Die Zehn Gebote werden oft als biblische Magna Charta der Menschenrechte gepriesen … und trotz der christlichen Kritik am alttestamentlichen Gesetz bleiben sie ein theologischer Grundlagentext.
1. Verortung im Buch
Die Zehn Gebote haben einen direkten geschichtliche Bezugspunkt, der in den ersten Worten direkt benannt wird. Ihre Offenbarung geschieht, nachdem Gott sein Volk aus Ägypten und somit aus der Sklaverei befreit hat. Am Berg Sinai angekommen werden die Zehn Gebote verkündet – doch irgendwie fügt sich der Text nicht recht in die Erzählung ein. Als Gott die Worte der Zehn Gebote spricht, ist Mose bereits zum ersten Mal wieder vom Berg zum Volk hinabgestiegen (Exodus 19,25). Und nachdem Gott die Worte der Zehn Gebote gesprochen hat, wird keine Reaktion des Volkes auf diese Worte geschildert, sondern dessen Angst vor einer Theophanie, die sie erlebten (Exodus 20,18: „Das ganze Volk erlebte, wie es donnerte und blitzte, wie Hörner erklangen und der Berg rauchte. Da bekam das Volk Angst, es zitterte und hielt sich in der Ferne.“). Es ist fast so, als seien die Zehn Gebote nur an die Leser und Leserinnen gerichtet. Das Volk Israel erhält die Zehn Gebote, von Gott selbst auf die Bundesstafeln niedergeschrieben erst später: „Nachdem der HERR aufgehört hatte, zu Mose auf dem Berg Sinai zu sprechen, übergab er ihm die zwei Tafeln des Bundeszeugnisses, steinerne Tafeln, beschrieben vom Finger Gottes.“ (Exodus 31,18; siehe dazu 34,28) – doch diese Bundestafeln zerschmetterte Mose, als er nachdem er vom Berg hinabgestiegen war, sehen musste, wie das Volk um das goldene Kalb tanzte und somit bereits gegen die Zehn Gebote verstoßen hatte (Exodus 32,19). Der Bund der eigentlich am Sinai zwischen Gott und seinem Volk dauerhaft geschlossen werden sollte, war bereits gebrochen. Nur die Fürbitte Moses führt dazu, dass Gott nochmals die Zehn Gebote auf die Bundestafeln schreibt und an sein Volk durch Mose übergeben lässt (Exodus 34,28-29).
Die Zehn Gebote sind gemäß dem Alten Testament der einzige Text den Gott selbst geschrieben hat. Doch er ist in zwei verschiedenen Version im Buch Exodus und im Buch Deuteronomium überliefert (zu den Unterschieden zwischen Exodus 20,2-7 und Deuteronomium 5,6-21 siehe unten die Erklärungen zu den einzelnen Versen).
2. Aufbau
Die sogenannten Zehn Gebote sind eigentlich elf Verbote und zwei Gebote. Im Judentum wird der erste Satz – die Selbstvorstellung Gottes, die kein Gesetz ist, nichts verbietet und nichts fordert – als erstes Gebot gezählt, das ein Fundament nicht nur für die folgenden Worte, sondern für das gesamte alttestamentliche Gesetz bietet: „Ich bin JHWH, dein Gott, der dich herausgeführt hat aus dem Land Ägypten, aus einem Sklavenhaus.“ Dieser Einteilung folgen die verschiedenen christlichen Konfessionen nicht, aber auch sie zählen unterschiedlich bis zehn. Zum Beispiel ist das oft missverstandene Gebot, man solle seine Eltern ehren, in der Katholischen Kirche das vierte Gebot, während es gemäß der Zählung in den orthodoxen Kirchen das fünfte Gebot ist. Dieser Unterschied in der Zählung hängt davon ab, ob man das sogenannte Fremdgötterverbot und das sogenannte Bilderverbot als zweigeteiltes Verbot oder als zwei einzelne Verbote liest. „Du sollst neben mir keine anderen Götter haben", heißt es in Exodus 20,3. Auf den ersten Blick ist der folgende Vers ein anderes Verbot: „Du sollst dir kein Kultbild machen und keine Gestalt von irgendetwas am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde.“ Doch die Begründung dieses Verbotes ist eng verknüpft mit dem vorherigen Verbot der kultischen Verehrung anderer Götter: „Du sollst dich nicht vor Ihnen [= den Kultbildern] niederwerfen und ihnen nicht dienen." In beiden Verboten geht es darum, allein Gott anzubeten. So zählen die Anglikaner, Reformierten und Orthodoxen hier zwei Verbote, während die Katholiken und Lutheraner in diesen Versen zwei Seiten eines Verbotes erkennen. Die verschiedenen Zählungen sind jedoch keine Willkür, sondern die Zehnzahl ist bereits eine biblische Tradition (siehe dazu unter „Kontext“).
