Gott als Hirte seiner Herde – das ist keine pastorale Romantik, sondern sozusagen ein zweischneidiges Schwert.
1. Verortung im Buch
Die Geschichte Israels ist geprägt von Fehlschlägen. Das spiegelt sich auch im Buch Ezechiel wider. Doch mit Ezechiel 34 erklingt eine neue Hoffnung an – eine Wiederaufrichtung Israels nach dem babylonischen Exil. Der Anfang liegt in der Erneuerung der Führungseliten. Sie werden in den Versen 2-10 bitter angeklagt und ihre Bestrafung wird verkündet. Gott wendet sich nicht nur gegen den Machtegoismus der Eliten: „Weh den Hirten Israels, die sich selbst geweidet haben! Müssen die Hirten nicht die Schafe weiden?“ (Vers 2) – sondern er wird selbst eingreifen und sein Ideal des „guten Hirten“ verwirklichen: „Siehe, nun gehe ich gegen die Hirten vor und fordere meine Schafe aus ihrer Hand zurück. Ich mache dem Weiden der Schafe ein Ende. Die Hirten sollen nicht länger sich selbst weiden: Ich rette meine Schafe aus ihrem Rachen, sie sollen nicht länger ihr Fraß sein.“ (Vers 10). Dies bedeutet die Wiederherstellung einer gerechten, sozialen und friedvollen Ordnung, die zur Anerkenntnis Gottes führen wird (Verse 17-31).
2. Aufbau
Die schlechten Hirten werden ihres Amtes enthoben und Gott übernimmt selbst die Hirtenaufgabe. Im Zentrum steht dabei die Rückführung des Volkes Israels als Herde Gottes in das verheißene Weideland, das Land der Israeliten (Vers 12-15). Das Kollektiv steht hier im Vordergrund und beinahe etwas nachgeschoben wirkend, wird nach der Abschlussformel „Spruch GOTTES, des Herrn“ noch Gottes Sorge um jeden Einzelnen betont (Vers 16).
3. Erklärung einzelner Verse
Vers 11: Dem angekündigten Unheil für die Führungseliten (Vers 10) folgt nun im Kontrast („denn“) die Entfaltung des positiven Bildes Gottes als Hirten. Die Zusage, dass Gott sich nun selbst um seine Herde kümmern wird ist bewusst im Gegensatz zur Klage in Vers 6: „Meine Schafe irren auf allen Bergen und auf jedem hohen Hügel umher und über die ganze Erdoberfläche sind meine Schafe zerstreut. Doch da ist keiner, der fragt, und da ist keiner, der auf die Suche geht.“
Vers 12: Ein Teil dieses Verses ist im Hebräischen nur schwer zu verstehen; wörtlich heißt es hier: „an dem Tag, an dem er unter seiner Herde ist, versprengt/getrennt.“ Anhand der antiken, griechischen Übersetzung kann man erkennen, dass sich „versprengt/getrennt“ auf die Herde bezieht und sie beschreibt. Aber in dieser Übersetzung wird der Vers leicht anders gedeutet, denn nicht Gott ist inmitten seines Volkes an diesem Tag, sondern Dunkelheit und Nebel: „Wie der Hirte seine Herde am Tag sucht, wenn Dunkelheit und Nebel mitten unter den zerstreuten Schafen sind,… .“ Diese Wetterphänomene kommen auch im hebräischen Text vor – jedoch erst am Ende des Verses: „ich werde sie retten aus all den Orten, wohin sie sich am Tag des Gewölks und des Wolkendunkels zerstreut haben“. In der Sprache des Alten Testament sind – wörtlich übersetzt – „der Tag von Wolke und Düsternis“ ein Bild für den Tag des göttlichen Gerichts (siehe Ezechiel 30,2-3: „So spricht GOTT, der Herr: Heult: Weh über den Tag! Denn ein Tag ist nahe, ein Tag des HERRN ist nahe, ein Tag des Gewölkes. Eine Zeit für die Nationen ist da.“).
Verse 13-15: Gott sammelt das Volk, das über die ganze Erde zerstreut wurde (siehe Vers 6), und führt es zurück zu den „Bergen Israels“. Sie werden in diesen Versen dreimal als Ziel angegeben – gemeint ist das Land Israel. Fünfmal wird hier zudem das Leitwort des gesamten Abschnittes, „weiden“, verwendet: Gottes Fürsorge führt Israel zurück in sein Land und lässt es dort in Ruhe lagern.
Vers 16: Die letzten Worte sind die radikale Umkehr dessen, was die schlechten Hirten, die alten Führungseliten dem Volk Israel angetan haben – siehe Vers 4: „Die Schwachen habt ihr nicht gestärkt, das Kranke habt ihr nicht geheilt, das Verletzte habt ihr nicht verbunden, das Vertriebene habt ihr nicht zurückgeholt, das Verlorene habt ihr nicht gesucht; mit Härte habt ihr sie niedergetreten und mit Gewalt.“ Der Pervertierung des Hirtenamtes stellt Gott seine Weltordnung entgegen, in der er an der Seite der Schwachen und Bedürftigen steht. Und am Ende werden Gottes Worte radikal: Die Machtegoisten werden nicht nur des Amtes enthoben, sondern für sie bedeutet Gott als weidender Hirte das Gericht – um die Metapher fortzuführen: Sie werden von ihm zur Schlachtbank geführt.