Der Prophet Jesaja weiß: Der Zorn Gottes ist nicht das Ende der Wege Gottes, sondern ein Durchgang zu seiner Gnade.
1. Verortung im Buch
Die Worte des Propheten in Jesaja 8,23-9,3 benennen den Feind, von dem das Volk befreit werden muss, nicht. Aber in Jesaja 10,27 wird die als Last und Joch beschrieben Macht mit der Weltmacht Assur identifiziert. Dies erklärt auch, warum zu Beginn, in Jesaja 8,23, auf den Verlust der Nordgebiete Israels durch den assyrischen König Tiglat-Peleser verwiesen wird. In dieser Situation der Bedrohung erklingt das hoffnungsvolle Danklied über die Geburt eines davidischen Thronnachfolgers im Südreich Juda (Verse 5-6). Die in ihm zum Ausdruck kommende Botschaft hat dieselbe Funktion wie die Ankündigung der Geburt eines Kindes, das verdeutlichen wird „Gott ist mit uns“ (Jesaja 7,14). Nun allerdings ist die Geburt keine Ankündigung mehr, sondern der verheißungsvolle Thronnachfolger ist geboren. Das nicht durchgesetzte Recht (Jesaja 5,7) wird durch ihn wieder garantiert und in Gerechtigkeit ausgeübt. Der verborgene Gott (Jesaja 8,16) wird nun wieder in seinem Wirken gesehen und das Volk kann sich in Gottes Angesicht freuen: „Das Volk, das in der Finsternis ging, sah ein helles Licht; über denen, die im Land des Todesschattens wohnten, strahlte ein Licht auf.“ (Jesaja 9,1)
2. Aufbau
Der Kontrast „Finsternis vs. Licht“ ist das Thema von Jesaja 8,23-9,3. Die Beschreibung des Heils in Jesaja 9,1-6 ist die Antwort auf die Notschilderung in Jesaja 8,21-22: „So wird man umherziehen, bedrückt und hungrig. Und wenn man Hunger leidet, wird man wütend und verwünscht seinen König und seinen Gott. Man wendet sich nach oben und blickt zur Erde. Aber siehe: Not und Finsternis, dunkle Bedrängnis und in Finsternis ist man verstoßen!“ Zwischen der Unheilsschilderung und der Heilsverheißung steht Vers 23, der in der Funktion einer Brücke einen Vergleich zieht und mit folgenden Worten beginnt: „Doch das Dunkel bleibt nicht dort, wo Bedrängnis ist“ (Vers 23a). Daran knüpft das folgende Danklied an, in dem der Jubel über die Befreiung des Volkes durch Gott (Verse 1-4) erklingt.
3. Erklärung einzelner Verse
Vers 23b: Der Prophet Jesaja und seine Schüler wirken im Südreich Juda (siehe Verse 21-22), aber nun geht der Blick auf das Schicksal des Nordreiches – zuvor hat Vers 14 verdeutlicht, dass eben das Süd- und das Nordreich zusammen Israel konstituieren. Jesaja verweist auf das Hochland Galiläas (Sebulon) und das Gebiet nordöstlich des Sees Gennesaret (Naftali). Diese Aufzählung verweist wahrscheinlich auf die Gebiete, die der assyrische König Tiglat-Pileser III eroberte und zu assyrische Provinzen machte (siehe 2 Könige 15,29). „Der Weg am Meer“ meint vielleicht den Küstenstreifen vom heutigen Haifa bis hinunter zum heutigen Tel Aviv oder gar Ashdod. „Das Gebiet der Nationen“ steht für Galiläa und das Land jenseits des Jordan ist das westliche Gebiet des heutigen Jordaniens. Diese letztgenannten Gebiete stehen nun für das gesamte Nordreich und neues, gottgewirktes Heil. In Jesaja 7-8 hatte der Prophet dem Nordreich den Zusammenbruch vorausgesagt – nun sieht er die Schicksalswende, die er im Folgenden mit dem Königshaus des Südreiches verbunden sieht (Jesaja 9,5-6).
Kapitel 9, Vers 1: Kurz zuvor wird in Jesaja 8,22 die Ferne zu Gott als „Not und Finsternis“ beschrieben. Finsternis ist ein Bild für eine Not, die in den Tod führt, wie es das Wort „Todesschatten“ verdeutlicht. Licht hingegen ist das Symbol der heilversprechenden Gegenwart Gottes im Leben. Gemäß Psalm 112,4 erstrahlt Gott dem Rechtschaffenen als Licht in der Dunkelheit (siehe auch Psalm 18,29).
Vers 2: Der an Gott gerichtete Dank beginnt als direkte Anrede, ohne dass der Angeredete beim Namen genannt wird. Das geschieht erst in Vers 6. Im Mittelpunkt steht hier vollends die Freude über die Rettung durch Gott. Wie in der Zeit des Königs Salomo ist das Volk „zahlreich wie der Sand am Meer; es hat zu essen und zu trinken und ist glücklich“ (1 Könige 4,20). Der Vergleich der Freude mit der Ernte und dem Verteilen der Beute weist auf durch Gott ermöglichte Nahrung und geschenkten Reichtum hin. Die israelitischen Erntefeste waren Dankfeiern für JHWH, dem Geber des Landes und dem Garanten dessen Fruchtbarkeit (Exodus 23,6). Auch war Gott derjenige, der den Sieg im Krieg ermöglichte und somit Beute schenkte (Dtn 20,13-14). Das im Hebräischen stehende Wort für die Freude über die Beute (גיל, gesprochen: gil), beschreibt im Buch Jesaja das Jauchzen über die von Gott geschenkte Befreiung. Es ist die Freude, über die wiederhergestellte Beziehung zwischen JHWH und Israel.
Vers 3: Die Vielzahl der verwendeten Begriffe, die die Fremdherrschaft beschreiben, zeigt an wie vielfältig das Volk litt. Der Verweis auf den Tag Midians führt den Leser und die Leserin in das Buch der Richter. Gideon hatte auf Wunsch Gottes keine große Armee aufgeboten, sondern mit nur 300 Mann Midian, Amalek und die Leute des Ostens, die in Israels Gebiet eingefallen waren, „zahlreich wie die Heuschrecken“ (Richter 7,12) besiegt, weil Gott den Krieg führte.