Der Gottesbezug am Anfang der Zehn Gebote ist konstitutiv. Auch im Verhalten gegenüber dem Nächsten entscheidet sich die Beziehung zu Gott. Nicht von ungefähr ist das erste Wort der Zehn Gebote das göttliche "Ich" und das letzte der Verweis auf den zu schützenden "Nächsten". Nur wenn der Israelit sich sowohl an Gott als auch an seine Mitmenschen im positiven Sinne bindet, dann gestaltet sich die von Gott geschenkte Freiheit und kann so bewahrt werden. Im Denken des Alten Testament bedeutet eine Sünde gegen einen Mitmenschen auch eine Sünde gegen Gott. In diesem Sinne ist Ethik ohne die Beziehung zu Gott als Voraussetzung unvorstellbar – und dies spiegelt sich auch im Aufbau der Zehn Gebote wieder.
3. Erklärung einzelner Verse
Verse 2-3: In diesen Worten zeigt sich ein Grundfundament sowohl des heutigen Judentums als auch des Christentums. Sie sind monotheistische Religionen. Aber dieser Glauben hat einen Werdegang und entstand in einer Umwelt, die ganz selbstverständlich von der Existenz und Macht verschiedener Gottheiten ausging. Auch im Alten Testament finden sich Aussagen, die die Existenz anderer Götter nicht bestreiten. So wird der Auszug aus Ägypten als Entmachtung der ägyptischen Götter gedeutet, wenn Gott spricht: „Über alle Götter Ägyptens halte ich Gericht, ich, der HERR.“ (Exodus 12,12). In Israels Glaubensgeschichte ereignete sich für das spätere Judentum und die Christenheit ein entscheidender Schritt. Die ausschließliche Verehrung des Gottes Israels wurde zum Gesetz (vgl. Exodus 22,19). Diese Ausschließlichkeit der Verehrung wurde zum grundlegenden Verbot am Anfang der Zehn Gebote: „Du sollst neben mir keine anderen Götter haben.“ (Exodus 20,3), wie es in der neuen, revidierten Einheitsübersetzung von 2016 heißt. Anders als die deutsche Übersetzung suggeriert, ist die mit „neben mir“ übersetzte Formulierung im Hebräischen mehrdeutig. Ebenso lässt sich übersetzen: „Du sollst vor meinem Angesicht keine anderen Götter haben“, oder „Du sollst keine anderen Götter anstelle von mir haben“. Hier ist die absolute Ausschließlichkeit formuliert, die Israel später zum Monotheismus führt und die aus der Befreiung aus Ägypten resultiert. Aber auch in der Darstellung der Geschichte Israels zeigt sich, dass Ideal und Realität oft weit auseinander liegen. In den Königebüchern finden sich mehrfach Erwähnung von Götterbildern in dem Tempel des Gottes, der neben sich keine andere Gottheit duldet (siehe zum Beispiel 1 Kön 15,13).
Verse 4-6: Nicht nur das Verbot andere Götter zu verehren, sondern auch das in den Zehn Geboten darauffolgende Bilderverbot konstituieren die Andersartigkeit und Fremdheit Israels im Alten Orient – und beide Verbote sind eng miteinander verbunden. Indem die Herstellung eines Kultbildes, das Gott darstellen könnte, verboten wird, entsteht in den Zehn Geboten, die Besonderheit des Judentums, des Christentums und auch des Islams. Die Buchreligion wird erschaffen durch das Bilderverbot: „Du sollst dir kein Kultbild machen und keine Gestalt von irgendetwas am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde.“ (Exodus 20,4). Im Buch Deuteronomium wird dieses Gebot mit der Art und Weise begründet, in der sich Gott seinem Volk am Berg Sinai offenbart hat: „Nehmt euch um eures Lebens willen gut in Acht! Denn ihr habt keinerlei Gestalt gesehen an dem Tag, als der HERR am Horeb mitten aus dem Feuer zu euch sprach. Lauft nicht in euer Verderben und macht euch kein Kultbild, das irgendetwas darstellt […]“ (Deuteronomium 4,15-16). Gott ist in der Welt nicht in einem Bild repräsentiert, sondern in seinem kundgetanen Willen, den er seinem Volk mitgeteilt und selbst in den Zehn Geboten verschriftlicht hat. Dass es im Bilderverbot nicht einfach um ein generelles Kunstverbot geht, verdeutlicht bereits die gegebene Begründung: „Du sollst dich nicht vor ihnen [einem Kultbild und einer Gestalt] niederwerfen und ihnen nicht dienen.“ (Exodus 20,5). Aus ihr ergibt sich die direkte Verbindung zum Verbot andere Götter zu verehren. Sich niederzuwerfen und jemandem zu dienen sind keine nur auf die Religion begrenzte Handlungen. Das Niederfallen gehörte im Alten Orient und im Alten Testament zu den Gesten zum Beispiel eines Beamten vor seinem König oder eines Vasallen vor seinem Herrn. Die Israeliten stehen vollends im Dienstverhältnis zu Gott und nichts Geschaffenes soll sich zwischen den Schöpfer und sein Volk stellen oder gestellt werden. Diese geforderte ausschließliche Beziehung ist im Wesen Gottes grundgelegt.
