Die Verkündigung des Evangeliums fordert ein erstes Opfer, denn der Wortgewandtheit und dem Geist, mit denen Stephanus von Jesus Christus erzählt, ist nur mit dem Tod ein Ende zu bereiten.
1. Verortung im Buch
Die Erzählung vom Wirken und Sterben des Stephanus beendet innerhalb der Apostelgeschichte den erzählerischen Abschnitt, der sich ganz der Situation der christlichen Gemeinde in Jerusalem widmet. Nach dem Tod des Stephanus weitet sich der Fokus auf die Entwicklung der Gemeinde in Judäa und Samaria.
2. Aufbau
Der Abschnitt ist aus zwei Teilen zusammengesetzt. So wird uns zunächst die Person des Stephanus vorgestellt und sein Wirken beschrieben (6,8-10), um im Anschluss von seinem gewaltsamen Tod zu berichten (7,54-60). Zwischen den beiden Teilen ausgelassen ist die große Rede des Stephanus, in der er sich verteidigend die Geschichte Gottes mit den Menschen in der Geschichte Israels nachzeichnet.
3. Erklärung einzelner Verse
Vers 8: Zunächst wird Stephanus als Person beschrieben. Er gehört zu den sieben Diakonen, die sich die Gemeinde von Jerusalem auswählte, um die caritative Sorge gegenüber den Witwen in der Gemeinde leisten zu können (Apostelgeschichte (Apg) 6,1-7). Die Charakterisierung des Stephanus als Mann mit charismatischer Begabung ("voll Gnade und Kraft") schließt an Vers 5 an. Dort heißt es von ihm, er sei "erfüllt vom Glauben und dem Heiligen Geist". Offenbar konnte er kraftvoll das Evangelium verkünden und zwar und Wort und Tat, wie die Formulierung "Wunder und große Zeichen" nahe legt. Welche Form von Wunder genau durch Stephanus geschehen sind, bleiben offen. Als griechisch sprechender Christ wird Stephanus vor allem bei anderen griechisch sprechenden Juden in Jerusalem für den Glauben an Jesus von Nazareth geworben haben.
Verse 9-10: Die Verkündigung und die Klugheit des Stephanus erregen Aufmerksamkeit, insbesondere unter den Juden. Im Folgenden werden unterschiedliche Gruppierungen von Juden benannt. Es ist historisch davon auszugehen, dass sich in Jerusalem Juden unterschiedlicher Interessensgruppen oder Herkunftsregion in je eigenen Synagogengemeinschaften zusammen fanden und auf diese Weise ihre gemeinsame Identität stärkten. Die "Libertiner" sind freigelassene jüdische Sklaven und ihre Nachkommen. "Kyrener" bezeichnet Juden aus Nordafrika, bekannt ist aus der Passionsgeschichte Simon von Kyrene, der Jesus das Kreuz tragen musste. Die "Alexandriner" sind Juden aus Alexandria in Ägypten. Dort gab es eine relativ wohlhabende jüdische Gemeinde, die in der Wissenschaftsstadt Alexandria mit der griechischen Kultur und Lebensweise eng verbunden war. Die Regionen "Kilikien" und "Asia" gehören zu den römischen Provinzen in Kleinasien. Kilikien liegt an der südöstlichen Küste, Tarsus, die Geburtsstadt des Paulus liegt hier. Die Provinz "Asia" mit Ephesus als Hauptstadt und antiker Großstadt liegt im Westen von Kleinasien.
Vers 54: Der Text setzt sehr unmittelbar mit der Reaktion der Mitglieder des Hohen Rates der Juden ein, vor denen Stephanus seine Verteidigungsrede hält. Nachdem man gegen ihn Anklage erhoben hatte: "Dieser Mensch hört nicht auf, gegen diesen heiligen Ort [Tempel] und gegen das Gesetz zu reden." (Apg 6,13), steht Stephanus dem Hohen Rat Rede und Antwort. Er legt dar, wie Gott immer wieder sein Volk durch die Geschichte begleitet, nimmt Bezug auf die großen Glaubensfiguren der jüdischen Geschichte wie Abraham, Josef und Mose und zeigt auch auf, dass sich das Volk immer wieder gegen Gottes Weisungen gewendet hat. Die Weigerung in Jesus den Sohn Gottes und ersehnten Messias zu erkennen, ist für Stephanus ein weiteres Zeichen der Abkehr von Gott. Genau dies wirft er den Mitgliedern des Hohen Rates in seiner "Verteidigungsrede" vor. Entsprechend fällt deren Reaktion aus: sie sind im Herzen empört und knirschen mit den Zähnen. Dies ist ein Bild was schon in den Psalmen als Ausdruck für Aggression und Hass gegenüber einem Gerechten verwendet wird (Psalm 37,12).
Verse 55-56: Stephanus rückt wieder in den Mittelpunkt der Darstellung: Er ist erfüllt vom Heiligen Geist und mit solcher Gabe ausgestattet wird ihm eine persönliche Vision zuteil. Er sieht die Herrlichkeit Gottes und Jesus zur Rechten des Vaters und hat damit einen Ausblick auf die Wirklichkeit, die den Glaubenden verheißen ist. Gott in seiner Herrlichkeit zu sehen ist die Hoffnung derer, die im Glauben an Gott ihr irdisches Leben verbringen, die versuchen, Gott zu erkennen. Gleich zweimal wird dieser Einblick in die himmlische Welt geschildert, einmal davon in direkter Rede und damit als Mitteilung an die Umstehenden. Kurz vor seinem Tod gibt Stephanus auf diese Weise noch einmal ein Zeugnis seiner Hoffnung und seines Glaubens. In den Berichten über Martyrien ist dies ein oft geschildertes Zeichen der großen Glaubenskraft des Märtyrers.
Verse 57-58: Die Vision des Stephanus bringt die ohnehin schon aufgebrachte Menge zur Raserei. Das Geschrei und das Zuhalten der Ohren soll die vermeintliche Gotteslästerung des Stephanus übertönen. Um dem Verhalten des Stephanus ein endgültiges Ende zu bereiten, beschließt man kurzen Prozess zu machen und den Gotteslästerer zu töten. Die Steinigung eines Gotteslästerers muss außerhalb der Stadt erfolgen und die Zeugen der Lästerung beginnen mit der Steinigung (Deuteronomium 17,2-7). So werden auch hier Zeugen erwähnt, die ihre Kleider als Zeichen des Zeugnisses und evtl. aus pragmatischen Gründen für die Steinigung vor den Füßen eines jungen Mannes Namens Saulus ablegen. Er ist damit auch Zeuge für das Geschehen und dessen Rechtmäßigkeit. Saulus wird hier nahezu beiläufig in die Erzählung der Apostelgeschichte eingeführt, die er ab Kapitel 9 maßgeblich prägt.
Verse 59-60: Der Sterbende legt in der Weise seines Sterbens Zeugnis ab. Seine letzten Worte sind ähnlich den letzten Worten Jesu am Kreuz Gebet und Bitte für seine Verfolger (zum Vergleich Lukasevangelium 23,34).