Nun ergreift Noomi die Initiative und befiehlt Rut dem Löser, Boas, gefügig zu sein. Hübsch gemacht soll sie sich in der Nacht zu seiner Schlafstelle schleichen und seine Nähe suchen. Ihre Forderungen an Rut sind mit einer sexualisierten Sprache aufgeladen. Geht es um ein unmoralisches Angebot?
1. Verortung im Buch
Das erste Kapitel des Buches fasst eine Zeitperiode über 10 Jahre zusammen. Das zweite Kapitel erzählt von einem Erntetag, dessen Geschehen von Bedeutung für die gesamte Erntezeit war – und nun im dritten Kapitel entscheidet sich alles innerhalb einer Nacht. Nicht aus Verzweiflung, wie im ersten Kapitel, ergreift Noomi nun die Initiative, um ihr Lebensschicksal zu wenden. Hatte sie Gott das Wohlgeschehen ihrer Schwiegertöchter, wenn sie nach Moab zurückkehren sollten, noch in seine Hände gelegt (Rut 1,9), so kümmert sie sich nun selbst darum, dass Rut – und damit auch sie selbst – „einen Ort der Geborgenheit“ finden wird (Vers 1).
2. Aufbau von Rut 3,1-6
Noomis Worte sind geprägt von insgesamt neun Imperativen, die Rut minutiös instruieren, wie sie in der Dunkelheit Boas für sich gewinnen soll. Sie formuliert keine Bitte und keinen Vorschlag, sondern einen Befehl, den Rut ohne Widerwort akzeptiert und sich dementsprechend an die Erfüllung Noomis Worte begibt.
3. Erklärung einzelner Verse
Vers 1: Nachdem sich Noomi dem Wohlwollen Gottes wieder sicher ist (Rut 2,20) übernimmt sie Verantwortung für Rut als Mutter (vgl. Genesis 21,21). Wollte sie noch in Moab ihre Schwiegertöchter zurück zu ihren Vätern schicken, damit diese sie neu verheiraten konnten, so übernimmt sie in Juda diese Rolle nun selbst. Der gewünschte Ruheort ist die Ehe. Zugleich verweist die Formulierung aber noch auf eine zweite Ebene. Der gewünschte Ort der Ruhe wird näher beschrieben mit „wo/damit es dir gut geht“. Diese Formulierung findet sich häufig im Buch Deuteronomium und verweist dort auf die Ruhe, die Israel im verheißenen Land finden wird. Noomi beabsichtigt, dass Rut sozusagen im Land der Ruhe Israels selbst zur Ruhe kommen soll und durch eine Ehe Geborgenheit und ein erfülltes Leben findet (Deuteronomium 28,65).
Vers 2: Um die Spreu vom Korn zu trennen verwendete man den am späten Nachmittag aufkommenden Wind. Man warf das Gedroschene in den Wind, der die leichteren Bestandteile (Halme und Spreu) verwehte. Dieser Arbeitsschritt erfolgte auf einem leicht erhöhten, flachen Plateau außerhalb der Stadt, das windgünstig lag. Diese Tenne wurde von den zur Stadt gehörenden Bauern gemeinsam benutzt – es ist also kein intimer Ort. Dort wird sich aber entscheidendes ereignen, wie der Satzanfang durch „Und jetzt“ nahelegt.
Vers 3: Die erste Begegnung Ruts und Boas wird als eine glückliche Fügung beschrieben (Rut 2,3), nun überlässt Noomi nichts mehr dem Zufall. Rut soll sich wie eine Braut für die Hochzeit waschen, salben und ankleiden (Ezechiel 16,8-10). Das Reinigen und Wechseln der Kleider zeigt zudem einen Neuanfang im Leben an (2 Sam 12,20). Auf der Tenne soll sie sich jedoch zuerst verbergen, während Boas vermutlich in Gemeinschaft mit anderen isst. Wie Vers 7 zeigt, stehen Essen und Trinken für Zufriedenheit und Glücklichkeit, die Rut als Grundlage für ihre Mission ausnutzen soll.
Vers 4: Erst wenn Boas sich hinlegt, soll Noomi sich ihm nähern und dabei darauf achten, dass sie sich in der Dunkelheit zum richtigen Mann legt. Die beschriebene Szene ist mit sexueller Spannung geladen (siehe Auslegung). Sie soll sich an ihn schmiegen und seine folgenden Befehle abwarten. Noomis Befehle führen Rut somit in den Verfügungsbereich Boas.
Verse 5-6: Rut erwidert nicht, dass der Plan anstößig oder gefährlich sei. Der Erzähler betont zudem, dass sie nicht als verführerische, fremde Frau handelt, vor der das Buch der Sprichwörter warnt (Spr 2,16). Sie handelt gemäß der Anweisung der Judäerin Noomi und soll ihr Schicksal in die Hände Boas legen. Aber auch wenn Vers 6 vorauseilend berichtet, dass Rut alles so tat, wie Noomi es ihr aufgetragen hatte, so ergreift sie im folgenden Abschnitt doch auch selbst die Initiative und weicht von dem Plan ab.