Der Gott, der sich zu Beginn der Zehn Gebote als Befreier aus Ägypten in Erinnerung gerufen hat, beschreibt sich im ersten Gebot als „eifersüchtiger Gott“, wie es in der revidierten Einheitsübersetzung heißt. Diese Worte bedeuten nicht, dass Gott von einer egoistischen Leidenschaft getrieben wäre. Sondern, dass er ein eifervoller Gott ist, der unablässig Schuld verfolgt – selbst generationenübergreifend –, aber dessen Liebe größer ist als sein Zorn. „Denn ich bin der HERR, dein Gott, ein eifersüchtiger Gott: Ich suche die Schuld der Väter an den Kindern heim, an der dritten und vierten Generation, bei denen, die mich hassen; doch ich erweise Tausenden meine Huld bei denen, die mich lieben und meine Gebote bewahren.“ (Exodus 20,5-6). In dieser Beschreibung Gottes verdeutlich sich, dass es im Bund mit Gott keine menschliche Gleichgültigkeit gibt, sondern nur Extreme: lieben und hassen. Und die geforderte liebevolle Verbundenheit mit Gott wird mit dem Einhalten seiner Gebote, der Zehn Gebote, identifiziert.
Vers 7: JHWH für Israel kein Gott unter vielen, sondern der einzige; und er ist nicht in einem Kultbild fassbar, sondern in seinem Namen in der Welt anwesend. In der revidierten Einheitsübersetzung ist der Gottesname hinter dem in Kapitälchen geschriebenen Wort „HERR“ versteckt. Die Vermeidung des eigentlichen Gottesnamens ist eine jüdische Tradition, die bereits in der antiken, jüdischen Übersetzung ins Griechische, genannt Septuaginta, deutlich sichtbar wird. In einem griechischen Textfragment aus dem 2. Jahrhundert v. Chr. wurde der Gottesname nicht übersetzt, sondern er wurde in Hebräisch stehen gelassen. In späteren Handschriften wurden anstelle des Gottesnamens das griechische Wort κύριος (gesprochen: kyrios) verwendet, dass „Herr/Gebieter“ bedeutet. Eine solche Anrede Gottes findet sich bereits im hebräischen Alten Testament. Und die späteren Schreiber, die für die nur aus Konsonanten bestehende hebräische Schrift Zeichen für Vokale entwickelten, um die genaue Aussprache der Heiligen Schriften festzuhalten, machten den Gottesnamen unaussprechbar, indem sie die Vokale anderer Wörter zu den Konsonanten des Gottesnamens schrieben. So ist die ursprüngliche Aussprache des Gottesnamens heute unklar und mit Sicherheit kennt man nur seine vier Konsonanten יהוה (J-H-W-H). Eines der durch diese Vokalisation vorgesehenem Ersatzwörter für den Gottesnamen ist das hebräische Wort אֲדֹנָי (gesprochen: adonaj). Die Herkunft dieses Wortes ist das hebräische Wort für „mein Herr“ (אֲדֹנִי, gesprochen: adoni), allerdings in einer Form und Aussprache, die nur für Gott verwendet werden darf. Niemand außer Gott wird als אֲדֹנָי angesprochen. Ein weiteres Ersatzwort für den Gottesnamen in den hebräischen Manuskripten ist das aramäische Wort שְׁמָא (gesprochen: sch’ma), das einfach „Name“ bedeutet.
Der Name Gottes der Ort der Beziehung zu Gott. Als Gott sich im brennenden Dornbusch Mose offenbart und ihn beauftragt das Volk Israels aus dem Sklavenhaus Ägypten herauszuführen, fragt er ihn nach der Bedeutung seines Namens: „Gut, ich werde also zu den Israeliten kommen und ihnen sagen: Der Gott eurer Väter hat mich zu euch gesandt. Da werden sie mich fragen: Wie heißt er? Was soll ich ihnen sagen?“ (Exodus 3,13). Im hebräischen Text fragt Mose nicht nur nach dem Namen des Gottes, der ihm erschienen ist, sondern er fragt „Was ist sein Name?“. Das hebräische Wort für „Name“ (שֵׁם, gesprochen: schem) bedeutet auch „Reputation/Ruhm“. In der Zeit des Alten Testaments bestand ein wesenhafter Zusammenhang zwischen dem Namen und der mit ihm benannten Person. Deutlich wird dies an der Antwort Gottes: „Ich bin, der ich bin. Und er fuhr fort: So sollst du zu den Israeliten sagen: Der Ich-bin hat mich zu euch gesandt.“ Gott antwortet Mose nicht mit seinem Namen, er sagt nicht: „Ich bin JHWH“. Sondern er erklärt sich in einem scheinbar nichtssagenden Satz, der sich in vielerlei Versionen übersetzen lässt: „ich bin, der ich bin“, „ich werde sein, der ich sein werde“ oder gar „ich bin der Seiende“. Zum einen drückt sich in diesem Satz die Unverfügbarkeit Gottes durch den Menschen aus – unabhängig vom Menschen, wird Gott, so sein, wie er sein wird. Zum anderen wird gerade in der Erzählung von Moses Berufung am brennenden Dornbusch deutlich, dass sich der freie Gott in seinen Verheißungen an die Menschen bindet und dadurch sein eigenes, in seinem Namen zum Ausdruck kommendes Wesen definiert. „Ich bin, der ich bin,“ soll Mose nicht zum Volk sprechen, sondern es ist eine direkte Antwort für Mose, der sich kurz zuvor noch seiner Berufung für unwürdig erklärt hatte. Auf seine Frage „Wer bin ich, dass ich zum Pharao gehen und die Israeliten aus Ägypten herausführen könnte?