Gegen ein widerspenstiges Volk bleibt nur die Hoffnung, dass im Nachhinein, nach dem Unheil der Prophet als Ausdruck der Fürsorge Gottes erkannt wird.
1. Verortung im Buch
Ezechiel – ein Priester, der nach dem Fall Jerusalems im babylonischen Exil lebt – sieht, noch bevor er zum Propheten berufen wird, Gottes Herrlichkeit (Ezechiel 1,1-28). Aus priesterlicher Sicht ist göttliche Vollkommenheit in der Welt in ihrer Gegenwart nur in der Stiftshütte oder im Allerheiligsten im Tempel sichtbar. So steht am Anfang des Buches Ezechiel die Erkenntnis, dass Gottes Macht an keinen Ort gebunden und durch das Exil nicht gemindert ist. In diese Erkenntnis hinein wird er zum Propheten berufen.
2. Aufbau
Bevor die Berufungsworte erklingen, wird Ezechiel aufgerichtet und befähigt (Ezechiel 1,28b-2,2). Danach wird er zum zweiten Mal als „Menschensohn“ angeredet und zu den „Söhnen Israels“ gesendet (Verse 3-4). Die Israeliten werden als „abtrünnige Völker“ (Vers 3) und „Haus der Widerspenstigkeit“ (Vers 5) charakterisiert. Ihnen gegenüber zeigt sich in der Berufung Ezechiels als Propheten, dass Gott ihnen trotz allem weiterhin zugewandt ist.
3. Erklärung einzelner Aspekte
Vers 28c: Im Angesicht der Herrlichkeit Gottes, wie sie in der vorherigen Vision beschrieben wird, fällt Ezechiel zu Boden und vermeidet dann unterwürfig doch den Blickkontakt. Aus dem Sehen wird ein Hören. In der Vision wird zuvor „eine Gestalt, die das Aussehen eines Menschen hatte“ (Vers 26) beschrieben. Doch die nun erklingende Stimme wird nicht direkt mit dieser „Gestalt“ in Beziehung gesetzt, sondern die Distanz zum unsichtbaren Gott wird verdeutlicht.
Verse 1-2: Ezechiel wird nicht mit seinem Namen angesprochen, sondern als „Menschensohn“, genauer und wörtlich übersetzt als „Sohn Adams“, „Sohn eines Menschen“. Die Anrede verdeutlicht die Differenz zwischen dem ewigen Gott und dem vergänglichen Menschen (vgl. Psalm 8,5). Dieser Mensch soll das Wort Gottes nicht niederwürfig empfangen, sondern erhoben zum „Gottesdienst“ bereitstehen. Dass er in diese Haltung gelangt, hat er wörtlich „einem Geist“ zu verdanken. Das hebräische Wort רוח (gesprochen: ru’ach), bedeutet auch „Hauch“ oder „Lebensatem“. Ezechiel wird sozusagen zu seiner Berufung „beatmet / belebt“ – und auch zum Zuhören befähigt.
Vers 3: Wiederholt wird Ezechiel als vergänglicher Mensch angesprochen, der nun seine Sendung erhält. Der „Sohn eines Menschen“ wird zu den „Söhnen Israels“ gesendet. Bei der Bezeichnung der Israeliten als „abtrünnigen Völkern“ handelt es sich um einen Verweis auf die Verfasstheit des Volkes als Gemeinschaft von zwölf Stämmen (vgl. Gen 35,11) oder auf die Unterscheidung von Nordreich und Südreich (vgl. Ezechiel 35,10). Vielsagend ist die Beschreibung des Volkes, sowohl der vorherigen Generationen als auch der in der Zeit Ezechiels als „abtrünnig“ und „abgefallen“. Diese beiden Wörter verdeutlichen sowohl die theologische wie auch politische Weigerung der Israeliten Gott als ihren Herren anzuerkennen.
Vers 4: Die Schuld des Volkes wird sowohl eine das Innere wie das Äußere betreffende Verfasstheit bestimmt. Das – wörtlich – „harte Gesicht“ steht für Teilnahmslosigkeit, unfähig zur Beziehung; darin schwingt auch die Bedeutung „halsstarrig“ mit. Das – wörtlich – „harte Herz“ erinnert an die Verstocktheit des Pharaos im Buch Exodus, der nicht gewillt war, das Handeln Gottes zu erkennen (Exodus 7,13). Ezechiel wird nicht gesendet, um große Wunder zu tun, sondern dem Volk das Wort Gottes zu verkünden.
Vers 5: Häufig wird das Volk Israel im Alten Testament „Haus Israel“ genannt; nun bezeichnet es Gott aber als „Haus der Widerspenstigkeit“ (vgl. auch Numeri 17,25; Jesaja 30,9). Damit wird der generationenübergreifende Ungehorsam des Volkes ausgedrückt. Für das Volk besteht wenig Hoffnung – die Sendung des Propheten besteht nicht, dass das Volk umkehrt, sondern dass es nach dem Unheil erkennen wird, dass Gott ihnen einen Propheten zugesandt hatte; vgl. Ezechiel 33,30-33: „Du, Menschensohn, die Söhne deines Volkes reden über dich an den Mauern und Toren der Häuser. Einer sagt zum andern, jeder zu seinem Bruder: Kommt doch und hört, was für ein Wort vom HERRN ausgeht. Dann kommen sie zu dir wie bei einem Volksauflauf, setzen sich vor dich hin - mein Volk! - und hören deine Worte an, aber sie handeln nicht danach; denn ihr Mund ist voller Verlangen und so handeln sie auch und ihr Herz läuft nur ihrem Gewinn hinterher. Siehe, du bist für sie wie ein Liebeslied, eine wohlklingende Stimme und ein schönes Harfenspiel. Sie hören deine Worte, aber sie handeln nicht danach. Wenn es aber kommt - siehe, es kommt! - , dann werden sie erkennen, dass mitten unter ihnen ein Prophet war.“