Es ist doch absurd: Das Leid einer Person soll die Schuld eines ganzen Volkes tilgen? Und Gott soll daran auch noch Gefallen haben?
1. Verortung im Buch
In den Kapitel 52-54 des Buches Jesaja stehen die Rückkehr der Exilierten Israeliten nach Jerusalem und der Wiederaufbau Zions im Fokus. Aber bevor Gott als König zu seiner Stadt zurückkehrt und bevor die Exilierten beginnen in die Gottesstadt zurückkehren (Jesaja 52,7-12) stellt sich die Frage, wie das Leid im Exil zu deuten ist. Wie wird aus dem Gott der Strafe wieder der Gott der Versöhnung, der siegreich sein Volk in seine Thronstadt zurückgeführt haben wird?
2. Aufbau
Der Aufbau des Textes gleicht einem Dreischritt: Der mit Krankheit Geschlagene (Vers 3) hat die Krankheit und Schuld der Gemeinschaft getragen (Vers 4) gemäß dem Plan Gottes, der ihn erkranken ließ (Vers 9).
Das sogenannte vierte Gottesknechtlied beginnt mit einer Gottesrede, die den zukünftigen Erfolg des Knechtes Gottes verheißt, der auch angesprochen wird und somit als anwesend gedacht ist: „wie sich viele über dich entsetzt haben …“ (Verse 13-15). In der zweiten Strophe erinnert sich eine Gruppe, die als „Wir“ spricht, an ihre fälschliche Geringschätzung des Knechtes (Vere 1-3), die sie in der dritten Strophe revidiert und ihre Verachtung zu Hochachtung werden lässt (Verse 4-6). Die theologische Hauptaussage findet sich in Vers 6, indem Gott, die Wir-Gruppe und der Knecht in direkte Beziehung miteinander gesetzt werden: „Doch der HERR ließ auf ihn [den Knecht] treffen die Schuld von uns allen.“ In der vierten Strophe wird nicht nur das Schicksal des Knechts erzählt, sondern auch die theologische Bedeutung erklärt, samt der daraus folgenden Handlungsanweisung (Verse 7-10). Und in den letzten Versen knüpft Gott wieder an seine Verheißung an, mit der das vierte Gottesknechtlied begonnen hatte und bestätigt damit das Bekenntnis der in den Versen 1-6 Redenden.
3. Erklärung einzelner Verse
Verse 13-15: Dem wenige Verse später als tot verkündeten Knecht wird im Angesicht des Gottesvolkes und der vielen Völker Erfolg in seiner Mission verheißen. Die für die Zukunft verheißenen Beschreibung „erhaben und sehr hoch“ teilt sich der Knecht im Buch Jesaja mit dem Thron Gottes und dem Tempelberg (siehe Jesaja 6,1 und 57,7). Gott selbst wird in Jesaja 57,7 als „der Hohe und Erhabene“ bezeichnet. Im Kontrast zu dieser glorreichen Zukunft steht der Blick in die Vergangenheit. Schon der Anblick des Knechtes führte zum Entsetzen über ihn: Während gutes Aussehen und eine schöne Gestalt ansonsten königliche Attribute sind, ist der Knecht Gottes entmenschlicht. Er ist nicht wie Psalm 45 den König besingt „der Schönste von allen Menschen“, sondern das komplette Gegenteil – völlig entstellt, beinahe entmenschlicht. Doch in der Erniedrigung des Knechtes ereignet sich etwas „Neues“, wovon die folgenden Verse reden werden: Aus dem Entsetzen der Vielen wird durch das Verstehen des Folgenden eine Entsühnung der vielen Völker, die die Mächtigen der Völkerwelt verstummen lassen wird.