“ hatte Gott geantwortet: „Ich bin mit dir“. Gott sichert Mose seinen unablässigen Beistand zu und wählt dazu, dasselbe hebräische Wort, mit dem er danach auf die Frage antwortet, was sei Name sei: אֶֽהְיֶה (gesprochen: ae’hejä; „ich bin / ich werde sein“). Gott handelt so, wie er es verheißt; er ist derjenige, der er zusagt zu sein. Für das Volk Israel in Ägypten bedeutet das „Ich bin“-Gottes, dass er derjenige ist, der den Erzvätern den Landbesitz in Kanaan verheißen hat und diese Zusage verwirklichen wird. Das „Ich bin“-Gottes sagt aus, dass er in der Gegenwart (als Retter) wirkt und hilfreich an der Seite Israel steht und für sein Volk eintritt. Die Theologie des Buches Deuteronomium beschreibt dementsprechend den Namen als die geoffenbarte, Israel zugewandte Seite Gottes: Der aussprechbare und anrufbare Name Gottes gewährt, was durch das Kultbildverbot verneint wurde: einen direkten Zugang zu Gott. Das Rufen Gottes beim Namen ist ein feststehender Ausdruck im Alten Testament für die kultische Verehrung, um sich zu ihm zu bekennen, ihn zu bitten und ihn zu rühmen. So verheißt Gott, dass er durch seinen Namen im Tempel gegenwärtig sein wird: „Ihr sollt nicht das Gleiche tun wie diese Völker, wenn ihr den HERRN, euren Gott, verehrt, sondern ihr sollt nach der Stätte fragen, die der HERR, euer Gott, aus allen euren Stammesgebieten erwählen wird, indem er dort seinen Namen anbringt. Nach seiner Wohnung sollt ihr fragen und dorthin sollst du ziehen.“ (Deuteronomium 12,4-5). Wer also den Namen Gottes missbraucht, wendet sich gegen Gottes Gegenwart in der Welt, seine durch seine Heilstaten unter den Menschen erworbenen Ruhm und stellt letztendlich die Beziehung zu ihm in Frage.
Wörtlich verbietet das zweite Gebot: „Nicht sollst Du den Namen JHWHs zum Nichtigen / zur Falschheit heben, …“. Wie ein Vergleich mit Vers 4 in Psalm 16 zeigt, bedeutet das Heben eines Götternamens, die Anrufung dieses Gottes. Im Alten Testament war ein Eid häufig mit einer Fluchformel verbunden, wie sich unter anderem im Buch Jeremia zeigt: „Doch selbst wenn sie sagen: So wahr der HERR lebt, schwören sie dennoch einen Meineid.“ (Jeremia 5,2). Im Buch Levitikus wird ausdrücklich festgestellt, dass der Meineid unter Anrufung des Namens Gottes seiner Entweihung gleichkommt (siehe Levitikus 19,12). Das zweite Gebot verbietet jedoch nicht nur den Meineid, sondern jede Anrufung des Namens Gottes in Unehrlichkeit, Lüge und Nutzlosigkeit, wie bereits Martin Luther gesehen hat: „…dass wir bei seinem Namen nicht fluchen, schwören, zaubern, lügen oder trügen, sondern denselben in allen Nöten anrufen, beten, loben und danken.“ Gott hat in seinem Namen JHWH in der Welt einen Ort geschaffen, der dem Menschen zugänglich ist. Der Name ermöglicht die persönliche Begegnung und Beziehung zu Gott. Wer dieses Angebot Gottes auf irgendeine Art egoistisch missbraucht, der sündigt gegen Gott.
Verse 8-11: Der im Alten Testament gesetzlich vorgeschriebene Ruhetag ist der zu heiligende am Freitagabend beginnende und bis Samstagabend gehende Sabbat. Er gilt als der höchste Feiertag, seine Einhaltung stellt den „ewigen Bund“ zwischen Gott und seinem Volk dar und „jeder, der am Sabbat arbeitet, hat den Tod verdient“ (Exodus 34,15). Der Sabbat ist ein Grundrecht, das sowohl Arbeitskräften als auch Arbeitstieren zusteht und keine Standesunterschiede kennt. Es handelt sich dabei nicht um eine verhandelbare Vertragsvereinbarung zwischen einem Arbeitnehmer und einem Arbeitgeber, sondern um einen gesellschaftlich festgelegten Lebensrhythmus, der Leben ermöglicht (vgl.Exodus 23,12). Der Sabbat soll gemäß den Zehn Geboten geheiligt, das heiß vom normalen Alltag abgesondert werden: „Der siebte Tag ist ein Ruhetag, dem HERRN, deinem Gott, geweiht.“ (Exodus 20,10). Mit der Einführung dieses wöchentlich wiederkehrenden Tages hat das Alte Testament das Zeitverständnis der gesamten Menschheit geprägt. Während die Dauer eines Jahres, eines Monats und eines Tages an dem Verlauf von Sonne und Mond ausgerichtet sind, ist die siebentätige Woche ein unnatürlicher Rhythmus. In der im Buch Exodus überlieferten Version der Zehn Gebote gilt diese Strukturierung der Zeit sozusagen als eine verborgene Naturordnung. In ihr wird das Sabbatgebot mit der Schöpfung der Welt begründet: „Denn in sechs Tagen hat der HERR Himmel, Erde und Meer gemacht und alles, was dazugehört; am siebten Tag ruhte er. Darum hat der HERR den Sabbat gesegnet und ihn geheiligt.“ (Exodus 20,11). Das Alte Testament beginnt mit der Schöpfung der Welt in sieben Tagen. Die Zahl 7 steht im Hebräischen für die Fülle. Am ersten Tag schuf Gott die Zeit, in den darauffolgenden fünf Tagen entstand die Welt und am siebten Tag ruhte Gott und vollendete damit seine Schöpfung. Diese göttliche Ruhe wird durch das hebräische Verb שָׁבַת (gesprochen: schabat) ausgedrückt. Es bedeutet sowohl „aufhören mit etwas“ als auch „ruhen“. Zwar wird in der Forschung eine Ableitung der Bezeichnung des Sabbattages von einem akkadischen Wort für den Vollmondtag in Babylonien angenommen (šapattu). Doch in den alttestamentlichen Texten entwickelte sich der Sabbat zum wöchentlichen Ruhetag, dessen Einhaltung in den Zehn Gebote gefordert wird: „Gedenke des Sabbats: Halte ihn heilig!“ (Exodus 20,8).
