Lesejahr A: 2022/2023

1. Lesung (Ex 19,2-6a)

2Sie waren von Refidim aufgebrochen und kamen in die Wüste Sinai. Sie schlugen in der Wüste das Lager auf. Dort lagerte Israel gegenüber dem Berg.

3Mose stieg zu Gott hinauf. Da rief ihm der HERR vom Berg her zu:

Das sollst du dem Haus Jakob sagen und den Israeliten verkünden:

4Ihr habt gesehen, was ich den Ägyptern angetan habe, wie ich euch auf Adlerflügeln getragen und zu mir gebracht habe. 5Jetzt aber, wenn ihr auf meine Stimme hört und meinen Bund haltet, werdet ihr unter allen Völkern mein besonderes Eigentum sein. Mir gehört die ganze Erde, 6ihr aber sollt mir als ein Königreich von Priestern und als ein heiliges Volk gehören. Das sind die Worte, die du den Israeliten mitteilen sollst.

Überblick

Seid heilig! Seid Priester! Seid das Eigentum Gottes – das sind radikale Forderungen, die keine anhaltende Ehre, sondern fortdauernder Auftrag sind.

 

1. Verortung im Buch

„Wenn du das Volk aus Ägypten herausgeführt hast, werdet ihr Gott an diesem Berg dienen“, verheißt Gott dem gerade berufenen Mose (Exodus 3,12). Drei Monate nach dem Exodus kommt das Volk Israel nun an eben diesem Berg an. Und sie werden lange lagern – bis Numeri 10,11 –, bevor sie aufbrechen werden, um in das Verheißene Land zu ziehen. Hier, an diesem Berg wird Gott sich seinem Volk offenbaren, ihm den Dekalog geben und einen Bund schließen (Exodus 19-24) und er wird anordnen ein tragbares Heiligtum für ihn zu erbauen, damit er inmitten seines Volkes wohnen kann (siehe Exodus 40,34-38). Dieses Zeltheiligtum wird, wie es Benno Jacob ausgedrückt hat, zum „wandernden Zion“. Doch nun in Exodus 19 steht zuvorderst die Theophanie, das heißt die Erscheinung Gottes im Angesicht seines Volkes, im Vordergrund, wie sie in den Versen 16-19 erzählt wird: „Am dritten Tag, im Morgengrauen, begann es zu donnern und zu blitzen. Schwere Wolken lagen über dem Berg und gewaltiger Hörnerschall erklang. Das ganze Volk im Lager begann zu zittern. Mose führte das Volk aus dem Lager hinaus Gott entgegen. Unten am Berg blieben sie stehen. Der ganze Sinai war in Rauch gehüllt, denn der HERR war im Feuer auf ihn herabgestiegen. Der Rauch stieg vom Berg auf wie Rauch aus einem Schmelzofen. Der ganze Berg bebte gewaltig und der Hörnerschall wurde immer lauter. Mose redete und Gott antwortete ihm mit verstehbarer Stimme.“ (Exodus 19,16-19)

 

2. Aufbau

Bevor es zur Theophanie kommt, ergeht eine Gottesrede an Mose (Verse 4-6), die inhaltlich sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft schaut – sozusagen nach dem Muster: Ihr habt gesehen und nun werdet ihr sein!

 

3. Erklärung einzelner Aspekte

Verse 2-3: Das Volk lagert in der Wüste Sinai gegenüber dem Berg Sinai. Diese Differenzierung ist bedeutsam. Es handelt sich um zwei getrennte Bereiche an demselben Ort. Währen das Volk nun seinen bisherigen Weg beendet, steigt nur Mose auf den Berg hinauf, bzw. er steigt zu Gott hinauf, wie es in Vers 3 heißt – er ist der Vermittler zwischen beiden Bereichen. Das Volk ist nun an einer entscheidenden Wegmarke angekommen (siehe Exodus 3,12) – und dies wird direkt in den ersten Worten Gottes deutlich. Mose soll im Auftrag Gottes zum „Haus Jakobs“ und den „Israeliten“ (wörtlich: „Söhnen/Kindern Israels“) sprechen. Diese Bezeichnung „Haus Jakobs“ kommt im gesamten Pentateuch nur hier und an einer zweiten Stelle vor: „Insgesamt waren vom Haus Jakob siebzig Personen nach Ägypten gekommen“, steht in Gen 46,27. Nur wenige waren nach Ägypten gegangen; doch dort sind sie zu einem großen Volk geworden (siehe Exodus 1,5.7). Eben diese Erfüllung der Vermehrungsverheißung an die Erzeltern klingt darin an, wenn Gott Mose auffordert zum Volk zu sprechen und dieses als „Haus Jakob“ und „Söhne/Kinder Israels“ bezeichnet wird.

Vers 4: Gott erinnert das Volk an den Auszug auf Ägypten, an die Befreiung aus dem Sklavenhaus. Dies beschreibt er mit einem theologisch bedeutsamen, aber fragwürdigen Bild aus der Natur. Der in der Einheitsübersetzung als Adler wiedergegebene Raubvogel ist gemäß dem hebräischen Text eigentlich ein Geier, wahrscheinlich ein Gänsegeier. Ein Geier hat beeindruckend große Flügel, doch man hat noch nie beobachtet, dass eine Raubvogelart ihre Jungen auf den Flügeln transportiert (siehe aber auch Deuteronomium 32,11) – dies scheint auch physikalisch recht unwahrscheinlich. Der Vergleichspunkt für das Handeln Gottes sind die mächtigen Flügel des Geiers und die weiten Strecken, die diese Vögel zurücklegen können. Im Alten Testament ist es zudem eine weitverbreitete Bildsprache: So reitet Gott selbst auf den „Flügeln des Windes“ (2 Sam 22,11). Entscheidend ist die Aussage des in Vers 4 verwendeten Bildes: Gott selbst hat sein Volk an den Ort gebracht, an dem er sich ihm offenbaren will.

