Gott steht dem Beter als Feind gegenüber – doch der Beter hört nicht auf zum „Gott meiner Rettung“ zu schreien und ihn anzuklagen. Es geht um das Leben des Beters und um das Gottsein Gottes.
1. Verortung
Psalm 88 ist das dunkelste von allen Gebeten im Psalter. Die sonst mit Klagen einhergehende Bitte um Rettung wird hier nicht mehr ausgesprochen, sondern nur als Geschehen der Vergangenheit thematisiert (vgl. den Aufbau von Psalm 13). Der Beter bittet nicht um das rettenden Handeln Gottes, sondern stellt ihn zur Rede: „Warum, HERR, verstößt du mich, verbirgst vor mir dein Angesicht?“ (Vers 15). Gott soll ihm antworten, sich erklären – und sich dann als „Gott meiner Rettung“ (Vers 2) erweisen. Psalm 88 ist einzigartig im Psalter und dem heutigen Beter stellt sich die Frage: Kann man zu einem Gott, der sich als rücksichtsloser Feind erweist, beten? Kann man so wie der Beter in Psalm 88 zu Gott beten?
2. Aufbau
Dreimal ruft der Beter Gott an und verweist auf seinen andauernden Hilfeschrei, sein Bittgebet: „HERR, du Gott meiner Rettung, am Tag und in der Nacht schrei ich vor dir.“ (Vers 2), „Den ganzen Tag, HERR, ruf ich zu dir, ich strecke nach dir meine Hände aus.“ (Vers 10), „Ich aber, HERR, ich schreie zu dir um Hilfe, am Morgen komme zu dir mein Bittgebet.“ (Vers 14). Anders als in der revidierten Einheitsübersetzung beziehen sich die Verse 2 und 10 auf eine vergangene Klage, und mit Vers 14 ist der Beter bei seiner finalen Klage in der Gegenwart angekommen.
Innerhalb dieser linearen Einteilung des Psalms in drei Abschnitte (Verse 2-10a.10b-14.14-19), rahmen die anklagenden Notschilderungen in den Versen 4-10a.15-19 die Appellation an Gott durch drei rhetorische Fragen in den Versen 11-13.
3. Erklärung einzelner Verse
Vers 1: Das Verständnis der Psalmenüberschriften ist zum Teil schwierig und in manchen Fällen strittig. Unter anderem aufgrund der Angabe „nach der Weise Krankheit zu singen“ wurde der Psalm in der Forschung häufig als Krankengebet gedeutet – wodurch jedoch die Bedeutung des Textes stark eingeschränkt wurde. Bereits in der antiken, griechischen Übersetzung scheint diese Angabe nicht mehr verständlich gewesen zu sein. Sie wurde einfach nur transkribiert. Vermutlich handelt es sich um eine Melodieangabe. Für das hebräische Wort, das in der revidierten Einheitsübersetzung mit „Krankheit“ übersetzt ist, werden in der Forschung noch weitere Wiedergabemöglichkeiten diskutiert: „Flötenspiel“ oder „Reigentanz“. Auch das folgende Verb, das in der revidierten Einheitsübersetzung mit „singen“ wieder gegeben wird, ist in seiner Bedeutung unsicher. An verschiedenen Stellen im Alten Testament bedeutet es „singen“, bzw. „einen Chorgesang anstimmen“, zugleich kann das verwendete Verb auch die Bedeutung „jemanden demütigen“ haben.
Vers 2: Am Anfang des Psalms steht nach der kurzen Anrufung Gottes mit seinem Namen „JHWH“, die mit unerschütterlichem Vertrauen gefüllte Anrede „Gott meiner Rettung“, mit der sowohl angezeigt wird, dass JHWH sich in der Vergangenheit als rettende Macht erwiesen hat, als auch, dass er sich wieder als so Beschriebener erweisen kann. Zuerst geht der Blick jedoch in die Vergangenheit des Beters und seiner Beziehung zu Gott. Der gut leserlichen Wiedergabe der revidierten Einheitsübersetzung liegt ein grammatikalisch schwieriger Satz zugrunde. Wörtlich könnte man übersetzen: „JHWH, Gott meiner Rettung, tagsüber schrie ich, in der Nacht Dir gegenüber.“ Üblicherweise wird dieser Vers auf den andauernd erklingenden Hilfeschrei des Beters, Tag und Nacht, gedeutet.
Vers 3: Dieser Vers kann als Zitat des in Vers 2 genannten Schreis gelesen werden. Oder es handelt sich um die nun geäußerte Bitte, dass Gott den vorherigen Hilfeschrei erhöre. Das Bittgebet wird fast dinglich gedacht, und um seinen Einlass im Thronsaal Gottes wird gebeten. Der zweite Teilvers verdeutlicht, dass der Hilfeschrei an sich sinnlos ist, wenn Gott nicht gewillt ist, hinzuhören.
