Lesejahr A: 2022/2023

1. Lesung (Gen 12,1-4a)

1 Der HERR sprach zu Abram: 

Geh fort aus deinem Land, aus deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde! 

2 Ich werde dich zu einem großen Volk machen, dich segnen und deinen Namen groß machen. Ein Segen sollst du sein. 3 Ich werde segnen, die dich segnen; wer dich verwünscht, den werde ich verfluchen. Durch dich sollen alle Sippen der Erde Segen erlangen. 

4 Da ging Abram, wie der HERR ihm gesagt hatte, …

Überblick

Alles verlassen, gesegnet werden und Segen bringen – damit beginnt die Geschichte Gottes mit Abraham.

 

1. Verortung im Pentateuch

Die Bibel beginnt mit einem doppelten Verlust der Heimat. Zuerst werden Adam und Eva aus dem Paradies verjagt und die Menschen finden ihre neue Heimat in der Welt. Sprachen und Länder entstehen. Aus dieser neuen Ordnung wird Abraham direkt wieder herausgerufen: „Der Herr sprach zu Abraham: Geh fort aus deinem Land, aus deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich Dir zeigen werde“ (Genesis 12,1). Er soll sein Sprach- und Traditionsumfeld, in dem er lebt, verlassen. Er soll den Ort seiner Identität und die Sicherheit, die durch seine verwandtschaftlichen Verhältnisse gegeben ist, verlassen. Er folgt dem Ruf Gottes und gelangt so in das verheißene Land, in dem er selbst zu seinen Lebzeiten keine Heimat finden, sondern ein Fremder bleiben wird (Genesis 17,8). Als es darum geht, für Isaak, den Sohn Abrahams und Sarahs, eine Frau zu finden, wird ein Knecht zurück zur Familie Abrahams geschickt (Genesis 24, 1–5). Das verheißene Land wird nicht zur Heimat der Erzeltern. Der weitere Weg ihrer Nachkommenschaft führt nach Ägypten, wo sie als Fremde versklavt und zugleich zum Volk Israel werden. Gott befreit sein Volk und verheißt ihm erneut, wie schon den Erzeltern, das Land Kanaan als ihre Heimat. Das Leben in diesem Land ist jedoch an Pflichten gebunden, die Gott auf der Wüstenwanderung offenbart und in denen sich unter anderem die Erfahrung der Fremdheit und der Heimatlosigkeit widerspiegeln: „Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid selbst Fremde in Ägypten gewesen“ (Levitikus 19, 34). Die Fremden, die nicht zum Volk Israel gehören und nicht an den Gott Israels glauben, werden dem Einheimischen nicht nur gleichgestellt, sondern sie stehen zudem auch noch unter dem besonderen Schutz des Gesetzes und ihre Versorgung ist gesetzlich abgesichert (Levitikus 19,10; 23,22).

 

2. Aufbau

Gott gebietet (Vers 1) und Abram führt aus, was Gott ihm befohlen hat (Vers 4a). Dazwischen liegt die Betonung auf der gegebenen Verheißung (Verse 2-3).

 

3. Erklärung einzelner Verse

Verse 1.4a: Es wird keine Gotteserscheinung beschrieben. Die göttliche Offenbarung wird nicht hervorgehoben; sondern im Mittelpunkt steht das Gotteswort als Ausgangspunkt. Es geht um einen dreifachen Neuanfang – ohne die alte Heimat, ohne den Schutz des Vaterhauses und ohne die helfenden familiären Beziehungen. Dies ist ein Herausrufen in die unbekannte Fremde, denn in dem Gotteswort wird der Zielort nicht genannt. Und ohne ihn zu erfragen bricht Abram, der später zu Abraham werden wird (Gen 17), auf (Vers 4a).

