Lesejahr B: 2023/2024

1. Lesung (Jer 31,7-9)

7Ja, so spricht der HERR:

Jubelt Jakob voll Freude zu / und jauchzt über das Haupt der Völker! Verkündet, lobsingt und sagt: /

Rette, HERR, dein Volk, den Rest Israels!

8Siehe, ich bringe sie heim aus dem Nordland / und sammle sie von den Enden der Erde, unter ihnen Blinde und Lahme, / Schwangere und Wöchnerinnen; / als große Gemeinde kehren sie hierher zurück. 9Weinend kommen sie / und in Erbarmen geleite ich sie. Ich führe sie an Wasserbäche, / auf ebenem Weg, wo sie nicht straucheln.

Denn ich bin Vater für Israel / und Efraim ist mein Erstgeborener.

Überblick

Vaterliebe führt zurück in die Heimat – zu ihm; und das ist ein Grund zur Freude und zum Gebet.

 

1. Verortung im Buch

„Trostbüchlein“ – so werden die Kapitel 30 und 31 im Buch Jeremia genannt. Ohne direkten zeitgeschichtlichen Bezug beanspruchen sie eine überzeitliche Gültigkeit. Sie sind direktes Gotteswort und verkünden durch sechs Gedichte und einen erzählenden Rahmen, dass es umwälzende Veränderungen bedarf, damit der Zustand des Heils wieder erreicht werden kann. Auch wenn die Kapitel aus sich heraus keine zeitliche Verortung angeben, so stehen sie im Buchkontext zwischen der Belagerung und Einnahme Jerusalem im Jahr 597 v. Chr. (siehe Jeremia 29) und der folgenden fast vollständigen Zerstörung im Jahr 588 v. Chr. (siehe Jeremia 32). In dieser größten Katastrophe der alttestamentlichen Geschichtsschreibung wirken Jeremia 30-31 wie ein „fester Anker der Hoffnung“ (Carl Friedrich Keil). In Jeremia 30-31 eröffnet dieses Prophetenbuch die Perspektive, dass Heil nach dem Leid und Gericht möglich ist.

Der in Vers 7 erklingende Aufruf zur Gebetsbitte zeigt einen deutlichen Wandel im Buch Jeremia an. In Jeremia 7,16 spricht Gott zum Propheten: „Du aber, bete nicht für dieses Volk! Fang nicht an, für sie zu flehen und zu bitten! Dränge mich nicht! Denn ich werde dich nicht erhören.“; dann in Jeremia 29,12 gibt es wieder eine Hoffnung auf Gebetserhörung: „Ihr werdet mich anrufen, ihr werdet kommen und zu mir beten und ich werde euch erhören.“ – und nun ruft der Prophet oder Gott selbst eine undefinierte Gruppe dazu auf, zu Gott zu rufen: „Rette, HERR, dein Volk, den Rest Israels!“

 

2. Aufbau

Wer sagt was? Diese Frage ist in der Auslegung dieser Verse umstritten. Nach der Ankündigung der Gottesrede („Ja, so spricht der HERR“), folgt in Vers 7 ein Gebets- und Jubelaufruf und erst in Vers 8 erklingt das göttliche „Ich“. So ist häufig der Vorschlag zu finden, dass dieser Aufruf noch zu den Worten des Propheten gehören, bzw. bereits eine Konsequenz des erst folgenden Gotteswortes sind. Dass nach der Ankündigung der Gottesrede jedoch schon in Vers 7 diese anfängt, ist die einfachere Erklärung – der Prophet hätte ja ansonsten leicht die Ankündigung des Gotteswortes erst an das Ende von Vers 7 stellen können. 

Gerahmt ist die Rede Gottes der Nennung Jacobs und Israels in Vers 7 und Ephraims in Vers 9 – wer damit jeweils genau gemeint ist, wird in der Erklärung der Verse zu klären sein. Das in den Versen 8 und 9 beschriebene Handeln Gottes wird durch das hebräische Verb בוא in verschiedenen Formen strukturiert, das sich in der deutschen Übersetzung hinter „ich bringe sie heim“ und „weinend kommen sie“ verbirgt. 

 

3. Erklärung einzelner Verse 

Vers 7: Fünf Aufforderung erklingen in diesem Vers. Zu überschäumender Freude wird aufgerufen, wobei nicht klar ist, wer angesprochen wird. Der Jubel soll über Jakob erklingen – dieser Personenname („Gott schützt“) steht im Alten Testament häufig als Volksname für das Nordreich Israel, wird aber nach dessen Zerstörung 722 v.Chr. auch auf das Südreich Juda übertragen. Der in Vers 9 verwendete Name „Ephraim“ – einer der zwölf Stämme Israel – steht jedoch als Volksname synonym nur mit den Nordreich, wodurch anzunehmen ist, dass in den Versen 7-9 ein Orakel über das exilierte Nordreich Israel ausgesprochen wird. Jakob wird sodann als „Haupt der Völker“ (oder: „Erste der Völker“) identifiziert; in Psalm 18,44 trägt König David diesen Titel – im hinteren Teil des Prophetenbuches wird dann Babylon – die Babylonier hatten Jerusalem zerstört und die Judäer exiliert – als „letzte unter den Völkern“ verdammt. Dass nun im weiteren Verlauf von Vers 7 auf den Jubel die Aufforderung zur einer Gebetsbitte („rette“) erklingt, ist auf den ersten Blick verwirrend. So ist es auch nicht verwunderlich, dass sowohl in Qumran als auch in der antiken, griechischen Übersetzung, der Septuaginta, andere Textversionen zu finden sind, z.B. „Der Herr rettet sein Volk, den Rest Israels.“ (LXX) – diese Textversion lässt sich klar als Anpassung an den Kontext erkennen: Aus dem Gebetsruf ist der Jubelruf geworden. Vielleicht, wenn zum Beispiel die Angeredeten die Bewohner des Südreiches vor oder nach ihrer Exilierung sind, erklingt hier die Bitte um die Wiederherstellung ganz Israels (vgl. Jeremia 6,9). 