Vers 4: Mitten im Leben ist der Beter der Macht des Todes ausgeliefert. Er ist nicht, wie häufig in der Bibel formuliert wird, gesättigt vom guten Leben; er ist nicht lebenssatt, sondern er ist übersättigt durch Übel. Das hier in der revidierten Einheitsübersetzung mit „Seele“ wiedergegebene hebräische Wort נפש (gesprochen: nefesch) ist nicht als ein Gegenüber zum Leib, zum Körper zu verstehen, sondern bedeutet hier „Lebenskraft, Vitalität“ und steht für den lebendigen Beter (passend zum Bild der Sättigung kann das Wort auch „Schlund, Kehle“ bedeuten). Mit seinem Leben berührt er jedoch bereits die Totenwelt (siehe zur Unterwelt im Alten Testament und der Bedeutung in diesem Psalm die „Auslegung“).
Vers 5: Der Beter beschreibt seinen sozialen Tod – er wird von seinem Umfeld bereits als (baldiger) Toter eingestuft.
Vers 6: Der Beter steht nicht mehr im Dienst Gottes – nicht, weil er sich von Gott abgewendet hätte, sondern weil Gott ihn wörtlich „freigelassen“, bzw. „entlassen hat“. Das hier verwendete hebräische Wort חפשי (gesprochen: chofschi) wird ansonsten häufig verwendet, um die Freilassung eines Sklaven von seinem Herrn auszudrücken (vgl. Exodus 21,26-27). Der Beter sieht sich nun also nicht mehr unter der Gewalt Gottes stehend; dies bedeutet jedoch keine Freiheit im positiven Sinne, sondern den Verlust des göttlichen Schutzes. Er ist dem Tod ausgeliefert und vergleicht sich in seinem Leben nicht nur mit den Toten, sondern mit gewaltsam Erschlagenen, die aus ihrem Leben gerissen wurden. Die Hand Gottes, die ansonsten für das rettenden Handeln Gottes an den Leidenden steht (siehe Psalm 18,17-18), behütet die Toten nicht mehr und handelt auch nicht an ihnen (siehe Verse 11-13). Dass Gott der Toten und damit des Beters nicht mehr gedenkt, bedeutet das Ende jeglicher Beziehung mit Gott – den endgültigen Tod. In seinen Worten verdeutlicht der Beter, dass Gott aktiv sich von den Toten und damit auch von ihm abwendet: Er gedenkt der Toten nicht mehr und daher sind sie aus seinem Machtbereich ausgestoßen.
Verse 7-8: Nun erklingt die direkte Anklage gegen Gott (siehe auch Vers 9) – ohne dass ein Grund für das Handeln Gottes, z.B. eine Sünde des Beters, genannt wird. Gott wird als Feind angeklagt, der den Beter ins Totenreich treibt. Die Härte der Amklage kann in der deutschen Übersetzung nicht wirklich wiedergegeben werden, da in Vers 8b ein doppeldeutiges Wort verwendet wird. Das Bild der Brandung (wörtlicher: Brecher), die den Beter niederwerfen und in die Tiefe ziehen, könnte sogar als Antwort Gottes auf den Hilfeschrei des Beters gelesen werden; das hier verwendete Verb ענה, das in der revidierten Einheitsübersetzung mit „niederdrücken“ wiedergeben ist, kann auch „antworten“, bzw. „singen“ bedeuten (siehe Vers 1).
Vers 9: Für seinen sozialen Tod macht der Beter Gott direkt verantwortlich. Gott hat ihn für seine Mitmenschen zu einer Abscheu, zu einem Gräuel gemacht. Die Härte des hebräischen Begriffs תועבה (gesprochen: toeva) wird deutlich, wenn man seine weiteren Vorkommnisse betrachtet. Er wird zum Beispiel verwendet, um Götzendienst zu brandmarken und steht häufig parallel zu „unrein“. Der Begriff steht für kultische und auch ethische, verabscheuungswürdige Taten, mit denen der Beter in den Augen seines sozialen Umfelds gleichgesetzt wird. Hier steht er im Plural, was nur schwierig im Deutschen wiederzugeben ist: „Inbegriff der Abscheu“ oder „Fülle der Abscheu“. Der von Gott Entlassene (siehe Vers 6) ist nun ein von der Todessphäre mitten im Leben Gefangengenommener.
