Beinahe ein Gott, jeder ein König – das ist die Würde der Mensch, der im großen Kosmos so verloren wirkt.
1. Verortung im Buch
Nach den persönlichen Klage- und Bittpsalmen (Psalm 3-7) erklingt nun im Psalter das erste Loblied. Auf den ersten Blick könnte man meinen, Psalm 8 sei ein Schöpfungslob auf den von Gott auf besondere Weise gewürdigten Menschen, doch u.a. vom letzten Vers des Psalms 7 herkommend wird deutlich, dass der folgende Psalm ein Hymnus auf den Namen Gottes ist: „Ich will dem HERRN danken gemäß seiner Gerechtigkeit; ich will singen und spielen dem Namen des HERRN, des Höchsten.“ (Psalm 7,18; vgl. auch Psalm 5,12-13). Diese Selbstaufforderung wird im Rahmen von Ps 8, in den Versen 2b.10 beantwortet: „HERR, unser Herr, wie gewaltig ist dein Name auf der ganzen Erde“ – und diese Linie des Lobes auf den Namen Gottes zieht sich auch noch durch bis in den nächsten Psalm: „Ich will mich an dir freuen und jauchzen, deinem Namen, Höchster, will ich singen“ (Psalm 9,3).
2. Aufbau
Psalm 8 ist eine Meditation über den Namen Gottes, die nicht in der Form eines Hymnus über Gott, sondern zu ihm spricht – vielleicht am deutlichsten wird dies in den rahmenden Versen 2a.10: „HERR, unser Herr, wie gewaltig ist dein Name auf der ganzen Erde“. Diese Aussage ist die Grundlage, auf der die erstaunliche Zuwendung Gottes zu den Menschen betrachtet wird. Im Zentrum des Psalms steht die Verhältnisbestimmung von Gott und Mensch: „Du hast ihn [= den Menschen] nur wenig geringer gemacht als Gott, du hast ihn gekrönt mit Pracht und Herrlichkeit“ (Vers 6). Strukturell erkennbar ist dies in den Versen 2a.6.10 zum einen an dem nur dort verwendeten Partikel מה („wie“, „was“), und zudem an dem nur im Rahmen stehenden Gottesnamen יהוה („JHWH“) und der nur in Vers 6 verwendeten Gottesbezeichnung אלהים („Elohim“).
Auch wenn im Rahmen die Wir-Perspektive eingenommen ist („JHWH, unser Herr“) spricht ein Einzelner den Psalm: „Seh ich deine Himmel“ (Vers 4). Thematisch besteht der Psalm aus zwei Teilen, die perspektivisch jeweils mit dem Blick in den „Himmel“ beginnen: (1.) In den Versen 2b-3 geht der Blick vom Himmel hinunter zu wehrlosen Säuglingen und Kindern als Ort der Macht Gottes. (2.) In den Versen 4-9 geht der Blick vom Himmel hinunter zum gekrönten Menschen, der über alle Werke Gottes herrscht: „alles hast du gelegt unter seine Füße“ (Vers 7).
3. Anmerkungen zu den Einzelversen
Vers 1: Zu „Ein Psalm Davids“ siehe Psalm 3,1, zu „Für den Chormeister“ siehe Psalm 4,1. Über die Zuschreibung „Nach dem Kelterlied“ wird viel diskutiert. Im Hebräischen steht עַֽל־הַגִּתִּית (gesprochen: al-ha‘gittit), was in der antiken griechischen Übersetzung mit „Über die Keltern“ wiedergegeben wird, was eine heute nicht mehr entschlüsselbare Melodieangabe sein könnte. Ebenso möglich ist eine Übersetzung, die u.a. der mittelalterliche, jüdische Bibelgelehrte Raschi vorgeschlagen hat: „Musikinstrument, das aus Gat kommt“ und somit dann wahrscheinlich eine für die Philisterstadt Gat typische Zither gemeint sei. Auch wenn sich die Angabe nicht erklären lässt, ist jedoch im Psalter klar erkennbar, dass sie nur über einem Lobpreis steht (siehe noch Psalm 81,1 und 84,1).
