Prophetische Worte können unbequem sein. Sie verkünden nicht nur Heil, sondern auch Unheil – und am Ende geht es dann selbst um das Leben des Propheten. Vor dem Hass gegen den Propheten Jeremia kann ihn am Ende nur noch ein Ausländer retten.
1. Verortung im Buch
Überheblichkeit und Ängstlichkeit der Regierenden prägt gemäß dem Buch Jeremia die Jahre vor dem Fall Jerusalems und der Exilierung des Volkes Israel nach Babylonien. Die letzten beiden Könige werden als Beweis einer langen Entwicklung, in der das Volk seiner letzten Chance auf Rettung verlustig geht, dargestellt. König Jojakim setzt sich in arroganter Weise über das Wort Gottes hinweg, ja er verbrennt es sogar (Jeremia 36). Und sein Nachfolger, König Zidkija ist schwach und unfähig (Jeremia 37-38). Sein Wankelmut wird besonders ersichtlich in der Geschichte, in der es für den Propheten Jeremia um Leben und Tod geht (Jeremia 36,1-13).
2. Aufbau
Über Leben und Tod Jeremias wird in dieser Erzählung in zwei Szenen entschieden. Verse 1-6 stellen den Angriff auf sein Leben dar. Die Erzählung beginnt mit den Worten:
„1 Schefatja, der Sohn Mattans, Gedalja, der Sohn Paschhurs, Juchal, der Sohn Schelemjas, und Paschhur, der Sohn Malkijas, hörten die Worte, die Jeremia zum ganzen Volk redete: 2 So spricht der HERR: Wer in dieser Stadt bleibt, der stirbt durch Schwert, Hunger und Pest. Wer aber zu den Chaldäern hinausgeht, der wird überleben; er wird sein Leben als Beute erhalten und am Leben bleiben. 3 So spricht der HERR: Diese Stadt wird ganz sicher dem Heer des Königs von Babel in die Hand gegeben werden und er wird sie erobern.“ (Jeremia 38,1-3)
„Vornehme“ des Volkes – so werden die in Vers 1 genannten Personen in Vers 4 beschrieben – hören die prophetischen Worte Jeremias. Die von ihnen vernommene Botschaft hatte Gott dem Propheten Jeremia bereits in Jeremia 21,9 aufgetragen. Es handelt sich also zweifellos für den Leser und die Leserin um Gottes Worte, die der Prophet verkündet. Gott hat seine Botschaft nicht verändert, der Prophet ist dieser Botschaft treu geblieben und sie ist der Grund, warum die Vornehmen nach dem Leben des Boten trachten und ihn umbringen wollen (Verse 4-6). Diesen hohen israelischen Beamten oder Fürsten wird der äthiopische Kämmerer Ebed-Melech gegenübergestellt. Er tritt beim König dafür ein, das Leben des Propheten zu retten (Verse 7-10). Und am Ende kann der Ausländer den Propheten Gottes retten:
„11 Ebed-Melech nahm die Männer mit sich und ging zum Palast, in den Raum unterhalb der Vorratskammer. Dort holte er Stücke von abgelegten und zerrissenen Kleidern und ließ sie an Stricken zu Jeremia in die Zisterne hinunter. 12 Dann sagte der Kuschiter Ebed-Melech zu Jeremia: Leg die Stücke der abgelegten und zerrissenen Kleider in deine Achselhöhlen unter die Stricke! Und Jeremia machte es so. 13 Nun zogen sie Jeremia an den Stricken hoch und brachten ihn aus der Zisterne herauf. Von da an blieb Jeremia im Wachhof.“ (Jeremia 38,11-13)
3. Erklärung einzelner Verse
Vers 4: Die Worte der Vornehmen zeigen eine zunehmende Dramatisierung im Verhältnis des Volkes zum Propheten. Bereits in Jeremia 26,8 hatte das Volk den Tod des Propheten aufgrund seiner Unheilsbotschaft gefordert. Dort traten einige der Vornehmen noch zu seinen Gunsten auf. Nun hat der Prophet keinen Fürsprecher mehr im Volk und unter dessen Eliten. Das Verlangen den Propheten tot zu sehen, wird im Hebräischen besonders stark formuliert, in dem ein Partikel verwendet wird (נָא, gesprochen: na), der der Forderung sprachlich und grammatikalisch Nachdruck verleiht. Die Anklage lautet: Wehrkraftzersetzung – wörtlich wird ihm vorgeworfen, dass er „die Hände schlaff macht“. Das hier verwendete hebräische Verb ist ein bewusstes Wortspiel des Autors, denn מְרַפֵּא (gesprochen: merape), kann auch bedeuten, dass der Prophet die Hände der Krieger „heilt“.
Vers 5: Bereits mit dem ersten Wort („siehe“) verweist der König weg von sich, hin auf den Propheten, den er den Vornehmen ausliefert. In seinen Worten ist er zugleich der Mächtige, der verfügt – und auch der Ohnmächtige, der seine Schwäche eingesteht und damit sein Handeln begründet.
Vers 6: Eine Zisterne hatte in der damaligen Zeit im Querschnitt die Form einer Birne, sodass es für jemanden der hingefallen war oder hineingeworfen wurde, kein Entkommen gab. In der Erzählung gibt es eine gewisse Spannung: Sie wollen ihn in die Zisterne werfen, seilen ihn dann aber ab. Wollen Sie ihn direkt umbringen oder nicht? Das fehlende Wasser verweist auf die bedrohliche Lage in der Stadt allgemein. Es gibt nicht nur kein Wasser, sondern im Schlamm droht der Prophet zu versinken.
Verse 7-8: Die Erzählung beginnt sozusagen neu, indem die ersten Worte des ersten Verses wiederholt werden: „und er hörte“. Nun wird der Kontrast zwischen den Vornehmen des Volkes und dem Ausländer aufgebaut. Ebed-Melech, dessen Name „Diener des Königs“ bedeutet gehört als Kämmerer zum Hof des Königs, stammt aber aus Kusch, der Region des heutigen Äthiopien.
Vers 9: Nach der Anrede verurteilt Ebed-Melech direkt das Handeln der Vornehmen als ein schlechtes/böses. Und während die Vornehmen abwertend von Jeremia als „dieser Mensch“ gesprochen hatten, nennt er die Vornehmen ebenso noch „diese Männer“. In seinen Worten verweist er nicht nur auf die todesnahe Situation des Propheten, sondern auch auf den in der Stadt herrschenden Hunger.
Vers 10: Der König, der zuvor den Propheten seinem Todesschicksal ausgeliefert hat, ist nun besorgt, dass Jeremia sterben könnte. Zidkija ist scheinbar ein Spielball in den Händen anderer (vgl. auch Jeremia 37,21). Der zuvor sich selbst als machtlos bezeichnende König sendet nun 30 Männer, um den Propheten zu retten.