Verse 2-3: Ein Segen ist nicht nur ein unmittelbar wirksames Wort, sondern ein stetiger Prozess – in diesem Fall übersteigt er sogar die Lebenszeit des Gesegneten. Und weil Abraham gesegnet wird, kann er auch ein Segen für andere werden. Was dies genau bedeutet, erklärt Vers 3.  Nach der Verheißung von Ruhm und großer Nachkommenschaft kommt der Aspekt des Schutzes in den Blick. Das Verhalten anderer Menschen zu Abraham soll bestimmend werden für das Verhalten Gottes zu ihnen. Das Ende der Verheißung ist mehrdeutig und es gibt verschiedene Übersetzungsmöglichkeiten: „gesegnet werden in dir“ oder „in dir sollen Segen finden“ oder „in dir sollen sich segnen“. Um diese Aussagen zu verstehen ist ein Blick auf Psalm 72,17 hilfreich: „Mit ihm [= dem König] wird man sich segnen, ihn werden seligpreisen alle Völker.“ Vergleichbar wird aus Abraham, bzw. seiner Nennung für die Völker Segen fließen (siehe Auslegung).

Vers 4: Abrahams Antwort auf diese Verheißungen, die ihm den Beistand Gottes zusichern, ist das simple Verlassen Harans. Der Text stellt lapidar fest: „Da ging Abram, wie der Herr ihm gesagt hatte, und mit ihm ging auch Lot“ (Gen 12,4). Und am Ende des nächsten Verses heißt es ebenso lapidar: „Sie zogen aus, um in das Land Kanaan zu gehen, und sie kamen in das Land Kanaan“ (Gen 12,5). In Kanaan zieht Abraham bis Sichem und erst dort, mitten im Land, ergeht die Landverheißung an ihn. Im Unterschied zu Gen 12,1 erfolgt nun eine Verheißung im Rahmen einer Epiphanie, die die Transzendenz Gottes und im Text die Bedeutung der Landverheißung betont. Gott lässt Abraham das Land sehen bzw. erkennen, indem er sich sehen lässt (Gen 12,7).

Auslegung

Weder Gott noch Abraham markieren den Beginn der Relation des Volkes Israel zum Land Israel. Am Anfang steht Terach, der Vater Abrahams, der ohne Angaben von Gründen aus Ur in Chaldäa aufbrach in Richtung Kanaan (Genesis 11,31) – dem später an Abraham verheißenen Land. Terach vollendete seine Absicht nicht, sondern ließ sich mit seiner Familie in Haran nieder, wo er bis zu seinem Tod siedelte. Seine nicht zu Ende gebrachte Migrationsbewegung wird im Folgenden zur Verheißung für Abraham, dem Gott befiehlt: „Geh fort aus deinem Land, aus deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde!“ (Genesis 12,1). Dieser Imperativ ist die Erwählung und Berufung Abrahams als Anfang der Geschichte Israels. Zehn Generationen nach der – in sich guten – Schöpfung der Welt musste Gott einen treuen Gerechten berufen, um die Schöpfung gegen die Bosheit der Menschheit zu retten: Noah. Nach der Reinigung der Schöpfung durch die Sintflut versündigt sich die Menschheit gegen Gott mit dem Bau des Turms zu Babel und dem Wunsch, sich selbst „einen Namen zu machen“ (Gen 11,4). Gott berief wiederum einen treuen Gerechten: Abraham. Aber im Gegensatz zu Noah ist Abraham kein Repräsentant der neuen bzw. wahren Menschheit, sondern er wird ausgesondert aus der allgemeinen Menschheit. In Genesis 12,1 erklingt seine Berufung als Imperativ, der im Hebräischen mit einem Dativ zusammenhängt: „Zieh weg für dich …“. Dies drückt die absolute Gerichtetheit auf das Wegziehen selbst aus. Diese von Abraham abverlangte Handlung bedeutet, wie es der Text selbst nennt, den Abschied und die Trennung von der Verwandtschaft und des Vaterhauses, was gleichbedeutend ist mit der Aufgabe des ihn schützenden Sozialsystems. Abraham spricht in Genesis 20,13 davon, dass es ein Zug ins Ungewisse war. Dies ist in gewissen Maßen vergleichbar mit dem späteren Exodus des Volkes Israel aus Ägypten. Abraham soll sich auf den Weg machen, sich in einen Status der Heimatlosigkeit begeben, indem er sich von allem loslöst – allein vertrauend auf Gott. Genesis 12,1 bietet keine Landverheißung, die dies aufwiegt, sondern spricht nur von einem Land, das Abraham gezeigt werden wird. Intertextuell mit Dtn 34,1 gelesen, wird hier schon deutlich, dass Abraham das verheißene Land zwar sehen, aber nicht besitzen wird, so wie Mose an der Grenze stehend, das Land zwar sehen darf, es ihm aber verwehrt wird, es zu betreten.

