Während Rut und Noomi nun machtlos warten, regelt Boas im Stadttor mit den Ältesten ihr Schicksal. Rut hat dafür den Plan entworfen und Boas führt ihn aus. Es geht nicht nur um das geltende Gesetz, sondern auch um Solidarität – und am Ende geht es um ganz Israel.
1. Verortung im Buch
Während in den ersten drei Kapiteln des Buches Noomi und Rut im Mittelpunkt stehen, entscheiden im letzten Kapitel Männer über das Schicksal der beiden Frauen. Rut und Noomi werden dabei nicht mehr zu Wort kommen. Boas verwirklicht seinen Rut versprochenen Eid: „Gewiss, ich bin Löser, aber es gibt noch einen Löser, der näher verwandt ist als ich. Bleib über Nacht, und wenn er dich dann am Morgen lösen will, gut, so mag er lösen. Wenn er dich aber nicht lösen will, so werde ich dich lösen, so wahr der HERR lebt.“ (Rut 3,12-13).
2. Aufbau
Boas dominiert die Szene im Stadttor in Betlehem. Er konstituiert das Schiedsgericht (Verse 1-2) und wird durch drei kurze Reden zum Löser Ruts und Noomis. Zuerst legt er sachlich den Fall dar (Verse 3-4), um dann im nächsten Schritt die ethischen Pflichten hervorzuheben (Verse 5-8), die dazu führen, dass er Noomi ihre Felder abkaufen und Rut zur Frau nehmen kann (Verse 9-10). Gedeutet wird dieses Geschehen abschließend in den Glückwünschen des Volkes und der Ältesten (Verse 11-12).
3. Erklärung einzelner Verse
Verse 1-2: Der Gang hinauf ins Stadttor ist sowohl wörtlich als auch im übertragenen Sinne zu verstehen. Es bedeutet auch, eine Angelegenheit durch ein Schiedsgericht entscheiden zu lassen. Das Stadttor war der öffentlichste Ort in einer Stadt, an dem jeder vorbeikam und wo man sich versammelte. Daher ist auch nicht verwunderlich, dass Boas hier den Löser trifft, dessen Name nicht genannt wird. Im Hebräischen Text steht anstelle seines Namens die Wendung פְּלֹנִ֣י אַלְמֹנִי (gesprochen: ploni almoni), die mit „derjenige, der nicht zählt“ wiedergegeben werden könnte. Da er nicht bereit sein wird, den Verstorbenen einen Nachkommen zu zeugen, wird auch ihm in der Erzählung der Name genommen. Zudem zeigt sich in dieser Benennung durch Boas seine Überlegenheit gegenüber dem eigentlichen Löser. Er gibt ihm einen Befehl und er befolgt ihn ungefragt. So wie der Löser die Aufforderung Boas befehlt, so tun es auch zehn der Ältesten und setzen sich zum Gericht ins Stadttor.
Verse 3-4: Noomi will das Feld Elimelechs verkaufen und Boas tritt als ihr Makler auf. In seinen Worten spielt er auf das Gesetz in Levitikus 25,25 an (siehe auch Jeremia 32,8), ohne explizit darauf hinzuweisen. Anders als im Gesetz will nun aber kein Mann, sondern eine Frau nicht nur einen Teil des Grundbesitzes, sondern alles verkaufen. Daher liegt es nahe – wie auch die fehlende Nennung des Verkaufspreises anzeigen könnte –, dass in diesem Falle nicht an eine einmalige Abfindung für Noomi gedacht ist, sondern an die dauerhafte Verpflichtung zur Versorgung der Witwe. Hierzu ist der Löser bereit.
Verse 5-6: Nachdem der Löser sich zum Grundstückkauf bereit erklärt hat, verweist Boas auf die ethische Verpflichtung gegenüber den Toten. Wieder verweist er nicht explizit auf ein Gesetz, aber er legt Deuteronomium 25,5-10 auf die Situation Ruts bezogen aus (siehe dazu Auslegung). Boas fordert ihn zur Leviratsehe mit Rut auf, „um den Namen des Toten auf seinem Erbe erstehen zu lassen“ (Vers 5). Zudem weist er ausdrücklich darauf hin, dass Rut eine Moabiterin ist (siehe Auslegung zu Rut 1-5). Für den Löser spielt es keine Rolle, dass Rut keine Israelitin ist, sondern er ändert seine Meinung aufgrund vernünftiger wirtschaftlicher Abwägung. Die Lösung würde nur ein zeitweiliges Nutzungsrecht bedeuten einhergehend mit den Kosten für die Versorgung von Noomi, Rut und dem Sohn, der aus der Leviratsehe als Erbe des Feldes hervorgehen würde. In Dtn 25,7 ist für den Fall der Verweigerung der Leviratsehe eine öffentliche Demütigung vorgesehen. Seine Entscheidung wird vom Erzähler jedoch nicht gerügt, sondern er ist wie Orpa im ersten Kapitel eine Kontrastfigur, die für den Normalfall steht, dem das Handeln Ruts und Boas als Idealfall gegenübergestellt wird.
Verse 7-8: Der Ritus erklärt sich vielleicht aus der Redewendung „den Fuß auf etwas setzen“, mit der im Alten Testament ein Besitzanspruch ausgewiesen wird (Deuteronomium 11,24). Im Hebräischen Text ist nicht eindeutig festzulegen, wer die Sandale ausgezogen hat: ob der Löser sie auszieht und damit seinen Besitzanspruch abtritt oder ob Boas mit dieser Handlung einen Besitzanspruch verdeutlicht.
Verse 9-10: Boas vollzieht die Lösung ohne zu zögern. Er betont am Anfang und am Ende seiner Worte, dass er „heute“, also sofort und direkt den Grundbesitz Noomis und damit auch Rut „kauft“. Dieser Kaufakt degradiert Rut nicht zu einem Objekt. Im späteren rabbinischen Schrifttum wird das Wort „kaufen“ für eine Eheschließung verwendet, wenn damit der Übergang von vererbbaren Grundbesitz an den Ehemann einherging. Boas wird Rut zur Frau nehmen, nicht aus wirtschaftlichen Erwägungen und auch nicht primär aus Zuneigung, sondern aus Solidarität zu den Verstorbenen (siehe Rut 2,20).
Verse 11-12: Die Glückwünsche beziehen sich nicht auf den Grundbesitzkauf, sondern auf die Ehe zwischen Rut und Boas, die als eigentlicher erlösender Akt angesehen wird. In ihren Worten setzen die Ältesten und das Volk Rut mit den Erzmüttern Rahel und Lea gleich, die die zwölf Söhne Jakob zur Welt gebracht haben, aus denen die zwölf Stämme Israels entstanden sind. Der aus der Ehe erhoffte Sohn, wird mit Perez verglichen, den Tamar durch einen Samenraub von Juda zeugte und somit die Familienlinie begründete, aus der König David abstammt. In ihren Segenswünschen ordnen sie somit die Moabiterin mitten in die israelitische „Familie“ ein (siehe Auslegung). Bemerkenswert ist die hervorgehobene feministische Perspektive. Bereits die Aussage, dass Israel nicht durch den Mann Jakob, sondern durch seine Frauen Rahel und Lea errichtet wurde, ist ein sehr untypischer Sprachgebrauch in der damaligen patriarchalischen Gesellschaftsordnung. Zudem wird der Samen, bzw. Nachkomme nun nicht Boas direkt zugerechnet, sondern Gott gibt ihn Rut für Boas. Aber kann Rut schwanger werden? Das erste Kapitel hatte erzählt, dass sie zehn Jahre kinderlos blieb (Rut 1,4).