In der Version der Zehn Gebote im Buch Deuteronomium gibt es zwei grundlegende Unterschiede gegenüber der im Buch Exodus vorliegenden Fassung. (1.) Bereits der Anfang ist anders: „Halte den Sabbat: Halte ihn heilig, wie es dir der HERR, dein Gott, geboten hat!“ (Deuteronomium 5,12). Während im Buch Exodus das sich vergewissernde Erinnern des Schöpfungswerkes Gottes als Beweggrund für die Einhaltung des Sabbatgebotes geben wird, betont das im Buch Deuteronomium gewählte Wort die Beachtung des Gebotes. So werden zwei verschiedene Dimensionen betont: zum einen die festgeschriebene Zeitstruktur, der Wochenablauf, als Teil der Schöpfungsordnung und zum zweiten der Tag selbst als Ruhetag, aufgrund der Geschichte Israels. (2.) In beiden Versionen des Sabbatgebotes werden verschiedenen Begründungen gegeben: „Gedenke, dass du Sklave warst im Land Ägypten und dass dich der HERR, dein Gott, mit starker Hand und ausgestrecktem Arm von dort herausgeführt hat. Darum hat es dir der HERR, dein Gott, geboten, den Sabbat zu begehen,“ heißt es in Deuteronomium 5,15. Israel soll den Sabbat als Erinnerung an die Rettung aus Ägypten feiern: Gott hat Israels aus der Existenz als Sklaven herausgeführt, und dem Volk somit Ruhe in einem eigenen Land verschafft. Wenn nun die Israeliten, jeden in ihrem Land, sogar den Arbeitstieren, an einem Tag Ruhe gewähren, dann handelt das Volk wie Gott: Es ruht nicht nur selbst an diesem Tag, sondern verschaffte auch anderen diese Ruhe. Aufgrund der Schöpfungsgeschichte und aufgrund der eigenen Heilsgeschichte soll Israel am siebten Tag der Woche, am Sabbat ruhen. Dieses Gebot ist gemäß dem Buch Exodus in der Schöpfungsordnung begründet und wird gemäß dem Buch Jesaja seine Gültigkeit für die gesamte Menschheit entfalten. In der kommenden Heilszeit werden die Völker am Sabbat den Gott Israels anbeten (Jesaja 66,23). Und dieses Gebot hat nicht nur eine theologische, religiöse Relevanz. Der Sabbat für Gott ermöglicht es der gesamten erschöpften Schöpfung das Atemholen – wie Jesus sagte: „Der Sabbat wurde für den Menschen gemacht, nicht der Mensch für den Sabbat.“ (Markus 2,27).
