Die Weltgeschichte endet und beginnt auf ein Neues mit einem „Hochbetagten“ und einem „wie ein Menschensohn“. Ihre Weltherrschaft wird niemals enden.
1. Verortung im Buch
Das Buch Daniel besteht aus Erzählungen (Daniel 1-6) und Visionen (Daniel 7-12). Es ist durchzogen von der theologischen Aussage: Alle Auseinandersetzungen Israels mit fremden Großmächten führt am Ende zur Durchsetzung der weltweiten Königsherrschaft des Gottes Israels. In den Wirren der Zeit wird Gott als der zukünftige und ewige Herrscher über alle menschliche Macht dargestellt. Daniel ist ein apokalyptisches Buch, das heißt: Das sich in der Geschichte steigernde Unheil wird am Ende besiegt und es wird deutlich werden, dass der Gott im Himmel und nicht die Könige der Welt alle Macht besitzt: „Zur Zeit jener Könige wird aber der Gott des Himmels ein Reich errichten, das in Ewigkeit nicht untergeht; dieses Reich wird er keinem anderen Volk überlassen. Es wird alle jene Reiche zermalmen und endgültig vernichten; es selbst aber wird in alle Ewigkeit bestehen.“ (Daniel 2,44).
Die mit Daniel 7 einsetzenden Visionen sind klar datiert – zum Beispiel in Daniel 7,1: „Im ersten Jahr Belschazzars, des Königs von Babel“ (550 v. Chr.) -, aber sie sind Auseinandersetzungen mit der Not des Volkes Israels in der Zeit des hellenistischen Herrschers Antiochius Epiphanes IV., der einen neuen Festkalender einführte, das jüdische Gesetz außer Kraft setzte und den Kult verunmöglichte – wogegen die Makkabäer ihren Aufstand wagten (167-164 v- Chr.).
2. Aufbau
Die Vision Daniels in Kapitel 7 endet im großen Schrecken: „Darüber war ich, Daniel, im Geist verstört und meine Visionen erschreckten mich.“ (Vers 15). Die Vision selbst gliedert sich in zwei Szenen. Vier Tiere erstehen aus dem das Chaos symbolisierenden Meer und herrschen gewalttätig über die Welt; sie symbolisieren die vier Weltreiche: Babylonier, Meder, Perser und das durch Alexander des Großen von Makedonien ausgehende griechische die Welt hellenisierende Reich (Verse 2-8). Die Herrschaft der Weltreiche endet in der in den Versen 9-12 beschriebenen Gerichtszene und der Einsetzung eines neuen Herrschers gemäß Verse 13-14, der nicht aus dem Meer kommt, sondern von den „Wolken des Himmels“ und ewige Herrschaft über die gesamte Welt erhält. Für die Lesung wurden nur die Gerichtszene (Verse 9-10) – ohne das Urteil – und die Einsetzung des neuen Herrschers, der „wie ein Mensch“ ist (Verse 13-14), ausgewählt. Ebenso gehört die zweifache, folgende Auslegung der Vision in den Versen 17-18 und den Versen 19-27 nicht zum Lesungstext.
3. Erklärung einzelner Verse
Vers 9: Der Blick Daniel ist in seiner Vision auf die Erde gerichtet, auf der die zuvor geschilderten Auftritte der Bestien, die die Weltreiche symbolisieren, gesehen wurde. Auf der Erde werden nun mehrere Throne aufgestellt. Auf einem der Throne nimmt „ein Hochbetagter“ Platz. In Vers 10 nimmt dann auch das Gericht Platz, also könnte es sich bei den Thronen um die Sitze der zum Gericht versammelten Richter handeln, die von dem Hochbetagten angeführt werden. In altorientalischen Texten wird der kananäische Hauptgott El als ein weiser „Vater der Jahre“ mit grauem Bart beschrieben. Dieses außergewöhnliche, sehr vermenschlichte Gottesbild beschreibt hier das Auftreten des Gottes Israels. Die weiße Kleidung und die weißen Haare symbolisieren seine Reinheit. Seine Verbindung mit Feuer zeigt sowohl im positiven die Werte „Licht“, „Schutz“ und „Führung“ an als auch die im Folgenden weiter entfaltete Idee des Gerichts. „Feuer“ ist im Alten Testament immer eng verbunden mit Gotteserscheinungen; vgl. zum Beispiel das Erscheinen Gottes im brennenden Dornbusch in Exodus 3,2.
Vers 10: Das Feuer symbolisiert die göttliche Macht. Die Tausenden sind die vor Gott versammelten Engelsheere. Wer zum „Gericht“ gehört, erklärt der Text nicht. Vielleicht klingt hier die altorientlische Idee eines göttlichen Thronsaals an, in dem sich alle Götter zum Gericht versammelten. Im Text hängt das Verständnis dieser Leerstelle mit dem in der Vision und deren Auslegung verwendeten Bezeichnung der „Heiligen des Höchsten“ zusammen (siehe dazu „Auslegung“).
Vers 13: Die Verse 11-12 berichten von der Todesstrafe des vierten Tieres und der Bestrafung der anderen drei Tiere. Nach dieser Entmachtung der Weltreiche tritt jemand „wie ein Menschensohn“ vor Gott. So wie die Beschreibung Gottes in Vers 9 an den kananäischen Hauptgott El erinnert, so ist die auftretende Figur nun eine Erinnerung an den Wettergott Baal, der in den altorientalischen Texten als „Wolkenreiter“ beschrieben wird. In der kananäischen Mythologie besiegt er den mit dem Meer – aus dem die vier Bestien emporstiegen - assoziierten Gott Jam und wird zum König ausgerufen. Die Parallelen aus der altorientalischen Umwelt des Alten Testaments dienen jedoch nur dem besseren Verständnis und nicht der Deutung dieser Person, die gemäß dem aramäischen Text „wie ein Menschensohn“, das heißt „wie ein Mensch“ ist – siehe zur Deutung dieser Person die Ausführungen unter „Auslegung“.
Vers 14: Im Buch Daniel wurde zuvor dem neubabylonischen König Nebukadnezar II. (605-562 v. Chr.) fast allumfassende Macht verliehen: „Du, König, bist der König der Könige; dir hat der Gott des Himmels Herrschaft und Macht, Stärke und Ruhm verliehen.“ (Daniel 2,44). Die Herrschaft des „wie ein Mensch“ wird jedoch ewig sein und anders als die menschlichen Weltreiche, wird sein Reich nicht untergehen.