Aus einem zarten Zweig wird durch Gott ein mächtiger, schutzbietender Baum! – damit die Welt Gottes Macht anerkennt.
1. Verortung im Buch
Während der Anfang des Buches Ezechiel vor allem durch Unheilsverkündigung geprägt ist (Ezechiel 1-24), ist das Ende eine große Heilsansage (Ezechiel 33-48). In den Kapiteln 15-19 finden sich eine Reihe von Gleichnis, Fabeln und Sprichworten, die den Lesern das Unheil jeweils vor Augen führen – so auch die Fabel von den zwei Adlern in Ezechiel 17,1-21, die dem letzten, herrschenden König aus dem Hause Davids, der ein babylonischer Vasallenkönig war (siehe Erklärung zu Vers 22), ein grausames Schicksal voraussagt: „Darum - so spricht GOTT, der Herr: So wahr ich lebe - meinen Eid, den er missachtet, und meinen Bund, den er gebrochen hat, ich lasse sie auf sein Haupt zurückfallen. Ich werfe mein Netz über ihn, er wird gefangen in meinem Garn. Nach Babel führe ich ihn und gehe dort mit ihm ins Gericht wegen des Treubruchs, mit dem er mir die Treue gebrochen hat. Die Flüchtigen aus allen seinen Truppen fallen unter dem Schwert. Die Übriggebliebenen aber werden in alle Winde zerstreut. Dann werdet ihr erkennen, dass ich, der HERR, gesprochen habe.“ (Vers 19-21). Die als Lesung für den 11. Sonntag im Jahreskreis ausgewählten Verse verdeutlichen, dass Gott nicht nur der Verursacher des Untergangs der davidischen Dynastie und des Königreiches ist, sondern dass er auch wieder Heil nach dem notwendigen Unheil schaffen wird.
2. Aufbau
Die Verse 22-24 sind eine Heilsprophetie, eine Vorschau auf die Erneuerung der davidischen Dynastie und des Königreiches. Die Verse 22-23 beschreiben Gottes Handeln – in beiden Versen wird betont, dass Gott es ist, der die Pflanzung vornimmt. Vers 24 verkündet dann die umfassende Anerkenntnis Gottes durch die Völker aufgrund der Verwirklichung dieser Verheißung – hierbei wird besonders das „Ich“ Gottes betont („dass ich der HERR bin. […] Ich, der HEER, …“).
3. Erklärung einzelner Verse
Vers 22: Der Vers steht im bewussten Kontrast zu der Aussage Gottes in den Versen 3-4: „Der große Adler mit großen Flügeln, mit weiter Schwinge, mit dichtem, buntem Gefieder kam zum Libanon und nahm den Wipfel der Zeder weg. Ihren obersten Zweig riss er ab. Ins Land der Krämer [eigentlich: „ins Land Kanaan“] brachte er ihn, in die Stadt der Händler setzte er ihn.“ Diese Verse blicken auf den babylonischen König Nebukadnezzar, der das Südreich Juda zu seinem Vasallenstaat machte und schließlich Jerusalem samt dem Tempel zerstörte. Zuvor war vom Nebukadnezzar aus dem Haus Davids Zedekia als Vasallenkönig eingesetzt worden. Dieser wendet sich jedoch den Ägyptern zu und versuchte, sich von der babylonischen Herrschaft zu befreien. Das führte zur Zerstörung Jerusalems im Jahre 587 v.Chr. und dem Ende des Königsreiches Juda. Nebukadnezzar ließ die Söhne Zedekias töten und er wurde bis zu seinem Tod in Babylon gefangen gehalten (2 Könige 25,1-7). Nun, in Vers 22, ist es Gott selbst, der „vom hohen Wipfel der Zeder“ nimmt. Der Zedernbaum steht im Alten Testament und im Alten Orient für (königliche) Erhabenheit (Richter 9,15). König Salomo ließ neben den Tempel das sogenannte „Libanonwaldhaus“ aus Zedern, das ein königlicher Repräsentationsbau, vielleicht auch eine Waffen- oder Schatzkammer, war, bauen. Im Buch Jeremia wird die Davidsdynastie als Zeder bezeichnet (Jeremia 22,6.23). Gott kündigt somit an, dass er einen der jüngsten Triebe, bzw. Äste abbrechen und ihn wieder auf dem heiligen Berg in Jerusalem einpflanzen werde. Das hebräische Wort, das in der revidierten Einheitsübersetzung mit „Zweig“ übersetzt ist, ist vielleicht besser mit „Schössling“ oder „Spross“ übersetzt, da es sprachlich mit dem hebräischen Wort für „Säugling“ zusammenhängt. Dass dieser Schössling von der – wörtlich – „hohen Krone“ der Zeder stammt, zeigt bereits die hohe Wertschätzung der davidischen Dynastie, aus welcher der neue angekündigte König von Gottes Gnade stammen wird. Und zugleich ist der Verweis auf die Höhe ein Kontrast zu Zedekia, der in Vers 6 in seiner Niedrigkeit beschrieben wurde: „er spross und wurde zum üppigen Weinstock von niedrigem Wuchs.“
Vers 23: Das Heranwachsen des Schösslings zu eine prächtigen Zeder ist zurückzuführen auf das Handeln Gottes – sodass die Zeder, die botanisch betrachtet keine Früchte trägt, nun Früchte tragen wird, fruchtbar sein wird. Dass in der Zeder Vögel Schutz suchen werden, ist auch keine reine botanische Beschreibung (siehe Psalm 104,16-17), sondern vielleicht eine indirekte Anspielung auf die Darstellung des babylonische König Nebukadnezzar als mächtiger Adler in den Versen 3-4 (siehe auch Vers 7) – nun suchen „alle Vögel“ im Schatten der neuen, davidischen Zeder Ruhe und Frieden.
Vers 24: Dieser Vers ist im Grundstock eine Erkenntnisformel: „Dann werden alle … erkennen, dass ich der HERR bin.“ Diese wird darauf bezogen, dass Gott ankündigt und sicherlich dementsprechend tut („Ich, der HERR, habe gesprochen und ich führe es aus.“); vgl. Ezechiel 12,25. Die anderen Bäume stehen für die Weltherrscher und ihre Völker; sie werden nicht der Zeder untergeordnet, sondern werden durch das „Aufblühen“ des Davidssprosses und mit ihm des Volkes Israel die Macht Gottes erkennen – er alleine entscheidet, wem menschliche Macht zukommt.