Vers 5: Der Bundesschluss Gottes mit seinem Volk steht erst noch bevor, doch nun mahnt Gott schon zur Einhaltung des Bundes. Dies ist nur auf den ersten Blick anachronistisch, wie sich auch aus den Worten Moses im Buch Deuteronomium erschließt: „Der HERR, dein Gott, schließt heute mit dir diesen Bund, um dich heute als sein Volk einzusetzen und dein Gott zu werden, wie er es dir zugesagt und deinen Vätern Abraham, Isaak und Jakob geschworen hat.“ (Deuteronomium 29,12). Der Bund des Volkes Israel mit seinem Gott basiert auf den Verheißungen an die Erzeltern, explizit an Abraham: „Ich richte meinen Bund auf zwischen mir und dir und mit deinen Nachkommen nach dir, Generation um Generation, einen ewigen Bund: Für dich und deine Nachkommen nach dir werde ich Gott sein. Dir und deinen Nachkommen nach dir gebe ich das Land, in dem du als Fremder weilst, das ganze Land Kanaan zum ewigen Besitz und ich werde für sie Gott sein.“ (Genesis 17,7-8). Die Verheißung, dass die Nachfahren Abrahams, Isaaks und Jakobs zum Volk Gottes werden, steht nun vor der Erfüllung. Dies wird jedoch nicht als zu vergebender Titel oder Zustand eingeführt, sondern „das besondere Eigentum“ Gottes zu sein, ist ein Prozess. Die Bedingungen für diesen Prozess werden am Sinai offenbart. Dass Gott die ganze Welt gehört, er aber Israel zu seinem besonderen Eigentum machen möchte, stellt eine Motivation dar. Was dies genau bedeutet wird im folgenden Vers erklärt.

Vers 6: Gottes besonderes Eigentum zu sein, bedeutet ein „heiliges Volk“ und ein „priesterliches Volk“ zu sein. Das entscheidende Kriterium ist die Unterscheidung. Das Heilige wird vom Profanen unterschieden – denn nur das Heilige kann im Angesicht des heiligen Gottes bestehen –, der Priester unterscheidet sich durch seinen Dienst und damit durch seine Nähe zu Gott von allen anderen. Es ist aber wichtig, dass dies für Israel keine Ehrung bedeutet, sondern ein Auftrag, den Martin Buber passend in eine Frage gekleidet hat: „Wie werden wir, was wir sind?“. Und die Antwort darauf ist: durch die Befolgung des Willen Gottes.

Auslegung

Wenige Kapitel später wird im Buch Exodus ein aus heutiger Sicht merkwürdiges Ritual beschrieben: „Da nahm Mose das Blut, besprengte damit das Volk und sagte: Das ist das Blut des Bundes, den der HERR aufgrund all dieser Worte mit euch schließt.“ (Exodus 24,8). Es gehört zur Weihe der alttestamentliche Priester, dass sie mit Blut von Opfertieren bespritzt und beschmiert werden (siehe Exodus 29,20-21). Daraus könnte man nun schließen, dass die Verheißung sich erfüllt hat. Israel sei ein „Königreich von Priestern und ein heiliges Volk“ geworden. Doch, es geht eben nicht um einen Zustand, sondern um einen Auftrag, der unter einer klaren Bedingung steht: „wenn ihr auf meine Stimme hört und meinen Bund haltet“. Man versteht die Beschreibungen Israels als heiliges und priesterliches Volk erst richtig, wenn man sie als Beschreibung dessen liest, was es bedeutet, Gottes besonderes Eigentum zu sein. Dass das Volk Gottes Eigentum ist, bedeutet, dass er frei darüber verfügen kann.

Kunst etc.

Flügel sind in der altorientalischen Bildsprache ein Symbol des Schutzes und der Macht. In der Umwelt der Bibel gab es viele verschiedene Raubvogelarten. Dass es sich bei den in Vers 4 genannten נֶשֶׁר (gesprochen: nescher), um eine Geierart handelt – wahrscheinlich um den früher in Palästina verbreiteten Gyps fulvus -, legt sich durch ein Blick auf das weitere Vorkommen dieses Wortes im Alten Testament nahe. Es ist ein kahlköpfiger Vogel (siehe Micha 1,16), der Aas frisst (siehe Ijob 39,27.30). Was das in Vers 4 verwendet Bild, das Gottes Handeln beschreibt, aussagen möchte, lässt sich gut anhand des Fotos eines Gänsegeier - hier im Anflug auf einen Falkne – visualisieren. Die ausgebreiteten Flügel im Himmel sind mächtig.

„Ein Gänsegeier im Anflug auf einen Falkner, aufgenommen im Zoo d'Amnéville“, fotografiert von Stefan Krause – Lizenz: CC 3.0.
„Ein Gänsegeier im Anflug auf einen Falkner, aufgenommen im Zoo d'Amnéville“, fotografiert von Stefan Krause – Lizenz: CC 3.0.

Verlinkte Bild-Info: „Ein Gänsegeier im Anflug auf einen Falkner, aufgenommen im Zoo d'Amnéville“, fotografiert von Stefan Krause – Lizenz: CC 3.0