Vers 8: Nun erst wird der Grund zur Freude und das Ziel der Bitte offenbart. So, wie es in der Darstellung des Buches Jeremia Gott war, der über Israel einen Feind aus dem Norden brachte (Jeremia 6,22), so führt er nun sein Volk aus dem Exil im Norden und den Enden der Welt wieder zurück in die Heimat. Aus den „Resten Israels“ gemäß der Gebetsbitte in Vers 7 wird nun eine „große Gemeinde“. In seinen Worten verortet sich Gott zudem: Er wird sein Volk „hierher“ führen, d.h. zurück in die Heimat, vermutlich nun nach Jerusalem.  Die Betonung, dass die ohne Hilfe reiseunfähigen Blinden, Lahmen, Schwangeren und Wöchnerinnen zeigt, dass nicht nur Gottes Wohlwollen und Sorge, sondern dass es sich um keinen Kriegszug, sondern ein Wunder Gottes handelt. 

Vers 9: „Weinen“ beschreibt viele Dimensionen: Freude, Dankbarkeit und auch Umkehr – im Alten Testament ist es eine Beziehungshandlung, mit der sich das Volk wieder an seinen Gott hängt. Gottes spiegelbildliches Verhalten ist seine Barmherzigkeit, die sich in der Versorgung, durch einen „geraden Weg“ und dem „ungefährdeten Gehen“ zeigt. Dass das Volk auf diesem Weg nicht „straucheln“ wird, hat auch eine tiefere Bedeutung: Es wird nicht in der Nachfolge Gottes scheitern. Warum? Weil Gott sich seines Volkes als dessen Vater annimmt. In dieser Begründung klingt die Zusage Gottes an David an, über dessen Nachfolger auf dem Thron Gott verheißt: „Ich werde für ihn Vater sein“ (2 Samuel 7,14); und die Beschreibung Ephraims als Erstgeborener liest sich intertextuelle zusammen mit der Bezeichnung ganz Israels als Erstgeborener Gottes in Exodus 4,22. Die Betonung der Vaterliebe und die Bezeichnung als Erstgeborener verdeutlicht die auserwählende und unverdiente Zuwendung Gottes.

Auslegung

Gott lässt sich bitten, obwohl er gerade erst zum Jubel aufgerufen hat. Dies verdeutlicht im vorliegenden Orakel, dass er auch Andere dazu auffordert, sich für das Schicksal seines Volkes zu engagieren. Ja, selbst die Rettung seines Volkes ist ein gemeinsames Handeln: Gott bringt es heim, aber das Volk muss selbst auf dem von Gott bereiteten Weg „kommen“. Das Handeln des Volkes ist nun aber umfangen von der Vaterliebe Gottes, der den Weg ebnet. Die Grundlage des Orakels ist somit das Wunder Gottes, das er bewirkt – aber an dem er Andere in der Entstehung teilhaben lässt.  

Kunst etc.

Gott als Vater ist ein in der Kunst vertrautes Bild, in dem sich so manches persönliches Gottesbild widerspiegelt. Der schon ergraute, gütig blickende alte Herr, der wohlwollend die Erde behütet – doch bereits im eigenen Erleben der Menschen sind „Väter“ komplexere Gestalten; und so ist es auch im Buch Jeremia. Die Vaterliebe führt das Volk Gottes zurück in die Heimat, aber es ist eben auch dieser „Vater“ der zuvor sein Volk durch das Herbringen eines feindlichen Volkes ins Exil und in die Vertreibung geführt hat! Und wenig dem romantischen Ideal eines Vaters entsprechend spricht Gott in Jeremia 6,21: „Siehe, ich lege diesem Volk Hindernisse in den Weg, / sodass sie darüber straucheln. Väter und Söhne zusammen, / einer wie der andere geht zugrunde.“ 

Linker Seitenaltar in der Pfarrkirche St. Gordianus und Epimachus, Aitrach, Landkreis Ravensburg; fotografiert von Andreas Praefcke. Lizenz: CC-BY 3.0.
Linker Seitenaltar in der Pfarrkirche St. Gordianus und Epimachus, Aitrach, Landkreis Ravensburg; fotografiert von Andreas Praefcke. Lizenz: CC-BY 3.0.