Der, der Gutes tut, soll Gutes erfahren. Und dem Bösen, soll sein Tun vergolten werden. Diese moralische Forderung wird von der Realität karikiert. Es gibt scheinbar keinen Unterschied zwischen dem Frommen und dem Frevler – aber, Gott, willst du wirklich den Gerechten mit dem Gottlosen hinraffen?
1. Verortung im Buch
Nachdem Gott bei dem gastfreundlichen Abraham eingekehrt war (Genesis 18,1-16 – siehe die Auslegung der Lesung vom 16. Sonntag im Jahreskreis, Lesejahr C), gehen Abraham und Gott gemeinsam ein Stück des Weges nach Sodom. Gott hat entschieden, als Richter der Welt diese Stadt samt seiner Bevölkerung zu vernichten – denn wie der Leser und die Leserin schon vorher im Buch Genesis erfahren haben: „Die Männer von Sodom aber waren sehr böse und sündigten vor dem HERRN.“ (Genesis 13,13). Das Gespräch auf dem Weg zwischen Abraham und Gott verhindert nicht die im folgenden Kapitel erzählte Vernichtung der Stadt. Nur Lot, seine Frau und seine beiden Töchter werden aus der Stadt gerettet.
2. Aufbau
Zum Verständnis des Gesprächs zwischen Abraham und Gott ist der in den Versen 17-19 erzählte göttliche Gedankengang eine notwendige Voraussetzung. Der Ausgangspunkt ist ein in eine Frage gekleideter Entschluss: „Soll ich Abraham verheimlichen, was ich tun will?“ (Vers 17). Die Einsicht in Gottes Handeln wird doppelt begründet: (1.) Die zuvor bestärkten Verheißungen an Abraham versetzen ihn aus der Sicht Gottes in eine besonders würdevolle Stellung. Gott plant seine Heilsgeschichte mit ihm und daher soll er Einblick in sein Handeln gewinnen dürfen. (2.) Abraham ist als Erzvater von Gott auserwählt Israel auf dem Weg der Wahrheit und Gerechtigkeit ein Vorbild zu sein. Er ist nicht nur der Vater des Glaubens, sondern auch des Handelns gemäß Recht und Gerechtigkeit. In dem folgenden Gespräch verdeutlicht sich, wie es um Gottes Gerechtigkeit steht. Daher müssen zum Verständnis des Lesungstextes die vorhergehenden Verse 17-19 vorausgesetzt werden. In ihnen gibt Gott dem Leser und der Leserin seine Absicht preis, Sodom vernichten zu wollen und in ihnen ist das Thema „Gott als Richter der Welt“ grundgelegt:
16 Die Männer erhoben sich von dort und schauten auf Sodom hinab. Abraham ging mit ihnen, um sie zu geleiten. 17 Da sagte der HERR: Soll ich Abraham verheimlichen, was ich tun will? 18 Abraham soll doch zu einem großen, mächtigen Volk werden, durch ihn sollen alle Völker der Erde Segen erlangen. 19 Denn ich habe ihn dazu ausersehen, dass er seinen Söhnen und seinem Haus nach ihm gebietet, den Weg des HERRN einzuhalten und Gerechtigkeit und Recht zu üben, damit der HERR seine Zusagen an Abraham erfüllen kann.
Daraufhin teilt Gott Abraham mit, dass er Sodom vernichten will, beziehungsweise deren Schuld überprüfen wird (Verse 20-21) und am Ende sagt Gott Abraham zu, dass er unter bestimmten Bedingungen Sodom nicht vernichten wird (Verse 22-32). Auf die Fragen Abrahams ist die Antwort Gottes immer die gleiche.
3. Erklärung einzelner Verse
Verse 20-21: In den Worten Gottes erklingt noch kein Vernichtungsurteil gegen Sodom an, wie Gott es in seinen Gedanken in Vers 17 schon andeutet. Die Gesprächseröffnung stellt Gott als den Richter der Welt vor der Urteilsverkündung dar und Abraham tritt im Folgenden vor der Verfahrenseröffnung als Fürbitter auf – nicht um willen der Menschen in Sodom, sondern um willen der Gerechtigkeit Gottes (siehe Auslegung).
Verse 23-32: Der durch die Verheißung gewürdigte Abraham erhebt den Einwand gegen den ihn in der Verheißung reich beschenkenden Gott. Dies verleiht der folgenden Frage nach der Gerechtigkeit Gottes ein besonderes Gewicht. Der Verlauf des Gesprächs lässt den Leser und die Leserin fragen: Wie weit lässt sich Gott runterverhandeln? Dieser Spannungsbogen ist jedoch nicht im Text angelegt. Die Nennung einer Zahl von Gerechten, die zur Verschonung der Stadt führen würde, geschieht durch Abraham. Und in seinen weiteren Fragen senkt Abraham diese Zahl immer weiter und bei jeder genannten Zahl stimmt Gott zu. Nicht Gottes Entscheidung ändert sich, sondern der Mut Abrahams. Die Aussage dabei ist nicht, dass die Gerechten in der Stadt eine sühnende Funktion für die Gemeinschaft haben, sondern dass um ihretwillen der Vernichtungsbeschluss gegen die Stadt aufgehoben wird. Merkwürdig scheint, dass Abraham mit der Zahl 10 sein Nachfragen beendet. Ist es gerecht wenn neun Gerechte mit einer sündigen Stadt zusammen dahingerafft werden? Die folgende Erzählung in Gen 19 verdeutlicht, dass, wenn nur wenige einzelne Gerechte in einer Stadt anwesend sind, die Stadt nicht verschont wird, sondern die Gerechten gerettet werden.
Vers 23: Das in diesem Vers verwendete Verb ספה (gesprochen: sapa) bedeutet „hinraffen“ und wird dann ebenso im folgenden Kapitel in den Vers 15 verwendet: „Als die Morgenröte aufstieg, drängten die Engel Lot zur Eile und sagten: Auf, nimm deine Frau und deine beiden Töchter, die hier sind, damit du nicht wegen der Schuld der Stadt hinweggerafft wirst!“ (siehe auch Vers 17).