Verse 1-3: Die Vielen, die sich über den Knecht entsetzen, kommen nun zu Wort und blicken in die Vergangenheit. Ihnen wurde verkündet, was sich durch den Knecht ereignen wird, aber sie glaubten diesen Worten nicht. Nun bleibt nur noch eine rhetorische Frage, die, wenn man sie wörtlich übersetzt, lautet: „Der Arm JHWHs, über wem wurde er offenbar?“ Die Antwort lautet: Am Knecht hat Gott seine Macht aufgezeigt. Scheinbar im Kontrast zu den mit der Macht Gottes verbundenen Vorstellungen steht die folgende erneute, nun ausführlichere Beschreibung des Knechtes: Der Anfang desjenigen, der „hoch und erhaben“ sein wird, wird mit einem kleinen Sproß, der aus der trockenen Erde emporstößt, verglichen. Das Bild des kraftvollen, aber zarten Anfangs im Angesicht Gottes steht für Hoffnung. Aus der scheinbar toten Erde entsteht Leben. Die Wirkung dieses Anfangs ist jedoch eine andere: Die Redenden bekennen, dass sie den Knecht nicht nur nicht beachtet haben, sondern dass sie ihn verachteten und für Nichts gehalten haben. Nicht nur fehlten die königlichen Attribute, - wörtlich übersetzt, hatte er „keine Gestalt“, „keine Pracht“, „kein Aussehen“ –, sondern er wurde von den Menschen gemieden. Er war kein Heilsgestalt, sondern das Objekt der Ausgrenzung, weil er scheinbar Gottestrafen, Schmerzen und Krankheiten, erlitt. Er war in den Augen der Redenden ein aus der Gemeinschaft mit ihnen und mit Gott Verstoßener.
Verse 4-6: Doch die Redenden erkennen, dass seine erlittenen Schmerzen und Krankheiten in Wahrheit ihre eigenen waren. Diese Erkenntnis ist die Hauptaussage des gesamten Textes: Der Knecht litt nicht an seiner eigenen Schuld, sondern er erlitt für die Vielen das Leid. Diese Stellvertretung schafft die Schuld jedoch nicht aus der Welt: Er hat die Gottesstrafe ertragen, aber nicht „weg-getragen“ – sondern sein Leid wird für die Vielen zum Heil. Hier entsteht ein theologisch völlig neues Denken. Das erste, frühere Urteil der Redenden, „er sei ein von Gott geschlagen“, steht für den auch von den Freunden Ijob vertretenen Ansicht, dass Gott die Sünden einer Person an dieser Person ahndet – der, der von Gott geschlagen wird, ist ein Feind Gottes. Solche Schläge Gottes konnten der Strafe dienen oder der Erziehung. Hier nun aber entsteht ein völlig neues Denken: Die Redenden bekennen, dass der Knecht stellvertretend, die Strafe Gottes erlitten hat, die sie verdient hätten – sie erkennen, dass sie die Ursache seines Leidens sind. Der entscheidende Kontrast liegt in den Worten „unsere Vergehen“ (פֶּשַׁע, gesprochen: pescha) und „unser Heil“ (שָׁלוֹם, gesprochen: schalom): Aus dem totalen Bruch mit Gott wird durch den Knecht wieder eine heilsame Gemeinschaft. Im Bekenntnis für die Verantwortung des durch den Knecht stellvertretend erlittenen Leides fügen sich die Redenden wieder in diese Gemeinschaft ein.