Vers 2: Im Alten Testament repräsentiert der Name Gottes (= JHWH) vollgültig Gottes Gegenwart in der Welt und zugleich seine Anrufbarkeit. Als sich Gott Mose im Buch Exodus offenbart, fragt ihn dieser, was die Bedeutung des Gottesnamens sei, und Gott antwortet ihm: „Ich bin, der ich bin“ (Exodus 3,14). Diese auf den ersten Blick mysteriöse Antwort verdeutlicht, dass Gott sich durch seine machtvolle-wirksame Präsenz in der Welt offenbart und so wahrgenommen werden kann (vgl. Exodus 9,16). Innerhalb des Psalms bezieht sich dies vor allem auf das Bekenntnis zu Gott als „unser Herr“ und die Anerkenntnis seiner Schöpfermacht. Der Blick ist völlig auf die Macht und Herrlichkeit Gottes in der Welt gerichtet – sozusagen nur nebenbei, bzw. im Nebensatz wird auf den Himmelglanz verwiesen. Vers 2b bereitet in der Auslegung jedoch Probleme, da der hebräische Text eigentlich folgendermaßen übersetzt werden müsste: „welcher gib doch Deinen Glanz auf die Himmel“ – dies ist grammatikalisch jedoch nicht möglich. Es liegt nahe, wie die revidierte Einheitsübersetzung, einen Abschreibfehler anzunehmen. Es kann zudem auch diskutiert werden, ob V 2b mit V 2a zusammenhängt, oder die Einleitung zu Vers 3 bietet: „Der Du Deinen Glanz auf die Himmel gelegt hast, Du hast aus dem Mund von Kindern und Säuglingen eine Macht gegründet…“
Vers 3: Dieser Vers kann sehr unterschiedlich verstanden werden: (1.) „aus dem Munde“ – im weiteren Kontext von Psalm 8 ist der Mund Sinnbild für die üblen Reden der Feinde und Gottesleugner (Psalm 5,10; 10,7); diesen wird der Mund von Säuglingen entgegengesetzt, der solche Rede noch nicht kennt, sondern nur den Hilfeschrei. Nun gibt es zwei Möglichkeiten diesen Schrei zu verstehen, entweder instrumental oder kausal. Erwächst die Macht Gottes in der Welt aus dem Schrei der Säuglinge und Kinder, oder aufgrund ihres Hilfeschreis? (2.) „Kinder und Säuglinge“ – sie sind zu eigener Machtausübung unfähig. Häufig kann man lesen, dass mit ihrer Nennung auf den hilflosen Menschen allgemein hingewiesen werde; doch im Alten Testament sind Kinder und Säuglinge und ihr Hilfeschrei nie ein Bild für den Menschen in Not, für die menschliche Existenz, die von Anfang an von Hilfsbedürftigkeit geprägt ist. In der Welt des Alten Testaments – und auch heute noch – waren Säuglinge und Kinder die wehrlosesten Opfer, z.B. im Krieg; vgl. Klagelieder 2,11: „Meine Augen ermatten vor Tränen, mein Inneres glüht, meine Leber ist zu Boden geschüttet wegen des Zusammenbruches der Tochter [= Zion], meines Volkes, da Kind und Säugling verschmachten auf den Plätzen der Stadt“. (3.) „ein Bollwerk errichtet“ – das hebräische Wort עֹז (gesprochen: oz) kann sowohl abstrakt „Macht“ als auch konkret „ein Bollwerk“ bezeichnen. Die Errichtung, bzw. Gründung steht hier in einer Vergangenheitsform. Ist damit vielleicht ein Hinweis auf die Hilferufe vom Pharao getöteten Neugeborenen der Hebräer in Ägypten gegeben (Exodus 1,22)? Aufgrund ihrer Schreie gründete Gott seine Macht in der Welt und befreite sein Volk? In Psalm 78,61 wird das Volk Israels als Bollwerk Gottes besungen. In der antiken, griechischen Übersetzung wird das hebräische Wort עֹז hingegen als „Lob“ gedeutet: Gott verwandelt den Hilfeschrei der wehrlosen Säuglinge und Kinder in einen Lobpreis.
