Gott wird als Vater angeklagt. Ist er verantwortlich, haftbar für die Sünden seines Volkes?
1. Verortung im Buch
Am Ende des Buches Jesaja, vor allem ab Jesaja 60, steht Zion im Mittelpunkt. Gott wird sich an der Stadt endgültig verherrlichen und seine Verheißungen erfüllen. Dazu gehört auch die Verheißung einer inneren Erneuerung der Zionsgemeinde. Der Stadt Gottes wird Gerechtigkeit widerfahren – und im Angesicht dessen erklingt in Jesaja 63,7-64,11 ein Volksklagelied. In diesem wird des Erbarmens Gottes erinnert und auch eingeklagt. Dieses Gebet steht mitten im Spannungsfeld zwischen dem Ideal der Verheißung und der Realität der Erfahrung. Im vorherigen Kapitel sagt der Prophet zu den Gläubigen schon: „Lasst ihm [= Gott] keine Ruhe, bis er Jerusalem festigt und bis er es einsetzt als Ruhm auf Erden!“ (Jesaja 62,7). Nun steht das Bekenntnis zu Gott als Vater im Mittelpunkt, worauf Gott antwortet, dass er wie eine Mutter zu seinem Volk ist (Jesaja 65,1-66,24).
2. Aufbau
Der Prophet ergreift im Namen des Volkes das Wort und betet, ja klagt zu Gott. Diese Klage ist perspektivisch auf erhofftes Heil nach der Zerstörung Jerusalems 587 v. Chr. und dem folgenden Exil gerichtet. In Jesaja 63,8-14 zeigt der Blick zurück in die Heilsgeschichte die heilvollen Taten Gottes. Auf dieser Grundlage erklingt in Jesaja 63,15-64,11 das eigentliche Gebet. Es beginnt mit einer Bitte um Zuwendung: „Blick vom Himmel herab und sieh her von deiner heiligen, prachtvollen Wohnung! Wo ist dein leidenschaftlicher Eifer und deine Macht? Dein großes Mitgefühl und dein Erbarmen - sie bleiben mir versagt!“. Und es endet in einer Frage: „Kannst du dich bei alldem zurückhalten, HERR, kannst du schweigen und uns so sehr erniedrigen?“
Die Auswahl der Verse für die Sonntagslesung legt den Fokus auf die Bitte um die Zuwendung Gottes, die in eine Klage, ja Anklage mündet (Jesaja 63,16-17) und der Bitte um Gottes direktes Eingreifen in die Weltgeschichte (Vers 19b). Die Lesung endet dann mit dem Sündenbekenntnis und Zuversicht (Jesaja 64,3-7). So beginnt und endet die Lesung mit dem Bekenntnis zu Gott als Vater: „Du, HERR, bist unser Vater,“ …. „Doch nun, HERR, du bist unser Vater“.
3. Erklärung einzelner Aspekte
Vers 16b: Um die Anrede Gottes als „Vater“, die im Alten Testament noch nicht selbstverständlich ist, zu verstehen, ist ein Blick auf den Anfang des Verses hilfreich: „Du bist doch unser Vater! Abraham weiß nichts von uns, Israel kennt uns nicht.“ Die menschlichen Vätergestalten des Volkes – die großen Verheißungsträger – sind wie alle Menschen machtlos. Vergangenheit alleine rettet nicht, sondern die besondere Beziehung zu Gott. Abraham und Israel hatten sie als Personen erfahren – und nun bittet das Volk darum. Und es tut dies aus der zuvor in Vers 8 ausgesprochenen Gewissheit: „Er [= Gott] sagte: Gewiss, sie sind mein Volk, Kinder, die nicht treulos handeln. So wurde er ihnen zum Retter.“ Anstatt mit „Kinder“ müsste man hier eigentlich „Söhne (inklusive Töchter)“ übersetzen, denn schon hier geht es um das spirituelle Vater-Kind-Verhältnis zwischen Gott und seinem Volk. Und damit kein Missverständnis entsteht wird direkt geklärt, was die Vaterschaft Gottes bedeutet: Gott handelt dauernd, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als beschützender Retter seiner Kinder.
