Lesejahr B: 2023/2024

1. Lesung (Dan 12,1-3)

121In jener Zeit tritt Michael auf, der große Fürst, der für die Söhne deines Volkes eintritt. Dann kommt eine Zeit der Not, wie noch keine da war, seit es Völker gibt, bis zu jener Zeit. Doch zu jener Zeit wird dein Volk gerettet, jeder, der im Buch verzeichnet ist.

2Von denen, die im Land des Staubes schlafen, werden viele erwachen, die einen zum ewigen Leben, die anderen zur Schmach, zu ewigem Abscheu.

3Die Verständigen werden glänzen wie der Glanz der Himmelsfeste und die Männer, die viele zum rechten Tun geführt haben, wie die Sterne für immer und ewig.

Überblick

In der damaligen Zeit erklingt erstmals ein radikal neuer und für das heutige Denken fast selbstverständlicher Gedanke: die Auferstehung der Toten und das endgültige Gericht. 

 

1. Verortung im Buch

Die Hoffnung liegt im Zusammenbruch der menschlichen Macht. Dieser Pessimismus scheint in der sogenannten Apokalyptik ausgedrückt zu sein. Im Buch Daniel wird vorausgesagt, dass erst die größte Tragödie der Menschheit sich ereignen muss, bevor Israel gerettet wird. Sozusagen aus der Asche wird in der „Zeit der Bedrängnis“ sich das Volk wieder zu neuen Höhen erheben können.

In der großen Abschlussvision des Buches Daniel (10,1-12,13) wird die Endzeit, die der Prophet bevorstehen sieht, innerhalb des damaligen geschichtlichen Kontext beschrieben. Daniel wird unterrichtet über bevorstehende Kriege zwischen Persern und Griechen, über die das Reich Alexanders des Großen aufreibenden Kämpfe zwischen dem „König des Südens“ (d.h. den Ptolemäern) und dem König des Nordens (d.h. den Seleukiden) und das Eingreifen der „Schiffe aus Kittim“ (d.h. die Römer). In diesem geschichtlichen Kontext, der auch durch innerjüdische Konflikte und des Martyriums aufgrund von JHWH-Treue geprägt ist, wird das Gericht zwischen Frommen und Frevlern vollzogen werden (12,1-11).

Der Autor des Buches Daniel verfasste sein Werk vermutlich zwischen 168 und 164 v.Chr. Er beschreibt die Verfolgung und Unterdrückung der JHWH-Treuen des Judentums durch den seleukidischen Herrscher Antiochos IV. Epiphanes (gestorben 164 v.Chr.): „Er stellt Streitkräfte auf, die das Heiligtum auf der Burg entweihen, das tägliche Opfer abschaffen und den unheilvollen Gräuel aufstellen.“ (Daniel 11,31). Doch von der im Dezember 164 v.Chr. sich ereignenden Wiederherstellung und -einweihung des Tempels durch die Makkabäer weiß er nichts zu berichten.   

 

2. Aufbau

Vers 1 ist geprägt durch die dreifache Wiederholung der Worte „in jener Zeit“, die das Geschrieben direkt auf die Vision in den vorherigen Versen (Daniel 11,40-45) bezieht. In Vers 2 erklingt das erstmals in der Geschichte der Bibel der Glaube an die Auferstehung von Toten und einem folgenden endgültigen Gericht über Leben und Tod. Vers 3 ist dann eine Verheißung.

 

3. Erklärung einzelner Verse 

Vers 1: Mit den Worten „in jener Zeit“ wird verdeutlicht, dass das endzeitliche Gericht nicht in ferner Zeit zu verorten ist, sondern in den zuvor in Daniel 11,40-45 vorausgesehenen geschichtlichen Ereignissen – dem Konflikt zwischen dem seleukidischen Herrscher Antiochos IV. Ephiphanes und dem ptolemäischen Herrscher Ptolemaios VI. Philometor (vgl. Daniel 11,40: „Zur Zeit des Endes streitet mit ihm [d.h. Antiochos] der König des Südens.“). Die Nennung des Engels Michael führt die Darstellung aus dem geschichtlichen Kontext nun jedoch hinaus auf eine andere Ebene. Michael wird als der „große Fürst“ bezeichnet – dahinter steht die Annahme, dass alle Völker im Himmel Repräsentanten bzw. Patronen haben; und Michael kämpft für Israel im Himmel gegen den Fürsten der Griechen (Daniel 10,21). Der Widerstand der JHWH-Treuen gegen die Unterdrückung ihrer Religion durch Antiochos IV. Epiphanes wird in himmlischen Dimensionen als Kampf zwischen dem Engel Michael und dem „Fürsten Jawans“ (d.h. dem Fürsten der Griechen) verstanden. Der in Daniel 11,45 angekündigte Tod des seleukidischen Herrschers wird als Sieg Michaels dargestellt. – Es ist, nebenbei erwähnt, untypisch das im Alten Testament Engel (das sind eigentlich Boten Gottes) Namen tragen.  

Vers 2: Der vorherige Vers schließt mit der Verheißung, dass jeder in der Endzeit gerettet wird, der „im Buch verzeichnet ist“. Dieses Buch ist das „Buch des Lebens“, indem diejenigen Gerechten, die Gott zu seiner auserwählten Gemeinschaft rechnet, eingetragen sind (vgl. die Bitte in Psalm 69,28-29: „Rechne ihnen Schuld über Schuld an, damit sie nicht eingehen in dein Heil! Sie seien aus dem Buch des Lebens getilgt und nicht bei den Gerechten verzeichnet.“). Im damaligen geschichtlichen Kontext stellte sich virulent die Frage, was mit denjenigen geschehen wird, die für ihren Glauben den Tod hingenommen haben. Den Märtyrern wird eine ausgleichende Gerechtigkeit verheißen. Diejenigen, die sich im Leben als Gerechte erwiesen haben, wird das ewige Leben verheißen. Diese Verheißung hinterlässt beim Leser jedoch viele Fragen: Warum werden nur viele und nicht alle zum Gericht erwachen? Wer sind diejenigen, die erwachen? Die Vermutung liegt nahe, dass die Gerechten zum Ewigen Leben auferstehen und bei ihrem Beisein den Apostaten und Unterdrückern das Urteil des ewigen Todes mitgeteilt wird. Es geht jedoch nicht nur um die individuelle Auferstehung zum ewigen Leben, sondern das Fortbestehen Israels als Volk aus Gerechten wird verheißen. 