Anstatt einer direkten Landverheißung erhält Abraham als Sicherheit gegen die Ungewissheit der Heimatlosigkeit eine andere Verheißung: „Ich werde dich zu einem großen Volk machen, dich segnen und deinen Namen groß machen. Ein Segen sollst du sein. 3 Ich werde segnen, die dich segnen; wer dich verwünscht, den werde ich verfluchen. Durch dich sollen alle Sippen der Erde Segen erlangen.” (Gen 12,2-3). De facto handelt es sich um drei Verheißungen, die miteinander ausgesprochen werden und eng zusammenhängen. 

1.) Die Verheißung, dass Abraham zu einem großen Volk werden wird, weist darauf hin, dass in der nun folgenden Geschichte die Familie Abrahams sich von einer kleinen sozialen Gruppe zu einer politischen Macht entwickelt, deren Anspruch es sein wird, ein Land zu besitzen und zu kontrollieren. Man kann zwar keine direkte Abhängigkeit voraussetzen, aber es ist eine logische Vorstellung, dass es, um ein Land zu besiedeln, ein Volk braucht. Die Verwirklichung der Landverheißung setzt also die Volkswerdung voraus, wie es auch Genesis 12 nahelegt. Die Verheißung einer unzählbaren Nachkommenschaft findet sich im gesamten Buch Genesis immer wieder in Verbindung mit der Landverheißung und deutet auf den Exodus hin, der möglich gemacht wird durch die Volkswerdung Israels in Ägypten (Exodus 1,7). 

2.) Die Verheißung, Abrahams Namen groß zu machen, ist ein eindeutiger Bezug zu Genesis 11,4. In diesem Kontext steht dem menschlichen Verlangen, durch eigene Taten Größe zu erlangen, eine klare Theozentrik entgegen, die betont, dass das aus dem Handeln Gottes erwachsende Volk das von Gott auserwählte Volk sein wird, weil Gott Abraham aus der Masse der Menschen herausgehoben hat; dies aber nicht, weil Abraham es angestrebt hat, sondern weil es Gott gefallen hat. Ein großer Name ist nur gegeben in Beziehung zu Gott. 

3.) Gemäß Ps 72,17 ist der König derjenige, von dem aus Segen über das eigene Volk und die anderen Völker ergeht. Abraham ist als Urahne des Volkes Israel auch der Urahne der Könige Israels. In diesem Zusammenhang hat der Segen für Abraham zwei Bezugspunkte. Er selbst ist gesegnet mit einem großen Volk und einem großen Namen, die aus der Verheißung an ihn entstehen, und er ist ein Segen für die anderen Völker. Der Segen, der über Abraham an das entstehende Volk Israel vermittelt ist, entwickelt sich zum Segen über das Volk hinaus zum Segen auch für andere – ohne aber von einer Herrschaft über die anderen zu sprechen.

Kunst etc.

„Geh fort aus deinem Land, aus deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde!“ – mit dieser Aufforderung verlangt Gott von Abraham absolutes Vertrauen. Schnell ist man geneigt diese Leerstelle im Text durch eine Geste zu füllen. Vielleicht gab es einen Fingerzeig – aber selbst dieser kann nur eine grobe Richtung angeben, gar höchsten den Anfang des Wegs zeigen. Abraham bricht ins Ungewisse auf und mit ihm beginnt die Geschichte Israels in Abhängigkeit von Gott, der den zukünftigen Weg bestimmt und bestimmen wird.

„Hand mit Zeigefinder“, fotografiert von George Hodan. Lizenz: gemeinfrei.
„Hand mit Zeigefinder“, fotografiert von George Hodan. Lizenz: gemeinfrei.