Das Buch Rut

Rut 3,1-6: Der Plan

31Ihre Schwiegermutter Noomi sagte zu ihr:

Meine Tochter, ich möchte dafür sorgen, dass du Ruhe findest.2Nun ist ja Boas, bei dessen Mägden du warst, ein Verwandter von uns. Heute Abend worfelt er die Gerste auf der Tenne.3Wasch dich, salbe dich und zieh dein Obergewand an, dann geh zur Tenne! Zeig dich aber dem Mann nicht, bis er fertig gegessen und getrunken hat.4Wenn er sich niederlegt, so merk dir den Ort, wo er sich hinlegt. Geh dann hin, deck den Platz zu seinen Füßen auf und leg dich dorthin! Er wird dir dann sagen, was du tun sollst.

5Rut antwortete ihr:

Alles, was du sagst, will ich tun.

6Sie ging zur Tenne und tat genauso, wie ihre Schwiegermutter ihr aufgetragen hatte.

Überblick

Nun ergreift Noomi die Initiative und befiehlt Rut dem Löser, Boas, gefügig zu sein. Hübsch gemacht soll sie sich in der Nacht zu seiner Schlafstelle schleichen und seine Nähe suchen. Ihre Forderungen an Rut sind mit einer sexualisierten Sprache aufgeladen. Geht es um ein unmoralisches Angebot? 

 

1. Verortung im Buch

Das erste Kapitel des Buches fasst eine Zeitperiode über 10 Jahre zusammen. Das zweite Kapitel erzählt von einem Erntetag, dessen Geschehen von Bedeutung für die gesamte Erntezeit war – und nun im dritten Kapitel entscheidet sich alles innerhalb einer Nacht. Nicht aus Verzweiflung, wie im ersten Kapitel, ergreift Noomi nun die Initiative, um ihr Lebensschicksal zu wenden. Hatte sie Gott das Wohlgeschehen ihrer Schwiegertöchter, wenn sie nach Moab zurückkehren sollten, noch in seine Hände gelegt (Rut 1,9), so kümmert sie sich nun selbst darum, dass Rut – und damit auch sie selbst – „einen Ort der Geborgenheit“ finden wird (Vers 1). 

 

 

2. Aufbau von Rut 3,1-6

 

Noomis Worte sind geprägt von insgesamt neun Imperativen, die Rut minutiös instruieren, wie sie in der Dunkelheit Boas für sich gewinnen soll. Sie formuliert keine Bitte und keinen Vorschlag, sondern einen Befehl, den Rut ohne Widerwort akzeptiert und sich dementsprechend an die Erfüllung Noomis Worte begibt.

 

3. Erklärung einzelner Verse

Vers 1: Nachdem sich Noomi dem Wohlwollen Gottes wieder sicher ist (Rut 2,20) übernimmt sie Verantwortung für Rut als Mutter (vgl. Genesis 21,21). Wollte sie noch in Moab ihre Schwiegertöchter zurück zu ihren Vätern schicken, damit diese sie neu verheiraten konnten, so übernimmt sie in Juda diese Rolle nun selbst. Der gewünschte Ruheort ist die Ehe. Zugleich verweist die Formulierung aber noch auf eine zweite Ebene. Der gewünschte Ort der Ruhe wird näher beschrieben mit „wo/damit es dir gut geht“. Diese Formulierung findet sich häufig im Buch Deuteronomium und verweist dort auf die Ruhe, die Israel im verheißenen Land finden wird. Noomi beabsichtigt, dass Rut sozusagen im Land der Ruhe Israels selbst zur Ruhe kommen soll und durch eine Ehe Geborgenheit und ein erfülltes Leben findet (Deuteronomium 28,65).

Vers 2: Um die Spreu vom Korn zu trennen verwendete man den am späten Nachmittag aufkommenden Wind. Man warf das Gedroschene in den Wind, der die leichteren Bestandteile (Halme und Spreu) verwehte. Dieser Arbeitsschritt erfolgte auf einem leicht erhöhten, flachen Plateau außerhalb der Stadt, das windgünstig lag. Diese Tenne wurde von den zur Stadt gehörenden Bauern gemeinsam benutzt – es ist also kein intimer Ort. Dort wird sich aber entscheidendes ereignen, wie der Satzanfang durch „Und jetzt“ nahelegt.

Vers 3: Die erste Begegnung Ruts und Boas wird als eine glückliche Fügung beschrieben (Rut 2,3), nun überlässt Noomi nichts mehr dem Zufall. Rut soll sich wie eine Braut für die Hochzeit waschen, salben und ankleiden (Ezechiel 16,8-10). Das Reinigen und Wechseln der Kleider zeigt zudem einen Neuanfang im Leben an (2 Sam 12,20). Auf der Tenne soll sie sich jedoch zuerst verbergen, während Boas vermutlich in Gemeinschaft mit anderen isst. Wie Vers 7 zeigt, stehen Essen und Trinken für Zufriedenheit und Glücklichkeit, die Rut als Grundlage für ihre Mission ausnutzen soll.