Vers 12: In seiner Auslegung dieses Gebots betont der Weisheitslehrer Jesus Sirach die Verantwortung, die erwachsene Kinder gegenüber ihren Eltern haben: „Kind, nimm dich deines Vaters im Alter an und kränke ihn nicht, solange er lebt!“ (Sirach 3,12). Und in den alttestamentlichen Gesetzen ist diese Mahnung todernst: „Wer seinen Vater oder seine Mutter schlägt, hat den Tod verdient. […] Wer seinen Vater oder seine Mutter verflucht, hat den Tod verdient.“ (Exodus 21,15.17). An vielen Stellen im Alten Testament wird deutlich, dass die Ehrung der Eltern bedeutet, sie nicht zu schlagen, nicht zu verfluchen, nicht zu verspotten, nicht zu verachten und nicht zu bestehlen. Doch das Vierte Gebot bedeutet mehr als die Summe dieser Verbote. Die am Anfang stehende hebräische Befehl כַּבֵּד (gesprochen: kabed) stammt von einem Wort, dessen Grundbedeutung „schwer sein“ aber auch „gewichtig sein“ ist. Die Frage nach der Brauchbarkeit und Nützlichkeit alter Eltern darf sich nicht stellen, sondern im Umgang mit ihnen soll ihnen sozusagen Gewicht verliehen werden in der Gesellschaft. Umfassend wird verlangt ihre Würde anzuerkennen und sie zu respektieren. In der mit dem Hebräischen verwandten akkadischen Sprache bezeichnet ein ähnliches Wort „die angemessene Altersversorgung und würdige Behandlung der alten Eltern durch ihre erwachsenen Kinder“. Wenn man nachschlägt, an welchen weiteren Stellen es im Alten Testament die im Vierten Gebot verwendete Befehlsform noch verwendet wird, wird eine zweite Bedeutungsebene deutlich, auf die bereits der jüdische Philosoph Philo von Alexandrien in der Antike verwiesen hat: „Es heißt: ehre deinen Vater und deine Mutter; und es heißt: ehre den Herrn deinen Gott [siehe zum Beispiel Ps 22,24]. Die Schrift hat somit die Ehrung von Vater und Mutter mit der Ehrung Gottes verglichen.“
Bereits innerhalb der Zehn Gebote ist die grundlegende Bedeutung dieses Gebotes sichtbar. Es ist das erste Gebot, dass nicht die Beziehung zu Gott thematisiert, sondern ausschließlich die Beziehung zum „Nächsten“ mit denen sich die folgenden, restlichen Gebote befassen. Zudem wird in der Version im Buch Deuteronomium nur im Falle des Sabbatgebotes und der Aufforderung zur Ehrung der Eltern ausdrücklich darauf verwiesen, dass dies Gott befohlen hat. Und zusätzlich wird in beiden Versionen, Motivation zur Einhaltung dieses Gebotes gegeben: „damit du lange lebst in dem Land, das der HERR, dein Gott, dir gibt!“ (Exodus 20,12). Der Verweis auf das verheißene Land verdeutlicht nochmals, dass das Volk Israel angesprochen ist. Ob der Einzelne Anteil daran hat, wird vom Verhalten der des erwachsenen Kindes gegenüber den alten Eltern abhängig gemacht. Im Buch Deuteronomium wird die Motivation nochmals gesteigert: „damit du lange lebst und es dir gut geht in dem Land, das der HERR, dein Gott, dir gibt!“ Wer seine Eltern ehrt, lebt nicht nur im Land, in dem Milch und Honig fließen, sondern er oder sie lebt gut. Das Gebot, Vater und Mutter zu ehren, beschreibt nicht konkret, welche Handlungen damit gefordert sind, sondern es setzt einen positiven Anfang, aus dem sich ein fortdauerndes würdevolles Verhalten ergibt – und zugleich steht im Hintergrund auch eine generationenübergreifende Tragweite: Wer seine altgewordenen Eltern ehrt, gibt seinen eigenen Kindern ein Vorbild dafür, wie er oder sie selbst im Alter behandelt werden sollen.
Vers 13: Das fünfte Gebot, das im Hebräischen nur aus zwei Wörtern besteht, definiert nicht, was verboten wird. Doch die Sprache ist eindringlich. Voran steht die Verneinung: Nicht! Und darauf folgt nur noch ein Wort – und es ist weder das typisch verwendete Wort für „töten“ noch das für „erschlagen“. In der antiken, jüdischen Übersetzung des Alten Testaments in Griechisches, genannt Septuaginta, wird die Bedeutung dieses Wort vereindeutigt: „Nicht sollst du morden!“. Es gibt in den alttestamentlichen Gesetzen eben auch ein erlaubtes Töten: das Töten von Tieren für Nahrung und zu Opferzwecken, das Töten von Menschen aus Notwehr, im Krieg und bei der Vollstreckung der Todesstrafe. Das fünfte Gebot verbietet scheinbar eine bestimmte Art des Tötens, die im Hebräischen mit dem Wort רָצַח (gesprochen: razach) ausgedrückt ist.
