Lesejahr B: 2023/2024

1. Lesung (Am 7,12-15)

12Zu Amos aber sagte Amazja:

Seher, geh, flieh ins Land Juda! Iss dort dein Brot und prophezeie dort! 13In Bet-El darfst du nicht mehr prophezeien; denn das hier ist das königliche Heiligtum und der Reichstempel.

14Amos antwortete Amazja:

Ich bin kein Prophet und kein Prophetenschüler, sondern ich bin ein Viehhirte und veredle Maulbeerfeigen. 15Aber der HERR hat mich hinter meiner Herde weggenommen und zu mir gesagt:

Geh und prophezeie meinem Volk Israel!

Überblick

Der Prophet lässt sich auch von Autoritäten, das Wort nicht verbieten – denn er verkündet Gottes Wort (auch wenn es Unheil verheißt).

 

1. Verortung im Buch

Mitten im Buch Amos steht ein Fremdbericht, der die finale Konfrontation des Propheten mit den politischen und kultischen Autoritäten des Nordreiches erzählt. Das Buch beginnt mit einem Blick auf die Nachbarstaaten des Nordreichs. Um zu erobern, gehen sie über Leichen. Menschen werden umgesiedelt oder als Sklaven verkauft. Es wird auf bestialische Art und Weise getötet und gefoltert. Es geht ihnen um Macht und nicht um die Achtung menschlicher Würde. Der Völkerspruchzyklus, mit dem das Buch beginnt (Amos 1,3-2,16) formuliert Gottes Gericht: Er regiert mit strafender Gewalt auf ihre Menschenrechtsverletzungen. Vor diesem Gericht bleibt auch das Nordreich Israel nicht verschont. Die Anklage gegen die grausamen Kriegsverbrechen der Nachbarstaaten dient der Dramatisierung der Anklage gegen das Nordreich: In Israel wird Krieg geführt gegen die Armen des eigenen Volkes – Schuldner werden in die Sklaverei verkauft, das Recht wird gebeugt, sozial Abhängige werden sexuell missbraucht und den Ärmsten wird der letzte Besitz unrechtmäßig gepfändet. Als Antwort darauf wird JHWH Krieg gegen sein eigenes Volk führen, den Tempel als Ort der Beziehung zu ihm samt des Staates vernichten, wie der dritte Teil des Buches in einem Visionszyklus ausführlich entfaltet (Amos 7,1-9,6). Das Gericht trifft das Gottesvolk im besonderen Maße, da sich aus der Erwählung ein gehobener Handlungsmaßstab ergibt: "Hört dieses Wort, das der HERR gesprochen hat über euch, ihr Söhne Israels, über den ganzen Stamm, den ich aus Ägypten herausgeführt habe. Nur euch habe ich erkannt unter allen Stämmen der Erde; darum suche ich euch heim für alle eure Vergehen." (Amos 3,1-2).

Inmitten des Visionszyklus, zwischen der dritten und vierten Vision, steht der Fremdbericht Amos 7,10-17. In dem Vers zuvor verkündet Gott in einer Vision dem Propheten Amos: „Isaaks Kulthöhen werden verwüstet und Israels Heiligtümer zerstört; mit dem Schwert erhebe ich mich gegen das Haus Jerobeam“ (Vers 9). Dass Amos diese Visionen nicht nur empfangen, sondern auch verkündet hat, wird dann in der folgenden Erzählung deutlich – jedoch hört die Elite des Nordreiches nicht auf die Sozialkritik des Propheten, sondern wendet sich gegen die das Machtsystem stabilisierende Unheilsankündigung: „Amazja, der Priester von Bet-El, sandte zu Jerobeam, dem König von Israel, und ließ ihm sagen: Mitten im Haus Israel hat sich Amos gegen dich verschworen; seine Worte sind unerträglich für das Land. Denn so sagt Amos: Jerobeam stirbt durch das Schwert und Israel muss in die Verbannung ziehen, fort von seinem Boden.“ So bestätigt die Reaktion des Priesters Amazja sozusagen das Gottesurteil; er ist unfähig das Wort Gottes zu hören, sondern sorgt sich um die Erhaltung des Machtsystems. In der folgenden Vision zeigt sich dann, dass Gott bei seinem Urteil bleibt und Amos dieses unbeirrt der Drohungen Amazjas weiterhin verkündet: „Da sagte der HERR zu mir: Gekommen ist das Ende zu meinem Volk Israel“ (Amos 8,2).