Vers 4: Erst wenn Boas sich hinlegt, soll Noomi sich ihm nähern und dabei darauf achten, dass sie sich in der Dunkelheit zum richtigen Mann legt. Die beschriebene Szene ist mit sexueller Spannung geladen (siehe Auslegung). Sie soll sich an ihn schmiegen und seine folgenden Befehle abwarten. Noomis Befehle führen Rut somit in den Verfügungsbereich Boas.

Verse 5-6: Rut erwidert nicht, dass der Plan anstößig oder gefährlich sei. Der Erzähler betont zudem, dass sie nicht als verführerische, fremde Frau handelt, vor der das Buch der Sprichwörter warnt (Spr 2,16). Sie handelt gemäß der Anweisung der Judäerin Noomi und soll ihr Schicksal in die Hände Boas legen. Aber auch wenn Vers 6 vorauseilend berichtet, dass Rut alles so tat, wie Noomi es ihr aufgetragen hatte, so ergreift sie im folgenden Abschnitt doch auch selbst die Initiative und weicht von dem Plan ab.

Auslegung

Was plant Noomi? Soll Rut Boas verführen? Oder soll sie sozusagen durch Samenraub wie Lots Töchter oder Tamar schwanger werden? Die von Noomi verwendeten Wörter und der Kontext ihres Plans könnten darauf hinweisen, dass Ruts Handeln zum Beischlaf mit Boas führen sollen. Aber der Phantasie der Leserinnen und Leser sind Grenzen gesetzt.

Während Rut im zweiten Kapitel sowohl von Boas als auch von Noomi vor sexuellen Übergriffen während der Ernte gewarnt wird, soll sie sich nun auf Noomis Geheiß im Schutz der Dunkelheit in die intime Nähe eines Mannes, Boas, begeben. Das Leitwort „sich hinlegen“ besitzt, wenn es mit einer Präposition verwendet wird, eine sexuelle Bedeutung (Genesis 26,10). Hier steht es jedoch ohne eine Präposition. Das Aufdecken des Schambereiches ist in den alttestamentlichen Gesetzen der euphemistische Fachausdruck für den unrechtmäßigen Beischlaf (Levitikus 18). Das Aufdecken der Beine verweist jedoch nicht auf eine sexuelle Handlung. Zwar kann ihre Nennung auch verdeckt auf den Schambereich verweisen (Jesaja 7,20), aber das Niederwerfen zu den Beinen steht auch für eine Bitte um Schutz, Erbarmen und Hilfe (1 Samuel 25,24). Zudem steht in Rut 3,4 nicht der übliche hebräische Begriff für Beine/Füße, sondern ein Begriff der außerhalb des Rutbuchs nur noch im Buch Daniel zu finden ist, wo damit auf die Beine als Körperteile verwiesen wird (Daniel 10,6). Ohne Zweifel gibt der Ort, an dem sich Rut hinlegen soll, dem Leser und der Leserin Freiräume für die Phantasie. Aber man sollte nicht den Denkfehler begehen und jede Erotik mit Sex gleichzusetzen. Rut soll sich sozusagen ihrem Gönner zu Füßen legen und keusch auf seine Befehle warten. Diese angestrebte Situation ist ein gefährliches Spiel. Im vorherigen Kapitel hatten Noomi und Boas sie noch vor den Übergriffen von Männern gewarnt, nun soll sie sich in die Hände eines Mannes ausliefern. Boas könnte diese Situation schamlos ausnutzen. Oder rechtlich betrachtet, könnte er sie des versuchten Ehebruchs bezichtigen. Eine Frau blieb selbst nach dem Tod ihres Mannes, bis sie wieder neu verheiratet wurde, rechtlich der Besitz des Verstorbenen (Gen 38,24). Der Plan Ruts hat ein offenes Ende, an dem Noomi Rut in den Verfügungsbereich Boas übergeben hat.

Kunst etc.

Auf dieser Hälfte eines Stereographs sieht man wie 1904 in Ägypten Bauern worfelten. Den Wind ausnutzend, warfen sie die gedroschenen Halme in die Höhe. Die schweren Getreidekörner fielen direkt zu Boden und die Spreu wurde weiter weggeweht. Ebenso muss man sich vermutlich den Arbeitsschritt des Worfelns auch in biblischer Zeit vorstellen, den Boas auf der Tenne vollzog, bevor er auf Rut treffen soll.

Travelers in the Middle East Archive (TIMEA) 5602: The Winnowing of the grain after the threshing, Stereograh 1904. Aus der Sammlung von Dr. Paula Sanders, Rice University - Lizenz: gemeinfrei.
Travelers in the Middle East Archive (TIMEA) 5602: The Winnowing of the grain after the threshing, Stereograh 1904. Aus der Sammlung von Dr. Paula Sanders, Rice University - Lizenz: gemeinfrei.