Allein der Umstand, dass es sich um ein Gebot handelt, legt den Schluss nahe, dass eine absichtliche und zu verurteilende Tötung verboten ist. Doch die Verwendung des Verbs רָצַח an anderen Stellen im Alte Testament führt zu einem anderen Verständnis. Im israelitischen Gesetz ist die Einrichtung von drei oder sechs Orten im Land vorgesehen, die einen Totschläger vor der Blutrache ohne Gerichtsverfahren schützen sollen: „Dann kann jeder, der einen Menschen getötet hat, in diese Städte fliehen.“ (Deuteronomium 19,3). Der folgende Gesetzestext unterscheidet dann zwischen einer unabsichtlichen und einer absichtlichen Tötung. Nur im Falle des Vorsatzes bieten die Asylstädte für den Totschläger keinen Schutz. An diesem Gesetz wird deutlich, dass dem im fünften Gebot verwendeten Wort noch keine Verurteilung zugrundliegt, sondern das Motiv über das Leben des Täters entscheidet. Deutlich wird dies in einer anderen Fassung des Gesetzes im Buch Numeri: „Der HERR sprach zu Mose: Rede zu den Israeliten und sag zu ihnen: Wenn ihr über den Jordan nach Kanaan zieht, dann sollt ihr einige Städte bestimmen, die euch als Asylstädte dienen. Dorthin kann einer fliehen, der einen Menschen unabsichtlich erschlagen hat.“ (Numeri 35,9-11). Das hebräische Wort רָצַח beschreibt das Faktum der Tötung, ob dies jedoch unabsichtlich oder absichtlich geschehen ist, sagt es nicht aus. Daher sollte man das fünfte Gebot im Deutschen auch nicht mit „Du sollst nicht morden!“ übersetzen. Mord meint ein vorsätzliches Tötungsdelikt. Das Gebot ist bewusst offen formuliert. Es legt nicht mal fest, wen es verbietet zu töten. Mit dem nur zwei Worte umfassenden fünften Gebot lässt sich kein Recht sprechen. Es definiert auch keinen Rechtsfall. Es ist scheinbar fast nichtssagend. Und gerade darin hat es seinen grundlegenden Wert als eine Art Grundgesetz: Der Mensch hat ein Recht auf Leben! In diesem Gebot geht es nicht um die Schuldfrage, nicht um die Motive der Tat – es geht nicht einmal um die Frage, wo die juristische Grenze zwischen erlaubt und unerlaubt zu setzen ist. In einer Vielzahl von Fällen erlauben die alttestamentlichen Gesetze die Tötung eines Menschen. Doch dem voraus steht das fünfte Gebot, das dem Schutz des menschlichen Lebens verschrieben ist.
Vers 14: Grammatikalisch gesprochen, richtet sich das Gebot an einen männlichen Plural. Diese Form kann jedoch auch Frauen als Angeredete einschließen – so sind in diesem Gebot wie im gesamten Dekalog alle Männer und Frauen Israels angesprochen. Nicht wird definiert, wer wessen Ehe bricht. Im Buch Levitikus wird deutlich der Ehebruch als ein „Einbrechen“ des Mannes in die Ehe einer Frau mit einem anderen Mann definiert: „Ein Mann, der mit der Frau seines Nächsten die Ehe bricht, hat den Tod verdient, der Ehebrecher und die Ehebrecherin.“ (Levitikus 20,10). Und die hier verwendeten hebräischen Wörter für Ehebrecher (נֹאֵף, gesprochen: no‘ef) und Ehebrecherin (נֹאָפֶת, gesprochen: no‘efet), leiten sich von dem auch im sechsten Gebot verwendeten Verb für „ehebrechen“ ab (נאף, gesprochen: na‘af). Scheinbar hat es zwei verschiedene Bedeutungen: Wenn Männer die Handelnden sind, dann brechen sie die Ehe eines anderen Mannes. Wenn Frauen die Handelnden sind, dann brechen sie die eigene Ehe. Diese Unterscheidung ist jedoch im sechsten Gebot so nicht explizit ausgedrückt, sondern ganz Israel ist aufgerufen, egal ob unverheiratet oder verheiratet, keine Ehe – also weder die eigene noch die eines Anderen – zu brechen. Die Ehe wird als ein zu schützendes Gut definiert, ohne dass sie auf ein Besitzverhältnis reduziert wird.
Vers 15: Das siebte Gebot benennt weder eine Strafe noch das Objekt der Straftat. Weder die Art des Eigentums wird definiert noch die Art und Weise wie es gestohlen wird. Wie in den prophetischen Mahnreden wird Diebstahl im Allgemeinen verurteilt, als eine das Zusammenleben schädigende Tat im Angesicht Gottes: „Hört das Wort des HERRN, ihr Söhne Israels! Denn der HERR verklagt die Bewohner des Landes: Es gibt keine Treue und keine Liebe und keine Gotteserkenntnis im Land. Nein, Fluch, Lüge, Mord, Diebstahl und Ehebruch machen sich bereit, Bluttat reiht sich an Bluttat.“ (Hosea 4,1-2). Das siebte Gebot ist nicht auf eine Art des Diebstahls wie zum Beispiel den Menschenraub begrenzt, sondern es schützt jedwedes persönliche Eigentum ohne Ausnahme, ohne nach dem Motiv der Tat zu fragen und ohne soziale Unterschiede zu machen.
Vers 16: Wörtlich übersetzt: „Nicht sollst Du sprechen gegen deinen Nächsten als Zeuge der Lüge.“ Diese Formulierung setzt nicht das Lügenzeugnis, sondern die persönliche Beziehung in den Mittelpunkt, die durch die Falschaussage zerstört wird. Man soll nicht zum lügenden Ankläger werden. Einen ausformulierten Rechtssatz, der das achte Gebot entfaltet, findet man im Buch Deuteronomium: „Wenn jemand vor Gericht geht und als Zeuge einen andern zu Unrecht der Anstiftung zum Aufruhr bezichtigt, wenn die beiden Parteien mit ihrem Rechtsstreit vor den HERRN hintreten, vor die Priester und Richter, die dann amtieren, wenn die Richter eine genaue Ermittlung anstellen und sich zeigt: Der Mann ist ein falscher Zeuge, er hat seinen Bruder fälschlich bezichtigt, dann sollt ihr mit ihm so verfahren, wie er mit seinem Bruder verfahren wollte. Du sollst das Böse aus deiner Mitte wegschaffen.“ (Deuteronomium 19,16-19).
