Mitten in einem Gesetzestext brechen die Emotionen Gottes hervor. Er greift zum Schwert für die Unterdrückten. Gott zeigt, dass er parteiisch ist.
1. Verortung im Buch
Dieses Gesetz steht im sogenannten Bundesbuch (Exodus 20,22-23,33), der ältesten Gesetzessammlung der Bibel. In ihm lässt sich eine gewisse Zweiteilung zwischen Gesetzen, die Güter (Exodus 21,12-22,16) und Werte (Exodus 22,17-23,9) betreffen. Innerhalb der Gesetze des Alten Testament ist der Lesungstext jedoch einzigartig. In direkter Du-Anrede offenbart Gott seine Emotionen, seinen Zorn und sein Erbarmen. Zugleich ist dieses Gesetz direkt bezogen auf den Anfang des Exodus, wo Gott spricht: „Jetzt ist die laute Klage der Israeliten zu mir gedrungen und ich habe auch gesehen, wie die Ägypter sie unterdrücken.“ (Exodus 3,9) Der Schutz des Fremden in Israel ergibt sich eben aus dieser theologischen Aussage: Gott erhört die Klage des unterdrückten Fremden. Denn Gott ist barmherzig, wie er im Gesetz des Lesungstext betont und dann wieder bei seiner Wesensoffenbarung in Exodus 34,6: „Der HERR ist der HERR, ein barmherziger und gnädiger Gott, langmütig und reich an Huld und Treue.“
2. Aufbau
Zweimal betont dieser Gesetzestext, dass Gott den Klageschrei, bzw. Hilferuf des Unterdrückten erhört (Verse 22 und 26). Gott steht an der Seite der sogenannten personae miserae, den Fremden in der Gesellschaft (Vers 20), den Witwen und Waisen (Verse 21-23), den Armen (Verse 24-26).
3. Erklärung einzelner Verse
Vers 20: Das Gesetz appelliert direkt an das kollektive Gedächtnis des Volkes. Die parallele Formulierung in Exodus 23,9 lässt die Bedeutung stärker hervortreten: „Einen Fremden sollst du nicht ausbeuten (besser: unterdrücken). Ihr wisst doch, wie es einem Fremden zumute ist; denn ihr selbst seid im Land Ägypten Fremde gewesen.“ Hier und in diesem Vers wird das Wort לחץ verwendet, dass die Unterdrückung thematisiert. Eben dieses Wort zeigt das Leid an, weswegen die Israeliten zu Gott um Hilfe rufen im Sklavenhaus und warum Gott handelt. Zweimal steht לחץ in Exodus 3,9, wörtlich heißt es dort: „Nun aber, siehe, die Klage der Kinder Israels ist zu mir gekommen, und ich habe auch die Unterdrückung gesehen, mit der die Ägypter sie unterdrücken.“ Neben das Gebot, dass ein Fremder nicht unterdrückt werden darf, tritt die Mahnung, dass er nicht „ausgenutzt“ werden darf – dies betont eher den materiellen Aspekt.
Verse 21-23: Witwen und Waisen waren ohne männlichen, erwachsenen Beistand in der damaligen Gesellschaft schutzlos. Gott wird zu ihrem Beistand. Und er sagt deutlich, dass er parteiisch an ihrer Seite steht. Das Thema trifft sozusagen einen empfindlichen Nerv Gottes und zugleich verdeutlicht sich, dass Gottes Zorn in Wahrheit sein Erbarmen ist. Er erbarmt sich den unterdrückten Witwen und Waisen, indem sein Zorn entbrennt. Radikal formuliert er eine Drohung. Wer Witwen und Waisen unterdrückt, deren Frauen und deren Kinder wird Gott gewalttätig selbst zu Witwen und Waisen werden lassen.
Vers 24: Das Verbot Zinsen zu nehmen gilt nur innerhalb der eigenen Volksgemeinschaft. In der idealen Gesellschaft gelten die normalen Regeln nicht – das Gemeinwohl steht im Vordergrund, nicht der Gewinn des Einzelnen.
Verse 25-26: Die Thematisierung des Pfands ist ein Beispiel für die in Vers 24 geforderte Solidarität. Das Gewand war ein viel wertvollerer und elementarer Gegenstand als heutige Kleidung. Er dient als Decke und somit als Schutz in der Nacht. Das was für den einen lediglich ein Pfand, bzw. eine Sicherheit ist, ist für den Betroffenen vielleicht überlebenswichtig. Dieses Gesetz fordert nun von dem Gläubiger Vertrauen, um Leben zu ermöglichen.