2. Aufbau

Den für die Lesung ausgewählten Versen geht der Bericht voraus, dass der Priester Amazja, dem König über die Unheilsverkündigung Amos‘ berichtet. Er berichtet nicht über dessen Sozialkritik, sondern über die Unheilsverkündigung gegen das auf Frieden und Ruhe bedachte System des Machterhalts. Insgesamt ist der Fremdbericht (Verse 10-17) weniger eine Erzählung, sondern eine Aneinanderreihung von Zitaten und Reden. Im Zentrum steht der Kontrast zwischen den Worten Amazjas („Seher, geh, flieh ins Land Juda! Iss dort dein Brot und prophezeie dort!“ [Vers 12] und den zuvor an Amos ergangenen Worten Gottes („Geh und prophezeie meinem Volk Israel!“).

Das letzte Wort im Gespräch zwischen Amazja und Amos hat Gott, dessen Wort der Prophet dem Priester verkündet. Ein Urteil wird gefällt: Amazja hat sich nicht nur gegen Amos, sondern damit gegen Gott gestellt: „Darum höre jetzt das Wort des HERRN! Du sagst: Prophezeie nicht gegen Israel und geifere nicht gegen das Haus Isaak! Darum - so spricht der HERR: Deine Frau wird zur Hure in der Stadt, deine Söhne und Töchter fallen unter dem Schwert, dein Boden wird mit der Messschnur verteilt, du selbst stirbst auf unreinem Boden und Israel muss in die Verbannung ziehen, fort von seinem Boden.“ (Vers 16-17) – und dies bestätigt nochmals die Unheilsverkündigung Amos‘, die der Priester in Vers 10-11 dem König berichtet hatte; und die sich dann 722 v. Chr. im Untergang des Nordreiches bewahrheiten sollte. 

 

3. Erklärung einzelner Verse

Vers 12: Der Anrede Amos als „Seher“ durch den Priester Amazja beinhaltet aus der Perspektive der Leser eine gewisse Ironie. Nicht nur wird Amos in der Buchüberschrift als „Seher“ vorgestellt, sondern in den im Buch zuvor wiedergegeben drei Visionen (Amos 7,1-9), die Gott ihm zuteilwerden lässt, sieht Amos den Untergang des Nordreiches Israel voraus. Amazja redet somit Amos als den an, der er ist – doch er missversteht die Situation vollends. Er fordert Amos durch eine doppelte Aufforderung zur Flucht auf. Er solle in das Südreich – aus dem er stammt – zurückkehren. Gemäß der Überschrift des Buches stammte aus Tekoa, einem 13 Kilometer südlich von Jerusalem gelegenen Ort. Amazja sieht in Amos kein Sprachrohr Gottes, sondern jemanden, der seinen Lebensunterhalt durch Prophezeiungen verdient (Micha 3,5) – das solle er nun im Südreich und nicht mehr im Nordreich tun. Damit steht vielleicht indirekt der Vorwurf im Raum, dass Amos von jemandem bezahlt wird und deshalb das Unheil gegen das Nordreich verkünde. 

Vers 13: In der biblischen Überlieferung ist Bet-El kein unbedeutender Ort. Dort hatte bereits der Erzvater Jakob einen Altar errichtet (Genesis 31,13). Mit der Abspaltung des Nordreiches vom Königshauses Davids, wurde in Bet-El und in Dan im Kontrast zu Jerusalem je ein Heiligtum gebaut und eine neue Priesterschaft eingesetzt (1 Könige 12,26-33). Bet-El war in der Zeit Amos’ das kultische (und auch ein politisches) Zentrum – in dem er prophezeite und aus dem er verjagt wird. Im hebräischen Text sind die Worte Amazjas sehr deutlich: nie wieder soll er dort prophezeien.

Vers 14: Die Antwort des Amos kann im Deutschen nicht adäquat wiedergegeben werden, denn er ist ein Prophet und zugleich doch nicht. Der Wiedergabe in der revidierten Einheitsübersetzung („Ich bin kein Prophet und kein Prophetenschüler“) liegt ein Satz im Hebräischen zugrunde, der kein Verb enthält – wörtlich steht dort „Kein Prophet – ich; und kein Schüler eines Propheten - ich“. Ohne Zweifel verneint Amos hier, dass er zu seinem finanziellen Vorteil als Prophet auftritt. Er ist kein Berufsprophet, sondern verdient sein Geld auf andere Weise; er war kein Prophet, sondern ein Landwirt („ein Maulbeerfeigenritzer“ – siehe dazu „Kunst etc.“) und Viehbesitzer, als Gott ihn dazu berief sein Prophet zu sein.  