Im Buch Deuteronomium ist das achte Gebot im letzten Wort abweichen formuliert. In der revidierten Einheitsübersetzung wird es folgendermaßen wiedergegeben: „und nicht Falsches gegen deinen Nächsten aussagen.“ (Deuteronomum 5,20). Wieder wörtlicher übersetzt steht dort: „Und nicht sollst Du sprechen gegen deinen Nächsten als Zeuge des שָׁוְא (gesprochen: schawe).“ Das verwendete hebräische Wort hat ein breites Bedeutungsspektrum und bezeichnet sowohl das Eitle, das Nichtige als auch die Lüge, die Falschheit und den Trug. Es ist umfassender als das in der Fassung des Buches Exodus verwendete Wort שֶׁקֶר (gesprochen: scheker), das die aggressiv gegen den Nächsten gerichtete, gemeinschaftsschädigende Wirkung der Lüge bezeichnet. Zudem wird durch die Wortwahl in der Version des achten Gebots eine direkte Verbindung zum zweiten Gebot gezogen, wie in einer wörtlichen Übersetzung sichtbar wird. Es verbietet nicht nur den Meineid, sondern jede Anrufung des Namens Gottes in Unehrlichkeit, Lüge und Nutzlosigkeit: „Nicht sollst Du den Namen JHWHs, deines Gottes zum Nichtigen / zur Falschheit (שָׁוְא) heben, … “. Damit könnte eine bewusste Ausweitung über den gerichtlich-anklagenden Kontext und somit eine Verallgemeinerung des achten Gebots angedeutet sein, wie sie sich in anderen alttestamentlichen Gesetzen zeigt.
Vers 17: Was steht an erster Stelle: das Haus oder die Ehefrau? Auf diese Fragen geben die beiden im Alten Testament überlieferten Fassungen der Zehn Gebote unterschiedliche Antworten. Die Stellung der Frau als Objekt der Begierde ist umstritten. Sowohl im Buch Exodus als auch im Buch Deuteronomium steht am Anfang des letzten Verses der Zehn Gebote: „du sollst nicht begehren …“. Damit ist weder eine reine Gedankensünde noch ein rein innerliches Verlangen gemeint. Das hier verwendete hebräische Wort חָמַד (gesprochen chamad) beschreibt einen Affekt, der zur Tat drängt. Ein solche Begehren wird am Anfang des letzten Verses der im Buch Exodus überlieferten Zehn Gebote verboten: „Du sollst nicht das Haus deines Nächsten begehren“ (Exodus 20,17). Damit ist nicht nur der Grundbesitz des Nächsten gemeint oder nur seine vier Wänden, die er sein Zuhause nennt, sondern auch im übertragenen Sinne seine Familie. Nichts von dem, was einem Hausherren gehört, darf ein anderer begehren. Um diese Aussage zu verdeutlichen wird im restlichen Vers das Verb nochmals wiederholt und es folgt eine Definition dessen, was mit „Haus“ gemeint ist: „Du sollst nicht die Frau deines Nächsten begehren, nicht seinen Sklaven oder seine Sklavin, sein Rind oder seinen Esel oder irgendetwas, das deinem Nächsten gehört.“ Hier wird die Frau, wie die Sklaven und die Nutztiere als Besitz definiert.
Im Buch Deuteronomium hingegen wird aus dem einen Gebot, das in der katholischen Zählung neunte und zehnte Gebot. Die Ehefrau des Nächsten bleibt weiterhin als Objekt der Begierde verboten, aber ihr wird einem vom „Haus“ abgehobene Rechtsstellung zugesprochen. Deuteronomium 5,21 beginnt mit den Worten: „und [du sollst nicht] nicht die Frau deines Nächsten begehren“. Der restliche Vers ist dann keine Erklärung dieses Gebotes, sondern es beginnt ein neuer Satz mit einem neuen Verb: „und du sollst nicht das Haus deines Nächsten verlangen, nicht sein Feld, seinen Sklaven oder seine Sklavin, sein Rind oder seinen Esel, nichts, was deinem Nächsten gehört.“ Hier wird nun nicht noch einmal das Verb חָמַד (gesprochen chamad) wiederholt, sondern das in der revidierten Einheitsübersetzung mit „verlangen“ übersetzte Wort ist אָוָה (gesprochen: a’wa). Beide Worte können im Alten Testament synonym verwendet werden. Hier jedoch markiert der Wechsel einen Neueinsatz. Sowohl im Buch Exodus als auch im Buch Deuteronomium werden durch die Formulierung des letzten Verses der Zehn Gebote zwei vorherige Verbote erweitert: das Verbot eine Ehe zu brechen und das Verbot zu stehlen. So enden die Zehn Gebote mit der Forderung des absoluten Respektes vor dem Nächsten. Insgesamt viermal kommt in den letzten beiden Versen des Dekalogs das hebräische Wort רֵעַ (gesprochen: re’a) vor, das den Mitmenschen und Nächsten meint. Es ist das allerletzte Wort der Zehn Gebote, nachdem ihre Verkündigung durch Gott mit den Worten Ich bin der HERR…“ angefangen hatte.