Der Gottlose übervorteilt den Gerechten. Wer aber beständig an Gottes Zusage festhält und dementsprechend lebt, wird nicht von dem Verhalten der Gottlosen in die Irre geführt. Ist dies eine Antwort auf die ungerechte Welt, die der Prophet Habakuk beklagt?
1. Verortung im Buch
Der Beginn des Buches Habakuk ist radikal. Nicht wird von der Berufung des Propheten erzählt, sondern es erklingt direkt seine Anklage gegen Gott. Der Prophet wird also nicht dazu berufen, das Wort Gottes zu verkünden, sondern er erhebt sein eigene Stimme gegen seinen Gott. Er klagt über die in Juda herrschende Gewalt (Habakuk 1,2-4), worauf Gott noch mehr Gewalt, nun durch die Babylonier, die das Gericht über Juda bringen werden, ankündigt (Habakuk 1,5-11). Im Angesicht dieser maßlosen Gewalt erklingt die Anklage Habakuks gegen Gott noch stärker (Habakuk 1,12-2,1), worauf er dann schließlich von Gott eine tröstliche Antwort erhält (Habakuk 2,2-5).
2. Aufbau
Der Lesungstext verbindet die Klage am Anfang des Buches Habakuks direkt mit der positiven Antwort Gottes darauf und kreiert somit einen neuen Textzusammenhang. Auch wird jeweils der letzte Vers der Klage des Propheten (Habakuk 1,4) und der Antwort Gottes (Habakuk 2,5) ausgelassen (siehe dazu die Auslegung) . So wird die Lebenszusage für den Gerechten stärker in den Mittelpunkt gestellt.
Der erste Abschnitt ist durch die zwei anklagenden Fragen (Wie lange? Warum?) strukturiert. Sie kreisen, um die angesprochene „Gewalt“. Die endgültige, allgemeingültige Antwort Gottes wird dann in Habakuk 2,4 gegeben. Die vorhergehenden Worte Gottes richten sich an den Propheten und signalisieren die Gewissheit der folgenden Antwort.
3. Erklärung einzelner Verse
Kapitel 1, Vers 2: Gott wird in der Anklage des Propheten namentlich angesprochen. Die klagende Frage hebt hervor, dass er seit Langem zu Gott ruft, dieser ihn aber nicht erhört. Damit wird die Erfahrung Israels aus dem Exodus konterkariert. Dort hatte sich Gott als der hörende und rettende Gott erwiesen (siehe Deuteronomium 26,5-10). Gott hört und hilft nicht. Der Prophet ruft um Hilfe und weist auf Gewalt– doch der Ruf verhallt im Nichts. Auf welche Art von Gewalt er hinweist wird in den beiden folgenden Versen verdeutlicht.
Vers 3: Die Warum-Frage ist typisch für die alttestamentliche Klage. Das hebräische Wort לָמָה (gesprochen: lama) richtet sich dabei nicht in die Vergangenheit, sondern in die Zukunft im Sinne der Frage „Wozu?“. Und mit dieser Frage thematisiert der Prophet ein düsteres Gottesbild: Gott lässt die Unterdrückung zu; Gott sieht tatenlos zu. Der Kläger findet sich wieder in einer scheinbar von Gott gewollten Welt, die geprägt von Bösem ist.
Kapitel 2, Vers 2: Der Beginn dieses Verses klingt wie einer dieser typischen erzählenden Sätze, der eine direkte Rede einleitet. Aber dass Gott „antwortet“ hat eine hohe Bedeutung, da ja zuvor der Prophet geklagt hatte, dass Gott nicht hört und nichts tut. Und in seinen ersten Worten betont Gott direkt die grundlegende Bedeutung seiner folgenden Antwort. Der Prophet soll wie Mose etwas aufschreiben, bzw. beurkunden (vgl. Deuteronomium 1,5 und 27,8). Die Antwort Gottes ist nicht situativ vergänglich, sondern dauerhaft gültig.
Vers 3: Die niedergeschriebene Vision Habakuks gilt als die Realität, egal, was der Prophet auch in der Welt erlebe und sehe. Nun wird (zweifach) begründet, warum die Vision niedergeschrieben werden muss. Die Verwirklichung wird sich verzögern, aber sie wird sich auf jeden Fall vollziehen. Der Prophet und der Leser werden damit zu einem Leben in Erwartung, das das Handeln in der Gegenwart bestimmt, aufgefordert.
Vers 4: Während zuvor nur von der Vision geredet wurde, aber ihr Inhalt nicht dargelegt wurde, kommt nun die Aufforderung zum Sehen. Für den Leser und die Leserin gibt es hier ein Lebensprinzip zu erkennen, das mit dem hebräischen Wort אֱמוּנָה (gesprochen: emunah) formuliert ist. Dessen Grundbedeutung ist „Festigkeit/Beständigkeit“. Hier gibt es zwei Lesemöglichkeit, wie man das Wort in seinem Kontext verstehen kann. Entweder ist die Vision beständig – Gott sagt also zu, dass sein Wort unveränderlich ist –, oder aber der Gerechte kann sich seines Lebens sicher sein aufgrund seiner Beständigkeit. Was bedeutet Letzteres? Der Vers beinhaltet eine Gegenüberstellung: Derjenige, der nicht rechtschaffen ist, steht dem Gerechten gegenüber. So verdeutlicht der Anfang des Verses, dass derjenige, der ein Gerechter ist, dies nicht nur aufgrund einer Haltung, sondern aufgrund seines Verhaltens ist. Woran sich dieses Verhalten auszurichten hat, hatte der Prophet Habakuk bereits in seiner Klage aufgezeigt: „… die Weisung [ist] ohne Kraft und das Recht setzt sich nicht mehr durch. Ja, der Frevler umstellt den Gerechten und so wird das Recht verdreht.“ (Habakuk 1,4 – siehe Auslegung)