Vers 10: Das Bild der Blindheit sagt mehr aus als den Verlust einer körperlichen Fähigkeit. Gott selbst wird in Psalm 54,16 als „Licht der Lebendigen“ bezeichnet. Der Blickkontakt Gottes ermöglicht das Leben: „Blick doch her, gib mir Antwort, HERR, mein Gott, erleuchte meine Augen, damit ich nicht im Tod entschlafe“ (Psalm 13,4). In leuchtenden Augen erkennt man nicht nur Freude, sondern das Leben. Für den Beter verfinstert sein Elend seine Augen, bzw. sein Leben. Dies wird besonders deutlich im Hebräischen Text, da die Worte für „mein Auge“ (עיני, gesprochen: einaj) und „Elend“ (עני, gesprochen: oni) sehr ähnlich sind. Der Hinweis darauf, dass der Beter den ganzen Tag zu Gott ruft und sich nach ihm ausstreckt bildet entweder einen Rahmen um Vers 2-10b, oder die folgenden Fragen werden so als Zitat eingeleitet.
Verse 11-13: Die rhetorischen Fragen sind im historischen Kontext des Psalms allesamt mit Nein zu beantworten (siehe „Auslegung“). Der Beter verdeutlicht Gott mit ihnen, dass dieser keinen Vorteil daran hat, wenn er stirbt, sondern einen treuen Diener Gottes verliert. In den Fragen kontrastiert er das Sein der Toten in der Unterwelt mit dem Handeln Gottes. Die Wirkweisen Gottes in der Welt werden aufgezählt: Wunder (= Gottes überraschende, rettende Taten), Treue und Huld (= Gottes zuverlässige Liebe und Großzügigkeit), Gerechtigkeit (= Gottes Durchsetzung der Lebens- und Heilsordnung) – sie haben keine Bedeutung für die Toten. Die Toten loben Gott nicht mehr: „Nicht die Toten loben den HERRN, keiner, der ins Schweigen hinabsteigt.“ (Psalm 117,18). Während Vers 11 das Handeln Gottes in den Fokus stellt, schwenkt der Blick in Vers 12-13 auf die Toten. Der Beter argumentiert mithilfe der rhetorischen Fragen, dass sein Lob im Leben für Gott nützlich ist. Erich Zenger schreibt gar: „Wenn und wo Gott nicht mehr gelobt werden kann, steht sein Gott-Sein auf dem Spiel.“
Vers 14: Der Beter, der aufgrund der Taten Gottes sich selbst schon zu den Toten rechnet und von seinem sozialen Umfeld als solcher angesehen wird, verweist nun mit einem emphatischen „ich aber“ darauf, dass er trotz allem Leid weiterhin zu Gott gebetet und geschrien hat. Hier in diesem Vers wird der Kontrast zwischen dem geglaubten und dem erfahrenen Gott am deutlichsten. Er hat weiterhin die Hoffnung, dass Gott sein Bittgebet erhören wird. Die Vorstellung, dass sein Bittgebet am Morgen vor Gott treten werde, spielt auf die altorientalische Vorstellung des Sonnengottes an. Der Aufgang der Sonne wird als Sinnbild für die tägliche Wiederherstellung der Lebensordnung und der Vertreibung der Finsternis gedeutet.
Vers 15: Die geäußerte Frage sucht nicht nach einem Grund für das Leid, sondern erbittet von Gott eine Antwort darauf, wozu dies geschieht. Indirekt betont er damit das von ihm als irrational erlebte Verhalten Gottes.
Verse 16-19a: Die Selbstbeschreibung als Elender („elend bin ich“) legt nahe, dass der Beter fest daran glaubt, dass Gott sich ihm zuwenden muss; vgl. Ps 86,1: „Neige dein Ohr, HERR, und gib mir Antwort, denn elend und arm bin ich!“. Der Beter betont, dass es sich nicht um ein momentanes, punktuelles Elend handelt, sondern dass es seine ganze Existenz von der Geburt bis hin zum Tod prägt. Der Gottesschreck begegnet im Alten Testament meistens im Kontext kriegerischer Handlungen Gottes gegen andere Völker; er ist sozusagen Gottes Waffe, die er gegen den Beter wendet. Nun am Ende des Psalms verweist der Beter darauf, dass er im Angesicht des Zornes Gottes und seines Schreckens, die ihn dauerhaft umgeben und ihn vernichten und zum Verstummen bringen – das verwendete Verb צמת kann beides bedeuten. Ps 88 wird somit zum letzten Hilfeschrei.
Vers 19b: Nach dem erneuten Hinweis auf den durch Gott verursachten sozialen Tod endet der Psalm in einem verzweifelten Ausruf. Wörtlich übersetzt steht am Ende des Psalms: „Du hast entfernt von mir Freund und Gefährte, (alle) meine Vertrauten – Finsternis(ort)!“ Dort, wo der Beter ist, dort ist bereits Finsternis, d.h. das Todes-Chaos. So steht am Ende keine Bitte, sondern eine herausgeschriene Feststellung des Beters: Für mich ist überall nur noch Tod.