Vers 17: Dem Bekenntnis folgt der Kontrast und der Ein-Gott-Glaube wird sozusagen auf die Spitze getrieben. Gott wird als Initiator der Sünde, die Israel ins Exil geführt hat, angeklagt. Es war der Auftrag Gottes an den Propheten das Volk zur Verstockung zu führen: „Da sagte er: Geh und sag diesem Volk: Hören sollt ihr, hören, aber nicht verstehen. Sehen sollt ihr, sehen, aber nicht erkennen. Verfette das Herz dieses Volkes, mach schwer seine Ohren, verkleb seine Augen, damit es mit seinen Augen nicht sieht, mit seinen Ohren nicht hört, damit sein Herz nicht zur Einsicht kommt und es sich nicht bekehrt und sich so Heilung verschafft.“ (Jesaja 6,9-10). Im Motiv der Verstockung klingt zugleich auch die Plagenerzählung und der Exodus aus Ägypten an: Gott verstockte auch dort ein Herz, das Herz des Pharaos. Um dieses Motiv jedoch hier im Buch Jesaja zu verstehen, ist es wichtig, die damit verbundene Frage zu verstehen. Es wird nicht nach dem Warum für die Verstockung gefragt, sondern zielgerichtet nach dem Wozu. In die Zukunft blickend verlangt der Prophet im Namen des Volkes nun nicht die Umkehr der Menschen, sondern die Umkehr Gottes. Er möge die herrschende Ferne zu Gott wieder in göttliche Nähe wandeln. Gott soll sich wieder um diejenigen kümmern, für die er verantwortlich ist – sein Volk, sein Erbbesitz.
Vers 19b: Das Erzittern der Berge ist ein Theophaniemotiv. Die Trennung zwischen dem Himmel und der Erde soll aufgehoben werden und die Gegenwart Gottes soll die Welt erschüttern. Diese indirekte Bitte ist das Zentrum des gesamten Volksklagelieds. Statt der ausgesprochenen Verheißungen wird eine direkte Theophanie erhofft.
Vers 3: Gottes Handeln, auch das erbetene, ist analogielos in der Geschichte. Hier zeigt sich die tief in der Heilsgeschichte verankerte Hoffnung Israels. Wer auf den Gott Israels hofft, wird nicht enttäuscht – denn es gibt keinen Gott außer JHWH.
Vers 4: Der Beginn dieses Verses ist doppeldeutig und kann auf den vorherigen Vers bezogen werden, oder den Beginn der folgenden Thematik markieren. Es gibt zwei Übersetzungmöglichkeiten: 1. „Du begegnest dem, der sich freut und das Rechte tut …“; oder 2. „Du trafst [im Sinne von schlägst] den, der sich freut und das Rechte tut.“. Je nachdem, wie man übersetzt, tritt einem ein barmherziger oder grauenvoller Gott entgegen. Auch die Forsetzung des Verses ist schwierig zu übersetzen. Entweder: „Ja, du warst zornig, denn wir haben gesündigt“. Oder: „Ja, du warst zornig, sodass wir gesündigt haben.“ War die Sünde des Volkes nun eine Folge des Zorn Gottes oder vice versa? Auch wenn diese Frage offenbleiben kann, gilt in der Gegenwart die Aufforderung auf Gottes Wegen zu wandeln.
Verse 5-6: Unreinheit bedeutet die kultische Unmöglichkeit Kontakt zu Gott aufzunehmen. Das Motiv des verwelkten Laubs steht für den Tod, der im damaligen Denken eine endgültige Trennung zwischen Gott und dem Menschen bedeutet. Es wird klargestellt, dass die Schuld des Volkes die Beziehung zu Gott verhindert und dies hat zu einem fatalen Zustand geführt: Die Menschen wenden sich Gott nicht mehr zu – und Gott hat sich von den Menschen abgewendet.
Vers 7: Der in den Versen 5-6 beschriebenen zweiseitig zerbrochenen Beziehung wird die Anrufung Gottes als Vater entgegengehalten. Gott ist der Vater und Schöpfer des Menschen. Das Motiv des Töpferns ist weitverbreitet im Alten Orient, um die Schöpfung des Menschen zu beschreiben. Es verdeutlicht nicht nur, dass der Mensch seinen Ursprung in Gott hat, sondern auch, dass das „Wie“ des Menschen als Werk Gottes zu verstehen ist.