Verse 7-9: In diesen Versen wird das Schicksal des Knecht Gottes erzählt. Der Unschuldige hat das Leid stillschweigen angenommen – zweimal wird in Vers 7 betont „er tat seinen Mund nicht auf“ und klagte nicht; obwohl er mit den Psalmen gesprochen, jedes Recht gehabt hätte, Gott anzuklagen. Der Vergleich seines Handelns mit einem Lamm, das geschlachtet wird, weist nicht daraufhin, dass sein Handeln mit einem entsühnenden Kultopfer zu vergleichen wäre. Der in Vers 7 verwendete hebräische Begriff steht für nicht-kultische Schlachtung. Im Mittelpunkt steht die völlige Annahme des Leides durch den Knecht Gottes – nichts anderes. Auch sagt der Text nicht ausdrücklich, dass sein Leid zum Tod führte. Das Abgeschnittensein vom Land der Lebendigen bedeutet die Trennung von Gott sowohl im Leben als auch im Tod (siehe Psalm 31,23). Und anders als der Text der revidierten Einheitsübersetzung suggeriert, wurde er auch nicht tödlich verwundet, sondern: „ihm war Plage (oder: er war getroffen) wegen der Abtrünnigkeit meines Volkes“. In Vers 9 hingegen könnte angedeutet sein, dass der Knecht Gottes wirklich gestorben ist. Hier gilt es jedoch zu fragen, wer der Handelnde ist. Im hebräischen Text steht wörtlich „er gab ihm sein Grab bei den Frevlern“. Wer ist dieser „er“? Eine wörtliche Übersetzung des Anfangs von Vers 8 zeigt den Bezug: „Aus Drangsal und Gericht wurde er [der Knecht] genommen, aber seine Generation, wen kümmerte es?“ Das hebräische Wort für „Generation“ lautet דּוֹר (gesprochen: dor) und ist grammatikalisch ein Singular, Maskulinum, das heißt: Es ist möglich Vers 9 folgendermaßen zu übersetzen: „Seine Generation gab ihm bei den Frevlern sein Grab und bei einem Reichen in seinen Toden“. Damit ist der Anfang des Verses jedoch noch nicht erklärt: Wer sind der Reiche? Und was bedeutet „in seinen Toden“? Eine mögliche Antwort ergibt sich, wenn man den Knecht Gottes nicht mit einer Einzelperson identifiziert, sondern mit einer Gruppe. Wenn man die in Vers 8 angesprochene Drangsal und das Gericht als Hinweis auf den Untergang Jerusalems und die folgende Exilierung bezieht, wie es eine antike Übersetzung ins Aramäische nahelegt, dann könnten die Deportierten gemeint sein, die nicht nur weit entfernt von ihrem Land, sondern auch getrennt von ihrem lebensspendenden Gott sind. Aus der Perspektive der in Jerusalem Verbliebenen waren sie wie Tote, die fernab im Großreich lebten und der man nicht mehr gedachte. Dies würde auch die Pluralform „in seinen Toden“ erklären: die Deportierten, die im Exil sterben. Ist der Knecht also ein Teil der Israeliten, die durch das Exil gepeinigt wurden und die wieder nach Jerusalem zurückkehren werden?
Vers 10: Hat Gott eine sadistische Freude am Leid des Knechts? „Und JHWH hatte Gefallen daran, ihn zu zermalmen, und er ließ erkranken“, heißt es wörtlich am Anfang von Vers 10. Das bedeutet, dass das Leid des Knechtes zum göttlichen Plan gehört. Die Freude Gottes am Leid steht aber unter einer Bedingung, die nicht an Gott gerichtet ist, sondern an den einzelnen Israeliten: „wenn Du sein Leben als Schuldtilgung einsetzt“. Die Anerkenntnis des stellvertretenden Leides des Knechtes und somit das Eingeständnis der eigenen Schuld führt zur Versöhnung mit Gott. Wenn es zu dieser Versöhnung kommt, dann wird der totgeglaubte Knecht nicht nur leben, sondern aufleben, sozusagen aufblühen und Nachkommen zur Welt bringen.
Verse 11-12: Dass die Vielen durch das Leid des Knechtes gerechtfertigt werden, betont abschließend nochmal das Gotteswort in den Versen 11 und 12. Das, was die Redenden in den Versen 1-6 als ihre Erkenntnis ausgedrückt hatten, wird durch das Gotteswort bestätigt und verallgemeinert. Nicht nur für die Redenden in Vers 1-6, sondern für „die Vielen“ hat der Knecht das Leid auf sich geladen und wird gerade deswegen von Gott erhöht werden.