Aus einem Liebeslied wird ein Gericht, an dessen Ende Gottes tiefe Enttäuschung steht.
1. Verortung im Buch
„Der HERR geht ins Gericht mit den Ältesten seines Volkes und seinen Anführern: Ihr, ihr habt den Weinberg verwüstet; das dem Armen Geraubte ist in euren Häusern“ (Jesaja 3,14). Die Metapher vom Weinberg Gottes ist im Alten Testament keine übliche. Doch sie klingt vor dem Lied vom Weinberg (Jesaja 5,1-7) schon im Buch des Propheten Jesaja an und bereitet so den Leser und die Leserin auf dessen Aussage vor. Dieses Gleichnis gibt den Grundton für die folgenden Weherufe gegen Israel – die Enttäuschung Gottes über sein Volk sitzt tief (Jesaja 5,8-24). Doch diese Reihe der Anschuldigungen führt zu einem ersten Höhepunkt dieses Prophetenbuches: die Ankündigung der Einsetzung eine gerechten Davidssohnes (Jesaja 8,23-9,6).
2. Aufbau
Der Prophet ergreift das Wort und singt das Lied vom Weinberg des Freundes (Verse 1-2). Dieser ergreift „nun“ selbst das Wort und fordert die Bewohner Jerusalems und Juda dazu auf, zwischen ihm und seinem Weinberg zu richten (Verse 3-4). Doch dann verkündet er „jetzt“ selbst das Urteil (Verse 5-6) – woraufhin in Vers 7 die Allegorie aufgelöst wird: Gott ist der Besitzer des Weinbergs und sein Volk Israel ist der Weinberg. Das Gleichnis endet nicht in der Umsetzung des Urteils, der Verwüstung des Weinbergs, sondern mit Gottes tiefer Enttäuschung. Und es bleibt eine Frage offen: Wird Gottes Erwartung an sein Volk vielleicht doch noch in Erfüllung gehen – oder ist es verloren?
Ein wichtiges Leitwort des Liedes ist „hoffen“: „Dann hoffte er, dass der Weinberg Trauben brächte, doch er brachte nur faule Beeren“ (Vers 2) – „Warum hoffte ich, dass er Trauben brächte?“ (Vers 4) – „Er hoffte auf Rechtsspruch - doch siehe da: Rechtsbruch, auf Rechtsverleih - doch siehe da: Hilfegeschrei“ (Vers 7).
3. Erklärung einzelner Verse
Vers 1: Der Text wird eingeleitet wie ein Liebeslied (Vers 1) – und entwickelt sich im Verlauf zu einer Parabel, einem Rechtsstreit und einer Allegorie. Die Worte „Freund“ und „Weinberg“ lassen vor dem Hintergrund des Hohelieds an ein Liebeslied denken (siehe zum Beispiel Hld 8,12). Doch das Wort „Freund“ kann auch die Beziehung zwischen einem Beschützer und einem Beschützten ausdrücken (vgl. Dtn 33,12).
Vers 2: An vielen Stellen in der Hebräischen Bibel stehen „edle Reben“ oder ein fruchtbarer Weinstock für Gottes Sorge und sein Bemühen um das Volk Israel – zum Beispiel: „Ich aber hatte dich als Edelrebe gepflanzt, als gutes, edles Gewächs. Wie hast du dich gewandelt zum Wildling, zum entarteten Weinstock!“ (Jeremia 2,21). Auch das Wert „pflanzen“ wird häufig verwendet für Gottes schützendes Handeln, vor allem für die Landgabe Israels: „Mit eigener Hand hast du Völker vertrieben, sie aber pflanztest du ein. Du hast Nationen zerschlagen, sie aber sätest du aus“ (Psalm 44,3). Bemerkenswert sind die hohen Kosten, die der Weinbergbesitzer auf sich nimmt – hier sticht vor allem der Turm zum Schutz des Weinberges hervor, denn üblich waren eigentlich nur Hütten. Und dann erwartet er keinen überragenden Ertrag, sondern nur, dass der Weinberg seiner Bestimmung gerecht wird und genießbare Trauben hervorbringt.
Verse 3-4: Der Besitzer ergreift das Wort: „mein Weinberg“. Und er fordert die Zuhörer zum Richten zwischen sich und seinem Weinberg auf. Seine Fragen verdeutlichen, dass der Ankläger seine „Bringschuld“ erfüllt hat.
Verse 5-6: Aus dem Ankläger wird nun der Richter. Das angekündigte Abweiden und Zertrampeln zeigen, dass der Besitzer nicht weiter gewillt ist, seinen Weinberg zu beschützen. Damit wird die zuvor erwiesene Fürsorge (Verse 1-2) zurückgenommen. Im Endeffekt läuft alles auf eine Vernichtung des Weinbergs zu. Das Motiv der „Dornen und Disteln“ ist eine in den Prophetenbüchern häufig anzutreffende Chiffre für die Verwüstung von Kulturland. Nun wird auch deutlich, wer der Besitzer ist: Das Zurückhalten des Regens ist nur Gott möglich.
Vers 7: Diejenigen, die in Vers 3 dazu aufgerufen wurden zu richten, erkennen nun, dass sie selbst die Angeklagten sind. Die Allegorie wird aufgelöst. Das urteilende Ende ist ein hebräisches Wortspiel: Gott erwartet משפט (gesprochen: mischpat – übersetzt: Rechtsspruch), doch Israel beging משפוח (gesprochen: mischpoach – übersetzt: Rechtsbruch). Gott verlangt Gerechtigkeit in der Gesellschaft (צדקה, gesprochen: zedaka), doch stattdessen musste er den Hilfreschrei der ungerecht Leidenden und Unterdrückten hören (צעקה, gesprochen: zaaka).