Handelt Gott unfair an seinem Volk? Wer soll sterben?
1. Verortung im Buch
„Die Väter essen saure Trauben und den Söhnen werden die Zähne stumpf?“ (Vers 2) – dieses israelitische Sprichwort ist der Ausgangspunkt Ezechiels Gedanken im 18. Kapitel seines Prophetenbuches. Die sich darin ausdrückende Lehre besagt, dass auch die Kinder für die Sünde der Elterngeneration bestraft werden. Der Prophet verkündet hingegen, dass Gott keine Sippenhaft kennt, sondern individuell bestraft und zugleich unaufhörlich dazu bereit ist, den reumütigen Sünder doch zu retten. Dies ist keine abstrakte Theologie. Seine Worte richten sich direkt an die sich im Exil befindenden Israeliten. Er verkündet ihnen: Das Exil ist keine unabänderliche Strafe, die ertragen werden muss, wie ein langsamer Tod – sondern selbst im Exil ist demjenigen ein gutes Leben verheißen, der oder die zu Gott umkehrt. Kurzum: Jeder ist für seine Sünden und seine Umkehr selbst verantwortlich (siehe Exechiel 14,16).
So verkündet Ezechiel eine Heilsbotschaft, die das Verhalten der Exilierten kritisiert. Eine große Klammer legt sich um die für die Lesung ausgewählten Verse, die im Hintergrund mitgelesen werden kann: In Vers 23 stellt Gott die rhetorische Frage: „Habe ich etwa Gefallen am Tod des Schuldigen - Spruch GOTTES, des Herrn - und nicht vielmehr daran, dass er umkehrt von seinen Wegen und am Leben bleibt“ – und in Vers 32 gibt er die eindeutige Antwort: „Ich habe doch kein Gefallen am Tod dessen, der sterben muss - Spruch GOTTES, des Herrn. Kehrt um, damit ihr am Leben bleibt!“
2. Aufbau
Zu Beginn wird der Disput, wessen Verhalten gerechtfertigt ist, eröffnet: Handeln die Exulierten verkehrt oder Gott? (Vers 25). In seiner Antwort erklärt Gott sein Verhalten durch das Mittel des Kontrasts: Die Abkehr von Gott lässt alle vorherigen Verdienste nichtig werden (Vers 26) – die Umkehr zu Gott hebt vorherige Schuld für Sünden auf (Vers 27). Im Hintergrund dieser Erklärung steht die Lehre, dass das Exil zur Züchtigung Israels dient, damit sich das Volk seinem Gott wieder zuwendet – und trotz der Vergangenheit eine neue Zukunft möglich sein wird.
3. Erklärung einzelner Verse
Vers 25: Der zitierte Vorwurf ist harsch und brüsk. Man könnte auch übersetzen: „Der Weg des Herrn ist ungerecht.“ Die Übertragung der Schuld der Elterngeneration auf ihre Nachkommen ist unfair – egal, ob die in der nächsten Generation bestrafte Person sündigt oder nicht. So sei das Verhalten Gottes im Endeffekt „willkürlich“. Diesen Vorwurf richtet Gott nun gegen die Exulanten. Sie handeln willkürlich, wenn Sie nicht auf ihre eigenen Wege achten.
Vers 26: Der Sünder wird aufgrund seiner Sünde bestraft – das ist der Weg Gottes. Das Maß dieses Weges sind die Gesetzes Gottes; sie definieren, was „gerechtes“ Handeln ist. Direkt zu Beginn des Buches sagt Gott explizit, dass er das Volk bestraft, „weil ihr nicht in meinen Satzungen gegangen seid und meine Rechtsentscheide nicht befolgt habt“ (Ezechiel 5,7).
Vers 27-28: Dieser theologische Satz ist eine indirekte Handlungsaufforderung, die dann explizit in den folgenden Versen ausgesprochen wird: „Darum will ich euch richten, jeden nach seinem Weg, ihr vom Haus Israel - Spruch GOTTES, des Herrn. Kehrt um, kehrt euch ab von all euren Vergehen! Sie sollen für euch nicht länger der Anlass sein, in Schuld zu fallen. Werft alle Vergehen von euch, die ihr verübt habt! Schafft euch ein neues Herz und einen neuen Geist! Warum wollt ihr denn sterben, ihr vom Haus Israel? Ich habe doch kein Gefallen am Tod dessen, der sterben muss - Spruch GOTTES, des Herrn. Kehrt um, damit ihr am Leben bleibt!“ (Verse 30-32).