Vers 3: Die Verständigen sind die Weisen, die in der Torah Gottes Schöpfungsordnung und seinen Willen erkannt und deren Einhaltung trotz aller Widerstände gelehrt haben (vgl. Daniel 11,33: „Die Verständigen im Volk bringen viele zur Einsicht; aber eine Zeit lang zwingt man sie nieder mit Feuer und Schwert, mit Haft und Plünderung“). Deutlich wird die Betonung nicht auf das Martyrium gelegt, sondern auf die Lehre, die in jener Zeit tödlich sein konnte.  Sie, diese verständigen Lehrer, werden mit glänzenden Himmelkörpern, den Sternen, verglichen, die gemäß Ijob 38,7 Gott zujauchzen und mit den Gottesöhnen identifiziert werden. Vielleicht wird ihnen verheißen selbst zu Engeln zu werden. Ohne Zweifel deutet der Vergleich auf die ewige und himmlische Existenz hin. 

Auslegung

Erstmals in der Geschichte der Entstehung des Alten Testament wird eine Hoffnung niedergeschrieben, die im Zentrum des späteren Christentums steht. In der altorientalischen Welt sowie in weiten Teilen des Alten Testaments wartete auf die Toten nach dem diesseitigen Leben eine schattenhafte Existenz in der Unterwelt (שאול, gesprochen: sheol). Dieser Ort wird als Land des Staubes, der Finsternis und des Vergessens beschrieben, der den Menschen von seinem Gott trennt. Immer wieder wird in den Psalmen darauf hingewiesen, dass die Toten Gott nicht loben. Im Angesicht des Todes ruft der Beter in Psalm 88 den Gott des Lebens um Rettung an und verweist darauf, dass sein Tod ein Verlust für Gott selbst ist: „Wirst Du an den Toten Wunder tun, werden Schatten auferstehen, um dir zu danken? Erzählt man im Grab von deiner Huld, von deiner Treue im Totenreich?“ (Psalm 88,10-11). 

Die rhetorischen Fragen in Psalm 88 finden aber im Alten Testament, vor allem in den späten Schriften eine bejahende Antwort: „Von denen, die im Land des Staubes schlafen, werden viele erwachen, die einen zum ewigen Leben, die anderen zur Schmach, zu ewigen Abscheu.“ (Daniel 12,2). Hinter dieser Aussage steht im Buch Daniel die Frage nach einer abschließenden Gerechtigkeit nach dem Tod. Welchen Lohn erhalten die Märtyrer der Religionsverfolgungen in der Zeit der hellenistischen Herrschaft (2. Jahrhundert vor Chr.)? Die Makkabäerbücher erzählen zur selben Zeit die Geschichte von sieben Brüdern und ihrer Mutter, die gezwungen werden sollten, Schweinfleisch zu essen. Sie verweigern es aufgrund des im alttestamentlichen Gesetz ausgesprochenen Verbotes. Daher werden sie gefoltert und ermordet. Sie sterben freiwillig den Märtyrertod im Glauben an die Auferstehung: „der König der Welt wird uns zu einem neuen Leben auferstehen lassen, weil wir für seine Gesetze gestorben sind“, sagt einer der Brüder kurz vor seinem Tod (2 Makkabäer 7,9)

In der Vision des Buches Daniel ist die Verheißung der Auferstehung ein Neuanfang aus dem geschichtlichen Tiefpunkt heraus. Der Weg führt sozusagen durch den Tod zum Leben. Aber das Neue existiert aufgrund des Vergangenen. Diejenigen, die jetzt das Kommende nicht nur verstehen, sondern dementsprechend handeln, sie werden der Finsternis entkommen. Dies ist kein abstrakter Glaube, sondern eine Lebensform, die Gerechtigkeit im Hier und Jetzt verwirklichen will. Daher liegt die Betonung auch nicht auf dem Martyrium, sondern darauf, dass diejenigen, die auferstehen werden, die „Verständigen“ sind – d.h. diejenigen, die den Willen Gottes trotz Todesgefahr gelehrt und ihm entsprechend exemplarisch vorgelegt haben. 

Kunst etc.

Der im Buch Daniel erstmals auftretende Engel Michael, der hier als himmlischer Kämpfer für Israel auftritt, wird später in der Kunst dann häufig als Seelenwäger dargestellt (die Aussagen in Vers 1 und 2 werden somit direkt verbunden). Er tritt mit einer Waage in der Hand auf, die entscheidet, ob die guten oder schlechten Taten der gestorbenen Person überwiegen. In der Rezeptionsgeschichte wurde somit das Bild des kriegerischen Michael erweitert zum Vollstrecker des göttlichen Endzeitgerichts über das ewige Leben oder die ewige Abscheu.

Fresko (1775), Katholische Pfarrkirche St. Vitu in Kottingwörth. Fotografiert von Mattana. Lizenz: CC BY-SA 3.0.
Fresko (1775), Katholische Pfarrkirche St. Vitu in Kottingwörth. Fotografiert von Mattana. Lizenz: CC BY-SA 3.0.