Die Hirten werden verurteilt. Gott wirkt als wahrer Hirte für sein Volk, und vertraut dann doch wieder auf (neue) menschliche Hände, um seine Herde in Sicherheit zu weiden.
1. Verortung im Buch
Die Verurteilung der israelitischen Könige durch den Propheten Jeremia aus den beiden vorherigen Kapitel findet in Jeremia 23 ein Ende mit Hoffnung. Das in Jeremia 22,30 verkündete definitive Ende für den letzten israelitischen König („So spricht der HERR: Schreibt diesen Mann als kinderlos ein, als Mann, der in seinem Leben kein Glück hat! Denn keinem seiner Nachkommen wird es glücken, sich auf den Thron Davids zu setzen und wieder über Juda zu herrschen“), ist doch noch nicht der Schlusspunkt für das Haus Davids und das Volk Gottes.
2. Aufbau
Auch wenn der Abschnitt mit einem „Wehe!“-Ruf beginnt, so reden die Verse 1-8 in drei Sprüchen über die heilvolle Zukunft Israel nach der Katastrophe des Exils. In den Versen 2-4 werden die zukünftigen Hirten, von den vergangenen, bösen, angeklagten Hirten unterschieden. Das am Ende anklingende Thema der Rückkehr aus dem Exil wird dann in den Versen 7-8 nochmals aufgenommen. Dazwischen steht die Ankündigung eines neuen Herrschers aus dem Hause Davids (Verse 5-6).
3. Erklärung einzelner Verse
Verse 1-2: In der Umwelt Israels war es in alttestamentlicher Zeit üblich, dass göttliche und menschliche Herrscher als Hirten glorifiziert wurden. Im babylonischen Pantheon sagen selbst die Götter über den Gott Marduk: „möge er alle Götter weiden wie eine Herde“. Das Bild des Hirten steht für jemanden, der sich um die ihm Anvertrauten sorgt, kümmert und bemüht. Eine Eigenheit des Alten Testamentes ist es jedoch im Plural von Hirten zu reden und damit die gesamte politische Führung zu bezeichnen. Im Alten Testament werden große Führungsgestalten wie Mose und David nicht nur metaphorisch als Hirten bezeichnet, sondern sie waren auch Hirten, bzw. wurden für ihr Amt von den Hirtenfeldern berufen: „und er [= Gott] erwählte David, seinen Knecht; er holte ihn weg von den Hürden der Schafe, von den Muttertieren nahm er ihn fort, damit er Jakob weide, sein Volk, und Israel, sein Erbe.“ (Psalm 78,70-71). Auch Gott wird im Alten Testament immer wieder als der ideale Hirte seines Volkes dargestellt: „Wie ein Hirt weidet er seine Herde, auf seinem Arm sammelt er die Lämmer, an seiner Brust trägt er sie, die Mutterschafe führt er behutsam.“ (Jesaja 40,11).
Der Vorwurf gegen die bisherigen Hirten Israel ist bei Jeremia ein zweifacher – beide Male ausgedrückt mit einem Partizip, um das andauernde Versagen zu verdeutlichen: (1.) Sie haben das Volk zugrunde gerichtet. (2.) Sie sind verantwortlich dafür, dass das Volk zerstreut, d.h. exiliert wurde. Der zweite Vorwurf wird noch durch das Wort „verstreut“ verstärkt: Die Könige haben mit voller Absicht, das Volk zur Vertreibung geführt. Das eigentlich Urteil über sie wird anhand eines Wortspiels formuliert. Sie haben sich nicht um das Volk „gekümmert“ (פקד, gesprochen: pakad), und darum wird sich nun Gott um die Hirte „kümmern“ (פקד), das heißt, er wird sie heimsuchen.
Verse 3-4: Nun – im Kontrast zu den Versen 1-2 – kündigt Gott sein Hirtenhandeln an; und dies mit einem betonten „ich“. Das dezimierte Volk wird nicht nur aus dem Exil zurückgeführt werden, sondern Gott wird es auch wieder mehren (vgl. Gen 1,28). Während zuvor die Zerstreuung des Volkes als Schuld der Hirten, bzw. Könige angeklagt wurde, bekennt sich nun Gott dazu. Es bleibt die Schuld der Führer des Volkes, dass es dazu gekommen ist, aber in der Zerstreuung zeigt sich zugleich Gottes Handeln – das Unheil, das er nun in Heil wandelt. Trotz der schlechten Erfahrung wird Gott das Hirtenamt jedoch wieder in menschliche Hände legen. In der damit einhergehenden Verheißung wird das Wort פקד aus Vers 2 wiederaufgenommen. Man könnte auch übersetzen, dass Gott seine Herde fortan nicht mehr strafend heimsuchen wird; gemeint ist hier jedoch wohl die Nebenbedeutung „verloren gehen“: Das Volk wird nicht mehr in die Irre geführt werden.
Vers 5: Ein Spross ist ein pflanzliches Bild für wachsendes und fruchtbares Leben, das neu entsteht. Es wird damit nicht nur ein Nachfahre König Davids auf dem Thron verheißen, sondern ein neues Aufblühen der davidischen Linie. Der Spross steht in direkter Kontinuität zu David, dem bedeutendsten Königs Israels. Dieser verheißene Neuanfang dient jedoch nicht zuvorderst dem Erhalt der davidischen Königslinie, sondern der Gerechtigkeit, die durch den gerechten Spross (wörtlich: „Spross der Gerechtigkeit“, צמח צדקה, gesprochen: zemach zdaka) wiedererrichtet werden wird.
Vers 6: Die Durchsetzung der göttlichen Gerechtigkeit durch den Spross Davids dient der Sicherheit des israelischen Südreichs Juda und dessen Hauptstadt. Indem Gott sein Heilswort verwirklichen wird, verwandelt sich Jerusalem zum lebendigen Zeugnis für Gottes treues Handeln. Der zukünftige Ehrenname des Volkes Israel oder des Sprosses Davids „Der HERR ist unsere Gerechtigkeit“ verdeutlicht aber auch, dass dem Handeln Gottes ein eigenes Tun seines Volks und des Königs zu entsprechen hat (vergleiche Jeremia 33,8-9).