glückliche Leben, sondern auch Wohlgefallen bei Gott (siehe Sprichwörter 8,35). Denn in ihr findet man das ganze Geheimnis der Schöpfung, wie Sprichwörter 8,22-32 erklärt.
2. Aufbau
Sprichwörter 8,22-31 ist nur ein Teil einer längeren Rede der Weisheit in diesem Kapitel. Nach einer Einladung zur Weisheit folgt ihre Rede, die einer begründeten Selbstempfehlung gleicht. Sie verweist auf ihre segenreiche Wirksamkeit für diejenigen, die sie suchen (Verse 12-21). Sie offenbart, woher sie stammt (Verse 22-31). Und sie mahnt und motiviert: Sie zu suchen oder sie zu verfehlen, bedeutet Leben oder Tod (Verse 32-36). In den für die Lesung ausgewählten Worten der Weisheit blickt sie auf ihre Entstehung, bevor die Welt geschaffen wurde (Verse 22-26), und ihr Dasein während der Schöpfung (Verse 27-31).
3. Erklärung einzelner Verse
Verse 22-23: In ihren eigenen Worten verweist die Weisheit zurück auf Gott als ihrem Anfang. Der hebräische Text lässt jedoch am Anfang direkt offen, ob die Weisheit von Gott geschaffen wurde; oder ob er sie, wie es im Buch Ijob steht, erworben hat: „damals hat er [= Gott] sie [= die Weisheit] gesehen und gezählt, sie festgestellt und erforscht.“ (Ijob 28.27). Das in Vers 22 von der Weisheit verwende hebräische Wort קָנָה (gesprochen: kana) hat die Grundbedeutung „erwerben / besitzen“. An einigen Stellen – wie hier – bedeutet es jedoch auch „zeugen / gebären / erschaffen“. Hier verweist die parallel stehende Aussage, dass Gott die Weisheit „gebildet“ hat, auf diese, zweite Bedeutung. Dies zeigt sich auch in Vers 24: Gott hat die Weiheit „geboren“, im metaphorischen Sinne von: „hervorgebracht“. Der Weisheit kommt eine Zwischenstellung zwischen Gott und der Schöpfung der Welt zu, die sich hier in der Formulierung „als Anfang seines Weges“ ausdrückt. Ihre Existenz markiert den Beginn der Schöpfung der Welt durch Gott – so können die folgenden Worte als Auslegung des allerersten Wortes der Bibel „Am Anfang“ oder „Im Anfang“ gelesen werden.
Verse 24-26: Vor der Schöpfung der Welt war die Weisheit das passive Objekt Gottes, das er geschaffen hat. Mehrfach betont die Weisheit, dass sie existierte bevor irgendetwas anderes außer Gott existierte. Bevor, wie in Genesis 1 erzählt wird, am Anfang der Schöpfung das Wässrige von dem Festen getrennt wurde, war die Weisheit bereits bei Gott. In diesen Worten verdeutlicht sich die Bedeutung der Weisheit, denn sie ist nicht wie ein Mensch. Ijob wird vorgeworfen: „Bist du als erster Mensch geboren, kamst du zur Welt noch vor den Hügeln?“ (Ijob 15,7). Die Weisheit hingegen weiß, wie die Welt erschaffen wurde und kennt die ihr zugrundeliegende Ordnung.
Verse 27-29: Die Weisheit erzählt von der Schöpfung sowohl als einem handwerklichen Tun Gottes als auch von einem Schaffen allein durch Gottes Wort. Die entstehende Ordnung, die den Naturmächten Grenzen gibt, wird hierbei mit einem Wort beschrieben, das auch für die Israel von Gott gegebenen Gesetze verwendet wird (חֹק, gesprochen: chok).
Verse 30-31: In der Schöpfung selbst hatte die Weisheit keine aktive Rolle. Gott allein ist der Handelnde. Dennoch heißt es in der antiken griechischen Übersetzung des Textes: „da war ich bei ihm als Ordnende“. War die Weisheit sozusagen die Architektin der Schöpfung? Das dieser Übersetzung zugrundliegende hebräische Wort (אָ֫מ֥וֹן, gesprochen: amon) ist äußerst umstritten. Die in der revidierten Einheitsübersetzung favorisierte Ableitung des Wortes passt hingegen besser zum Kontext der von Gott erschaffenen und spielenden Weisheit: „geliebtes Kind“ oder „Pflegekind“. Eine dritte Auslegungsmöglichkeit ist die Wiedergabe des Wortes durch „beständig“ oder „treu“: „Und ich [= die Weisheit] war beständig bei ihm [=Gott].“ Dieses Verständnis passt zu der Aussage, dass die Weisheit „Tag für Tag“ und „allezeit“ bei Gott war. [zur Erklärung von Vers 31 und dem Verhältnis von Gott und Weisheit siehe „Auslegung“.]