Am Hochfest Mariä Aufnahme in den Himmel sind ausnahmsweise beide Lesungen aus dem Neuen Testament genommen - wie an den Sonntagen der Osterzeit. In diesem Lesejahr führt der Bogen auch inhaltlich in diese Zeit, denn noch einmal wird, diesmal als Erste Lesung, ein Abschnitt aus der Offenbarung gelesen, aus der bereits an allen Sonntagen der Osterzeit die Zweite Lesung genommen war.
Einordnung in den Kontext
In einer Zeit, die für die Christen durch die Bedrängung der Römer geprägt ist, schreibt der nach Patmos verbannte Wanderprediger und Seher Johannes an sieben Ortsgemeinden entlang der heutigen türkischen Küste mit dem Ziel der Ermutigung zum Festhalten am christlichen Glauben. Zugleich mahnt er vor falschen Kompromissen mit dem römischen Kaiserkult, d. h. der öffentlichen Verehrung des Kaisers als Gott in eigens dafür errichtetenTempeln (eine ausführlichere Einführung in die Offenbarung des Johannes findet sich am Zweiten Sonntag der Osterzeit/Zweite Lesung).
Das Schreiben des Johannes, das im Kern die Mitteilung von endzeitlichen Visionen ist, die er als göttliche Offenbarungen empfangen hat, ist durch drei große Visionszyklen gegliedert: Die sieben Siegel eines im Himmel hinterlegten Buches werden geöffnet (Offenbarung 6,1 - 8,1); es folgen sieben Posaunenstöße durch Engel (8,2 - 11,18) sowie schließlich die Ausgießung von sieben Schalen (Offenbarung 15,1 - 16,21).
Zwischen den Posaunen- und den Schalen-Visionen hält das Buch noch einmal inne. Ein erschreckendes Himelsbild - die Lesung des Hochfestes - führt am Ende zum Sturz des Drachens (Vers 9), der eine schwangere Frau bedroht. Aber er geht im Meer, dem biblischen Symbolort des alles verschlingenden Chaos, nicht unter, sondern taucht am Meeresstrand wieder auf (Vers 18, bereits außerhalb des Lesungsabschnitts). Kapitel 13 enlarvt in einer furchtbaren Karikatur den römischen Herrscher und sein Propagandasystem als eben diesen wieder aufgetauchten Drachen (das Kapitel 13. Kapitel ist vollständig wiedergegeben unter "Kontext"). Kapitel 14 wird in dieser aussichtlos erscheinenden Lage zeigen, dass die Zukunft dem "Lamm", dem auferstandenen Christus und eigentlichen Weltenherrn gehört.
Vers 11,19a: Die Tempelvision
Der Einleitungsvers gehört eigentlich noch in die letzte Posaunenvision (s. o.), die die Durchsetzung der Gottesherrschaft am Ende der Zeiten schildert. Sie wirkt sich für die Glaubenden als Heil, für dieAanderen als Gericht aus. Ein Symbolbild des Sichtbarwerdendes der Herrschaft Gottes ist das Sichtbarwerden des Allerheilgsten, d.h. des Bereichs im Tempel von Jerusalem, der durch einen Vorhang den Blicken der Gläubigen strikt verborgen war. Wenn die Offenbarung dabei die "Bundeslade", also das Erinnerungssymbol an Gottes vierzigjähriges Geleit durch die Wüste, sichtbar werden lässt, knüpft dies nicht an die Zeit Jesu an, sondern an die Zeit vor der Zerstörung des Tempels 586 v. Chr. durch die Babylonier. Der neue Tempel aus persischer Zeit (Einweihung: 515 v. Chr.) hielt das Allerheiligste nämlich leer. Die niedergebrannte Bundeslade wurde nicht mehr ersetzt. Die Symbolik der Verborgenheit des Raumes für die Allgemeinheit blieb aber bestehen. In den Evangelien heißt es beim Tode Jesu bereits in ähnlicher Symbolik, dass der Vorhang von oben bis unten riss (vgl. Markus 15,38). Und ähnlich wie im Matthäusevangelium angesichts der Gottesgegenwart im Augenblick des Kreuzestodes Jesu, der mit der Überwindung des Todes durch Gott einhergeht, ein Erdbeben als äußeres Zeichen der Gottesgegenwart geschildert wird (vgl. Matthäus 27,51-52), so verbinden sich im ausgelassenen Vers 19b der Lesungseröffnung mit der Gottesgegenwart Gewitter, Erdbeben und Hagel.
