Gott lässt sich finden – er ist nahe, aber seine Pläne und Taten sind doch himmlisch, dem Menschen entzogen.
1. Verortung im Buch
Die Aufforderung zur Heimkehr aus dem Exil und die Verheißung der Wiederherstellung des zerstörten Zions – das ist der Inhalt des zweiten Teils des prophetischen Buches Jesaja (Kapitel 40-55). An dessen Ende geht es nun um die Frage der Durchsetzung dieser Heilsbotschaft. Und als Antwort gegen jedweden Zweifel schreit der Prophet in den Versen 1-3 die Gewissheit wie ein Marktschreier seinem Publikum, bzw. seiner Leserschaft entgegen:
„1 Auf, alle Durstigen, kommt zum Wasser! Die ihr kein Geld habt, kommt, kauft Getreide und esst, kommt und kauft ohne Geld und ohne Bezahlung Wein und Milch! 2 Warum bezahlt ihr mit Geld, was euch nicht nährt, und mit dem Lohn eurer Mühen, was euch nicht satt macht? Hört auf mich, dann bekommt ihr das Beste zu essen und könnt euch laben an fetten Speisen! 3 Neigt euer Ohr und kommt zu mir, hört und ihr werdet aufleben! Ich schließe mit euch einen ewigen Bund: Die Erweise der Huld für David sind beständig.“ (Jesaja 55,1-3)
2. Aufbau
Die doppelte Aufforderung in Vers 6 knüpft direkt an Jesaja 55,1-3 an. Ihm folgt in Vers 7 ein Mahnspruch über den Frevler, bevor in den Versen 8-9 die anfänglichen Aufforderungen begründet und erklärt werden.
3. Erklärung einzelner Verse
Vers 6: Die Aufforderung Gott zu suchen, ist ursprünglich wohl ein Kultruf, der zum Gebet und Opfer im Tempel aufforderte (siehe Genesis 25,22), doch wurde sie schon früh zu einer allgemeinen Aufforderung sich Gott zu nähern: „Sucht den HERRN, dann werdet ihr leben.“ (Amos 5,6). Die damit verbundene Aussage ist klar ausgesprochen: Er ist nahe und lässt sich finden. Die Begründung „denn“ hierfür steht in Versen 8-9.
Vers 7: Die vorherige Aufforderung wird durch dieses Mahnwort zu einer zeitlosen Sentenz. Die Nähe Gottes wird selbst dem Frevler zugesagt, weil Gott barmherzig ist und verzeiht – vorausgesetzt sein „Suchen“ ist eine Umkehr zu Gott.
Verse 8-9: Im Hebräischen steht am Anfang dieses Verses das Wort כי (gesprochen: ki), das in der revidierten Einheitsübersetzung ausgelassen wird. Entweder hat es eine bejahende Funktion („fürwahr“) oder es weist den Vers als eine Begründung aus. Verse 8 und 9 können inhaltlich sowohl die Zusage der Barmherzigkeit Gottes aus Vers 7 begründen wie auch die Aufforderung aus Vers 6. Also: Entgegen der momentanen Wahrnehmung ist Gott nahe (Vers 6), denn … . Oder: Gott ist reich an Barmherzigkeit (Vers 7), denn… . Das Hebräische Wort מַחֲשָׁבָה (gesprochen: machschava), das in der revidierten Einheitsübersetzung mit „Gedanken“ übersetzt ist, meint konkrete Handlungspläne. Und die hier ebenso genannten „Wege“ bedeuten die Umsetzung dieser Handlungspläne, also die konkreten Handlungen. Einerseits wird Gottes Planen und Handeln hier mit dem menschlichen Planen und Handeln verglichen – Gott wird anthropomorph erklärt. Doch direkt wird das Gottesbild diesen Kategorien wieder entzogen. Anders als das menschliche Trachten steht die Durchsetzung des Gottes Willen fest (siehe Jesaja 55,10-11)