Vers 15: Der Rückblick auf seine Berufung unterstreicht, dass man den Anfang der Antwort Amos‘ auch folgendermaßen übersetzen könnte: „Ich war weder ein Prophet noch ein Prophetenschüler“. Nun jedoch erzählt er von seiner Berufung zum Propheten. Wie die Hirten Mose und David, wurde er auch von seiner Viehherde weggerufen Exodus 3,1-2 und 1 Samuel 16,11. Das folgende Gotteswort bei der Berufung steht im wörtlichen Kontrast zu den Worten des Priesters Amazja in Vers 12: „Seher, geh, flieh ins Land Juda!“ – Amos ist nicht berufen wurden, um zu flüchten. Die Bedeutung der in Vers 15 erinnerten Berufung Amos‘ verdeutlicht sich sprachlich, dass sowohl die Erzählung der Berufung, bzw. der Auserwählung zum Propheten und als auch der Auftrag bewusst JHWH als Subjekt nennen. Das Gotteswort zeigt zudem nochmals deutlich, dass Amos ein Prophet aufgrund göttlicher Berufung ist („prophezeie!“) und im Namen Gottes im Nordreich dessen Worte zu verkünden hat (entgegen der Aufforderung Amazjas an Amos in Vers 13).  

Auslegung

Die im Buch Amos gesammelten Texte gehören zu den düstersten und härtesten Gerichtsprophetien des Alten Testaments. Daher ist es nicht verwunderlich, dass der Priester Amazja dem regierenden König empfiehlt, Amos des Landes zu verweisen: „Das Land ist nicht fähig, alle seine Worte zu ertragen“ (Amos 7,10). Das Gespräch zwischen Amos und Amazja zeigt einen Loyalitätskonflikt auf. Der Priester, der eigentlich Gott dient, handelt hier als Berater des Königs. Amos hingegen ist ganz seinem Gott verpflichtet. Amazja scheint das Heiligtum in Bet-El und somit den Kult schützen zu wollen, aber im Endeffekt verschließt er sich vor dem Wort Gottes, versucht es gar zum Schweigen zu bringen.

Die Botschaft des Propheten Amos war wie ein Stachel in einer Wunde, an der die Gesellschaft verblutete. Sie macht auch vor den Eliten, weder vor Politikern noch Priestern halt. Für Amazja und Jerobeam gab es aus der Sicht Amos keine Hoffnung mehr. Für diejenigen, die das Buch Amos überlieferten und in die Bibel übernahmen, ist seine Botschaft eine Warnung an die, die auch heute noch umkehren können, um sich am Aufbau einer sozialgerechten Gesellschaft zu beteiligen.

Kunst etc.

Nebenbei wird in den Worten Amos erwähnt, dass er seinen Lebensunterhalt neben dem Viehbesitz durch die Veredlung von Maulbeerfeigen (auch genannt „Sykomore") verdiente. Wörtlich steht im hebräischen Text: „[ich] ritze Maulbeerfeigen“ (Vers 14). Durch das Ritzen wird verhindert, dass in der Frucht Gallen ausbilden, die sie ungenießbar werden lassen. Zudem wird Äthylengas freigesetzt, das den Reifungsprozess fördert. Aus der Perspektive der Leser des Buches Amos kann diese Tätigkeit als Bild für seine Verkündigung verstanden sind, seine Unheilsprophezeiungen können bei heutigen Lesern dazu führen, genießbare Früchte hervorzubringen, wenn sie nicht wie Amazja ihre Ohren für das Wort Gottes verschließen, sondern die auch heute noch relevante Sozialkritik erstnehmen. Der Maulbeerfeigenbaum bringt reiche Frucht – die Frage ist jedoch, ob sie genießbar oder ungenießbar, gut oder schlecht ist.

„Ficus sycomorus in Tel Aviv-Yafo“, fotografiert von Biberbaer. Lizenz: CC BY-SA 4.0.
„Ficus sycomorus in Tel Aviv-Yafo“, fotografiert von Biberbaer. Lizenz: CC BY-SA 4.0.