Während diese Vision vom Text her in sich einen Abschluss bedeutet, auf den in Kapitel 12 eine neue Vision folgt, wird durch die Leseordnung der Eindruck erweckt, es gebe einen inneren Zusammenhang zwischen Tempelvision (11,19) und dem "großen Zeichen am Himmel" in 12,1 (vgl. zu diesem Zusammenhang die Rubrik "Auslegung").
Verse 12,1-2: Die bedrängte Frau
Entsprechend der apokalyptischen Vorstellung (s. dazu die oben genannte Einführung in die Offenbarung) setzt die Lesung vielmehr voraus, dass jedes irdische Geschehen sich in einem himmlischen Geschehen spiegelt. Dann ist es aber am plausibelsten, in der kosmisch ausgestatteten und mit 12 Sternen bekränzten Frau eine himmlische Entsprechung zum Gottesvolk zu sehen, das zu Jesus Christus unterwegs ist. Die Zahl 12 erinnert dabei natürlich an das alttestamentliche Zwölfstämme-Volk Israel, auf das, um es mit einem Bild des Apostels Paulus zu sagen, die Gemeinschaft der Christen wie auf einen tief verwurzelten Baumstamm "aufgepfropft" wurde (vgl. Römer 11,16-18). Hieraus erklärt sich die Zahlensymbolik der 12 Apostel.
Das Gottesvolk aber, von Gott im Sinne der Erwählung mit königlichem Glanz ausgestattet, ist ein bedrohtes. Man könnte sagen: Die Geburt des Christentums - es ist ja zur Zeit der Offenbarung 60 - 80 Jahre alt - vollzieht sich unter Schmerzen. Dies könnte nun tatsächlich als eine Interpretation von Genesis 3,16b durch die Offenbarung aufgefasst werden. Dort spricht Gott zur Frau (Eva): "Unter Schmerzen gebierst du Kinder." Dabei geht es zumindest in der Interpretation der Offenbarung nicht um Strafe, sondern um die Erfahrung der Wirklichkeit, wie sie ist. Dieses Motiv passt zur Geschichte des jüdischen Volkes. Der aus ihm hervorgehende Messias, Jesus, kommt in Zeiten des Römerjochs zur Welt, das schließlich im Jahr 70 n. Chr. zur Totalzerstörung Jerusalems führte. Die liegt zur Zeit der Offenbarung schon in der Vergangenheit.
Verse 3-4: Der bestialische Drache
Die Horrorvisionen der Offenbarung - und die Schilderung des zerstörerischen Drachens ist eine solche - antworten auf die als Horror erfahrenen Bedrängnisse. Dabei verbinden sich vermutliche reale Erfahrungen von offener Brutalität und grausamer Heimtücke mit bereits vorhandenem Bildmaterial aus früherer apokalyptischer Literatur. Aus der Bibel ist hier vor allem das Buch Daniel zu nennen. Als Beispiel sei Daniel 7,7-8; 8,10 angeführt:
"7 Danach sah ich in meinen nächtlichen Visionen ein viertes Tier; es war furchtbar und schrecklich anzusehen und sehr stark; es hatte große Zähne aus Eisen. Es fraß und zermalmte alles, und was übrig blieb, zertrat es mit den Füßen. Von den anderen Tieren war es völlig verschieden. Auch hatte es zehn Hörner. 8 Als ich die Hörner betrachtete, da wuchs zwischen ihnen ein anderes, kleineres Horn empor und vor ihm wurden drei von den früheren Hörnern ausgerissen; und an diesem Horn waren Augen wie Menschenaugen und ein Maul, das anmaßend redete. ... 8,10 .... und [es] warf einige vom Heer und von den Sternen zur Erde herab und zertrat sie."
