Alles verlassen, gesegnet werden und Segen bringen – damit beginnt die Geschichte Gottes mit Abraham.
1. Verortung im Pentateuch
Die Bibel beginnt mit einem doppelten Verlust der Heimat. Zuerst werden Adam und Eva aus dem Paradies verjagt und die Menschen finden ihre neue Heimat in der Welt. Sprachen und Länder entstehen. Aus dieser neuen Ordnung wird Abraham direkt wieder herausgerufen: „Der Herr sprach zu Abraham: Geh fort aus deinem Land, aus deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich Dir zeigen werde“ (Genesis 12,1). Er soll sein Sprach- und Traditionsumfeld, in dem er lebt, verlassen. Er soll den Ort seiner Identität und die Sicherheit, die durch seine verwandtschaftlichen Verhältnisse gegeben ist, verlassen. Er folgt dem Ruf Gottes und gelangt so in das verheißene Land, in dem er selbst zu seinen Lebzeiten keine Heimat finden, sondern ein Fremder bleiben wird (Genesis 17,8). Als es darum geht, für Isaak, den Sohn Abrahams und Sarahs, eine Frau zu finden, wird ein Knecht zurück zur Familie Abrahams geschickt (Genesis 24, 1–5). Das verheißene Land wird nicht zur Heimat der Erzeltern. Der weitere Weg ihrer Nachkommenschaft führt nach Ägypten, wo sie als Fremde versklavt und zugleich zum Volk Israel werden. Gott befreit sein Volk und verheißt ihm erneut, wie schon den Erzeltern, das Land Kanaan als ihre Heimat. Das Leben in diesem Land ist jedoch an Pflichten gebunden, die Gott auf der Wüstenwanderung offenbart und in denen sich unter anderem die Erfahrung der Fremdheit und der Heimatlosigkeit widerspiegeln: „Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid selbst Fremde in Ägypten gewesen“ (Levitikus 19, 34). Die Fremden, die nicht zum Volk Israel gehören und nicht an den Gott Israels glauben, werden dem Einheimischen nicht nur gleichgestellt, sondern sie stehen zudem auch noch unter dem besonderen Schutz des Gesetzes und ihre Versorgung ist gesetzlich abgesichert (Levitikus 19,10; 23,22).
2. Aufbau
Gott gebietet (Vers 1) und Abram führt aus, was Gott ihm befohlen hat (Vers 4a). Dazwischen liegt die Betonung auf der gegebenen Verheißung (Verse 2-3).
3. Erklärung einzelner Verse
Verse 1.4a: Es wird keine Gotteserscheinung beschrieben. Die göttliche Offenbarung wird nicht hervorgehoben; sondern im Mittelpunkt steht das Gotteswort als Ausgangspunkt. Es geht um einen dreifachen Neuanfang – ohne die alte Heimat, ohne den Schutz des Vaterhauses und ohne die helfenden familiären Beziehungen. Dies ist ein Herausrufen in die unbekannte Fremde, denn in dem Gotteswort wird der Zielort nicht genannt. Und ohne ihn zu erfragen bricht Abram, der später zu Abraham werden wird (Gen 17), auf (Vers 4a).
Verse 2-3: Ein Segen ist nicht nur ein unmittelbar wirksames Wort, sondern ein stetiger Prozess – in diesem Fall übersteigt er sogar die Lebenszeit des Gesegneten. Und weil Abraham gesegnet wird, kann er auch ein Segen für andere werden. Was dies genau bedeutet, erklärt Vers 3. Nach der Verheißung von Ruhm und großer Nachkommenschaft kommt der Aspekt des Schutzes in den Blick. Das Verhalten anderer Menschen zu Abraham soll bestimmend werden für das Verhalten Gottes zu ihnen. Das Ende der Verheißung ist mehrdeutig und es gibt verschiedene Übersetzungsmöglichkeiten: „gesegnet werden in dir“ oder „in dir sollen Segen finden“ oder „in dir sollen sich segnen“. Um diese Aussagen zu verstehen ist ein Blick auf Psalm 72,17 hilfreich: „Mit ihm [= dem König] wird man sich segnen, ihn werden seligpreisen alle Völker.“ Vergleichbar wird aus Abraham, bzw. seiner Nennung für die Völker Segen fließen (siehe Auslegung).
Vers 4: Abrahams Antwort auf diese Verheißungen, die ihm den Beistand Gottes zusichern, ist das simple Verlassen Harans. Der Text stellt lapidar fest: „Da ging Abram, wie der Herr ihm gesagt hatte, und mit ihm ging auch Lot“ (Gen 12,4). Und am Ende des nächsten Verses heißt es ebenso lapidar: „Sie zogen aus, um in das Land Kanaan zu gehen, und sie kamen in das Land Kanaan“ (Gen 12,5). In Kanaan zieht Abraham bis Sichem und erst dort, mitten im Land, ergeht die Landverheißung an ihn. Im Unterschied zu Gen 12,1 erfolgt nun eine Verheißung im Rahmen einer Epiphanie, die die Transzendenz Gottes und im Text die Bedeutung der Landverheißung betont. Gott lässt Abraham das Land sehen bzw. erkennen, indem er sich sehen lässt (Gen 12,7).