Es ist ein Geheimnis des Glaubens, dass gerade in scheinbarer Schwäche doch Stärke liegt. Und im Buch Jesaja wird die Folge drastisch ausgedrückt: Die Feinde, die den sich hingebenden Knecht Gottes leiden lassen, werden von Motten gefressen.
1. Verortung im Buch
Im Buch Jesaja gibt es vier sogenannte Gottesknechtlieder. In Jesaja 42,1-4 wird dieser Diener Gottes vorgestellt als jemand, der einen prophetisch-königlichen Auftrag hat: „Siehe, das ist mein Knecht, den ich stütze; das ist mein Erwählter, an ihm finde ich Gefallen. Ich habe meinen Geist auf ihn gelegt, er bringt den Nationen das Recht.“ In Jesaja 49,1-6 stellt der Knecht sich selbst den Völkern vor: „Hört auf mich, ihr Inseln, merkt auf, ihr Völker in der Ferne! Der HERR hat mich schon im Mutterleib berufen …“. Und seine Aufgabe für Israel ist klar definiert: „damit ich Jakob zu ihm [zu Gott] heimführe und Israel bei ihm versammelt werde.“ Das Schicksal des Gottesknechtes endet jedoch gemäß Jesaja 52,13-53,12 im Tod und im Grab: Er leidet stellvertretend für die Sünden des Volkes.
In dritten Gottesknechtlied (Jesaja 50,4-9) kommt das Wort „Knecht“ nicht vor, aber der folgende Vers 10 identifiziert den Sprechenden als den Gottesknecht, der gemäß den Versen 1-3 zusichert, dass kein Zweifel daran besteht: Gott handelt weiterhin liebend und rettend an Zion – die Gottesstadt wird nach dem Exil wieder restauriert werden.
2. Aufbau
Der Gottesknecht bekennt sich mit unerschütterlichem Vertrauen zu Gott (Verse 6-9), weil dieser ihn zum Propheten, zum Dienst am Wort Gottes, berufen hat. Geprägt ist das Lied durch eine vierfach wiederholte Bezeichnung Gottes als „mein Herr JHWH“. In seinem Tun dient der Knecht völlig seinem Herrn und versteht sich gemäß Versen 4-5 als dessen ergebener Schüler. Sein unerschütterliches Vertrauen zeigt sich in der Rahmung der zweiten Strophe, in der er am Anfang und am Ende wiederholt: „er wird mir helfen“.
3. Erklärung einzelner Verse
Verse 4-5: Der Knecht Gottes ist mit seinem Hören und seinem Reden vollends auf Gott ausgerichtet. Er ist von Gott mit einem Wortamt beauftragt. Er selbst hat keine „gelehrte Zunge“, sondern wie ein Schüler in der Antike wiederholt er immer wieder hörbar die Lehre seines Lehrers. Die Möglichkeit prophetisch zu sprechen ist eine Gabe, um diejenigen, die nicht mehr glauben, aufzurütteln und zu stärken. Der Knecht selbst, braucht – wie die Verbform im Hebräischen zeigt – nicht einen einmaligen Weckruf, sondern jeden Morgen aufs Neue wird sein Ohr „geweckt“, damit seine Zunge die Botschaft Gottes verkünden kann. Die Verbindung von Ohr und Zunge verdeutlicht den Knecht Gottes als Sprachrohr Gottes. Die Berufung des Gottesknechts wird als initiales Öffnen seiner Ohren beschrieben – er ist sozusagen ganz Ohr für Gott. Er hat sich der Botschaft Gottes nicht verweigert und seinen Auftrag ohne Murren angenommen. Wörtlich sagt er von sich: „Ich war nicht widerspenstig“ – und setzt sich damit in den direkten Kontrast zum Volk, das zum Beispiel im Buch Ezechiel als „Haus der Widerspenstigkeit“ verurteilt wird (siehe Ezechiel 2,8).
Vers 6: Gott hat dem Knecht die Zunge von Schülern gegeben und der Knecht gibt seine Rücken den Schlägen durch die Feinde hin. Entsprechend dem altorientalischen Denken bedeutet dies ein Schuldeingeständnis. Er gibt sich sozusagen geschlagen und er lässt sich demütigen. Das Ausreißen der Barthaare, dieses Männlichkeitssymbols, bedeutet eine Entmachtung und das Bespucken war damals wie heute eine Erniedrigung. Der Knecht gibt sich vollends in die Willkür seiner Gegner, in dem er ihnen seine Vorderseite und seine Rückseite zur Demütigung hinhält.
Vers 7: Doch das Leid des Knechtes steht im krassen Kontrast zu seinem Vertrauen auf Gott. Er gibt sich der Schändung hin, weil er gewiss ist, dass Gott ihn nicht zu Schande werden lässt. Im hebräischen Text zeigt sich das deutlich, da in den Versen 6 und 7 jeweils Worte von der Wurzel כּלם verwendet werden: „…ich barg mein Gesicht nicht vor Schändung … ich werde nicht zu schanden…“. So bejaht der Knecht sein Leiden als Willen Gottes. Durch das Leiden hindurch wird sich verdeutlichen, dass Gott sich auf die Seite des Geschlagenen geschlagen hat. So härtet das Leid den Knechten ab und er wird zu einem nicht bearbeitbaren Kieselstein.
Der Text mündet in den Versen 8 und 9, die ihn abschließen, aber nicht teil der Lesung sind:
"Er, der mich freispricht, ist nahe. Wer will mit mir streiten? Lasst uns zusammen vortreten! Wer ist mein Gegner im Rechtsstreit? Er trete zu mir heran. 9 Siehe, GOTT, der Herr, wird mir helfen. Wer kann mich für schuldig erklären? Siehe, sie alle zerfallen wie ein Gewand, das die Motten zerfressen." (Jesaja 50,8-9)
Der leidende Gottesknecht ruft nicht Gott als Richter an, sondern fordert seine Peiniger auf, ihn vor Gott anzuklagen. Er ist sich gewiss, dass sein rettender Gott räumlich sowie zeitlich nahe ist. In besonderer Weise verdeutlicht sich das Vertrauen des Gottesknechtes in der rhetorischen Frage: „Wer ist mein Gegner im Rechtsstreit?“ Im hebräischen Text steht wörtlich: „Wer ist mein Rechtsherr?“ oder man könnte auch übersetzen: „Wer ist der Herr über mein Recht?“ (מִֽי־בַ֥עַל מִשְׁפָּטִ֖י, gesprochen: mi ba’al mischpati). Kein anderer kann Herr des Rechts sein als Gott. Diese Gewissheit verdeutlicht auch durch das zweifache „siehe“ in Vers 9: Seine Rettung durch Gott ist im als erkennbare Wahrheit gewiss. Die Feinde werden gar nicht namentlich benannt („sie alle“), denn sie sind vergänglich. Der Vergleich mit den Kleidern, die von Motten zerfressen werden, ist drastisch. Wörtlich steht hier, dass die Motten nicht das Gewand fressen, sondern die namentlich nicht genannten Feinde.