Hat das Buch Daniel vor allem die mörderische Unterdrückung der Juden durch die Griechen im Blick, so die Offenbarung eben die der Christen durch Rom. Ganz offenscihtlich geht es um eine Theologie der Angstüberwindung, die nicht auf eigene Gewalttätigkeit setzt, sondern erlittener Grausamkeit ein sehr viel stärkeres Hoffnungspotenzial entgegensetzt.
Die konkrete Zahlensymbolik (sieben und zehn) dürfte unter anderem auf bestimmte Zählungen der römischen Herrscher verweisen. Das "Horn" hingegen ist bereits im Alten Orient - man denke an den Apis-Stier in Ägypten - ein Symbol der Macht und der Kraft. Diese kann den Herrschern von Rom und ihren Bütteln nicht abgesprochen werden, aber die Botschaft der Offenbarung ist, dass diese Macht nur eine vorläufige ist, die am Ende von Gott in ihrer ganzen Vorläufigkeit und Unbedeutendheit bloßgestellt werden wird.
Dies wird in den leider ausgelassenen Versen 7-9 im Motiv des Drachensturzes symbolisch veranschaulicht. Der Kampf zwischen dem Engel Michael und dem Drachen geht zugunsten Michaels aus, der in der apokalyptischen Tradition der himmlische Vertreter des irdischen Volkes Israel ist (vgl. Dan 12,1a: "In jener Zeit tritt Michael auf, der große Fürst, der für die Söhne deines Volkes eintritt."). Dabei spricht der Name des Engel für sich. Denn übersetzt heißt er: "Wer [mî] ist wie [kā] Gott [ēl]?"
Vers 5: Die nicht verhinderte Geburt
Dieser Vers schildert den Sieg Gottes über alle gottfeindlichen Mächte: Die Geburt des Messias kann niemand verhindern, auch der Drache nicht. Man hat den Eindruck, vor einer ins Kosmische geweiteten Erzählung dessen zu stehen, was auch mit der Erzählung von den drei Weisen aus dem Osten festgehalten wird: Herodes versucht mit allen Mitteln, das Großwerden eines vermeintlichen Königskonkurrenten zu verhindern, sei es durch die als Spione eingesetzten Weisen (Matthäus 2,1-12), sei es durch eine Kindermordaktion )Matthäus 2,16-18).
Die Überwindung des Drachen geschieht nicht nur durch die Durchsetzung der Geburt, sondern auch durch die Rettung des Kindes durch seine Aufnahme zu Gott. Dies ist die wie im Zeitraffer verdichtende Verbindung von Geburtserzählung und Christi Himmelfahrt. In der gottgeschenkte Vision des Johannes ist die Zeit aufgehoben - keineswegs aber in der realen Gegenwart, in der er lebt und für die er schreibt.
Vers 6a: Flucht in die Wüste
Bei Vers 6a ist man vordergründig geneigt, an die Flucht der Familie Jesu nach Ägypten zu denken (vgl. Matthäus 2,13-15). Es passt dazu allerdings nicht, dass hier die Frau allein zu fliehen scheint, ohne das bereits in den Himmel entrückte Kind. Und auch das markante Wort Ägypten würde durch das allgemeinere Wort "Wüste" ersetzt werden.
Das alles spricht dafür, dass Vers 6 einmal mehr auf die Erfahrungen des jüdischen Volkes anspielt und seine Zeit der Wanderung durch die Wüste, nachdem es vor dem ägyptischen Pharao geflohen ist. Mit dieser Rückerinnerung würde das Leben der Christen, an die Johannes von Patmos aus schreibt, gedeutet werden als eine vor ihnen liegende "Wüstenstrecke", die es im Glauben an Gott und mit Blick auf das "Lamm" Christus, das den Tod überwunden hat, zu bestehen gilt.
Vers 10ab
In einer der für die Offenbarung typischen Jubelrufe (Akklamationen) wird der Sieg Gottes und des Lammes besungen. Durch die Auslassung der Verse 7-9 fehlt der eigentliche Auslöser dieses Jubelrufs: Der Sturz des Drachens. Er ist gemeint mit dem "rettenden Sieg". Die Vorstellung vom Drachensturz wird übrigens im Lukasevangelium mit Jesus verbunden:
"Da sagte er zu ihnen: Ich sah den Satan wie einen Blitz aus dem Himmel fallen." (Lk 10,18)