In einer Nacht in Ägypten beginnt eine neue Zeitrechnung. Dieser eine Tag wird Israel für immer prägen.
1. Verortung im Buch
Es ist der Höhepunkt der Plagenerzählung erreicht. Mose und Aaron stehen im Namen Gottes dem Pharao gegenüber, der selbst nach neun Plagen das Volk Israels nicht aus der Sklaverei ziehen lassen will: „Der HERR verhärtete das Herz des Pharao, sodass er die Israeliten nicht aus seinem Land fortziehen ließ“ (Exodus 11,10). Mitten in dieser Spannung wird nicht direkt die Tötung aller Erstgeburten Ägyptens durch Gott, und somit die zehnte Plage erzählt, die zur Erlaubnis des Auszugs aus Ägypten führen wird, sondern in der Erzählung wird eine Kultanweisung gegeben, die die feierliche Erinnerung der bevorstehenden Befreiung für die kommenden Generation vorschreibt. Vor der Rettung wird Israel als Kultgemeinde Gottes konstituiert. So ist der Höhepunkt der Plagenerzählung zugleich ein Innehalten im Angesicht Gottes.
2. Aufbau
In der Rede Gottes zu Mose und Aaron gibt es zwei Sprechrichtungen. In Vers 2 sind nur sie angesprochen und eine Kalenderreform findet statt. Der Monat des Auszugs aus Ägypten soll der Anfangsmonat des Jahres sein. Erst nach dieser Festlegung sagt Gott die Worte, die Mose und Aaron an das Volk richten sollen. In den Versen 3-14 wird das gesamte Ritual beschrieben, dass die Israeliten vollziehen sollen und dies gilt zugleich für die kommenden Generationen als „ewige Satzung“.
3. Erklärung einzelner Verse
Vers 1: Der hier als Anfangsmonat des Jahres festgelegte Monat Aviv wird erst in Exodus 13,4 namentlich genannt. Wie zwei Stellen im Buch Exodus belegen, gab es auch die an der Ernte ausgerichtete Ordnung, dass das Jahr im Herbst endet. Der Monat Aviv hingegen liegt im Frühling. Vergleichbar mit der christlichen Zeitrechnung, die die Jahre nach der Geburt Christi zählt, wird somit hier der Jahresverlauf an dem für das Alte Testament entscheidenden Heilsereignis, der Befreiung aus Ägypten ausgerichtet.
Verse 3-7: Erstmals in der Bibel wird das Volk als „Gemeinde Israel“ bezeichnet und somit als Volks-, Rechts- und Kultgemeinde definiert. Diese Definition als Kollektiv wird nochmals in Vers 6 in der Bezeichnung als „versammelte Gemeinde Israels“ unterstrichen. Diese Gemeinschaft ist aufgeteilt in – wörtlich – „Väterhäuser“, d.h. Familien. Als Familien soll Israel das im Folgenden beschriebene Ritual gemeinsam begehen und feiern. Eine soziale Ausgrenzung darf es in dem Fest nicht geben: Ärmere Familien sollen sich in Solidarität zusammenschließen und ebenso wie alle anderen vier Tage bevor es geschlachtet wird, ein Lamm oder ein Böcklein zum Schlachten holen. Warum vier Tage vorher, erklärt der Text nicht. Es wird nur festgelegt, wie das Tier zu sein hat: Es muss den kultischen Kriterien für ein Opfer entsprechen – auch wenn es nicht geopfert, sondern in seiner Gänze verspeist werden wird. Nur das Blut dient nicht dem Mahl, sondern einer Symbolhandlung. Es soll an die Türpfosten gestrichen werden. Dies hat zwei Bedeutungen: Blut ist ein Symbol des Lebens und zugleich – wie Verse 12-13 verdeutlichen – ein schützendes Zeichen, das weiteres Blutvergießen verhindert.
Verse 8-11: In der Abenddämmerung, mit der im alttestamentlichen Verständnis der Tag beginnt, soll das Tier geschlachtet und noch in derselben Nacht vollständig aufgegessen werden. Die Verse schreiben genaustens vor, wie das Fleisch zuzubereiten und zu essen ist. Das Fleisch muss am Feuer gebraten, weder geschmort noch gekocht sein. Warum dies so zu tun ist, erklärt der Text nicht. Es könnte damit zusammenhängen, dass alles eilig innerhalb der Nacht geschehen muss. Die ungesäuerten Brote deuten auf eine schnelle Zubereitung hin sowie die abschließende Forderung: „Esst es hastig!“. Auch die Forderung, wie sich die Israeliten zum Essen zu kleiden haben, deutet auf ein Essen kurz vor den Aufbruch. Sich zu gürten, bedeutet sich für eine Wanderung bereit zu machen. Sandalen sind ein Symbol sowohl für eine freie, nicht-versklavte Person, wie auch für den langen bevorstehenden Weg. Und der Stab dient als Stütze und als Schutz auf eben diesem Weg. Das gemeinsame Essen stiftet Gemeinschaft und Solidarität für den bevorstehenden Weg, die in den kommenden Generationen ebenso durch dieses Mahl erinnert werden. Zugleich vergegenwärtigen aber die zu essenden Bitterkräuter auch das bittere Leben als Sklaven in Ägypten (siehe Exodus 1,14).
Verse 12-13: Während das Volk in Gemeinschaft beisammen ist und isst, wird es durch Gott gerettet. Das Heilshandeln Gottes ereignet sich parallel zum kultischen Geschehen. Die Macht des Gottes Israels zeigt sich daran, dass die Götter Ägyptens machtlos gegen ihn sind. Gott ist parteiisch und handelt zugunsten seines Volkes, das seine Weisung beachtet. In der Welt der Erzählung ist der Gott Israels noch einer unter vielen Götter – aber er ist mächtiger als die anderen.
Vers 14: Der Text beschreibt ein Einzelgeschehen, das Pessachfest in Ägypten, das in einer spezifischen Nacht stattfinden wird. Zugleich ist es „diese Nacht“, die jährlich wiederkehrt, indem Israel das Pessachfest feiert. So feiert Israel vor und nach seiner Befreiung aus Ägypten das Heilshandeln Gottes.