Vers 3a ist offen für verschiedene Deutungen. Klar ist jedoch, dass Gottes Macht sich gegen die Feinde Gottes und die Feinde und Rächer der Menschen wendet, und somit eine zusammenfassende theologische Antwort auf die Psalmen 3-7 und die in ihnen enthaltenen Klagen und Bitten gegeben wird. Bemerkenswert ist der Kontrast zwischen dem Handeln Gottes gegen diese feindlichen Menschen und dem folgenden Bestaunen, welche Würde jedem Menschen zukommt. Wer sich gegen diese Würde stellt, stellt sich gegen die Macht Gottes.
Vers 4: Die unendlichen Weiten des Kosmos lassen den Beter nicht in ein Gefühl der Nichtigkeit verfallen, sondern sie leiten zum Staunen im Angesicht der Gottesnähe, die dem Menschen zuteilwird. Aus dem Himmel in Vers 2 ist nun „deine Himmel“ geworden, die als Machterweis („Werke Deiner Finger“, vgl. Exodus 8,15) bestaunt werden. Die Betrachtung des Himmels und der Gestirne, die im Alten Orient in anderen Kulturen als Gottheiten galten, bietet den Hintergrund für die folgende Frage nach der besonderen Stellung des Menschen.
Vers 5: Der Mensch ist vergänglich und einer von vielen – dies wird in dem Vers durch die beiden Worte אֱנוֹשׁ (gesprochen: enosch) und בֶן־אָדָם (gesprochen: ben-adam) ausgedrückt, die in der revidierten Einheitsübersetzung mit „Mensch“ und „Menschen Kind“ wiedergegeben werden. Doch für jeden Menschen gilt: (1.) Gott gedenkt eines jeden Menschen; d.h. er wendet sich ihm oder ihr zu, hat Anteil an dem Einzelschicksal und ist bereit helfend zu handeln; (2.) Ja, Gott nimmt sich des Menschen an, d.h. er kümmert sich um ihn oder sie und vergisst ihn oder sie nicht. Diese Feststellungen sind in der Form einer Frage formuliert, deren Antwort diese Zusagen noch übertrifft.
Vers 6: Die Aussage dieses Verses ist so radikal und so krass, dass sie in der antiken, griechischen Übersetzung gemindert wird, um die Distanz zwischen Gott und den Menschen zu vergrößern: „Du hast ihn (nur) um ein weniges niedriger gemacht im Vergleich zu den Engeln.“ Im Hebräischen Text wird jedoch der Abstand zu Gott einerseits zwar auch gewahrt, da in diesem Vers nicht JHWH als Vergleichspunkt herangezogen wird. Aber die Aussage ist, dass der vergängliche, von Gott erschaffene Mensch selbst Anteil an der Göttlichkeit hat: Du hast ihn nur wenig geringer gemacht als ein Gott, nicht den einen, personalen Gott JHWH. Gott hat sein Geschöpf mit den göttlichen Eigenschaften Ehre und Hoheit gekrönt und somit jeden Menschen zu einer Art „Gottkönig“ gemacht (vgl. Jesaja 6,3; Psalm 24,7-10). Durch diese Aussage wird die Würde des Menschen nicht nur in Gott verankert, sondern zudem wird innerhalb der Menschheit sozusagen die Königswürde ‚demokratisiert. Dies wird deutlich, wenn man diesen Vers auf dem Hintergrund der an den menschlichen König gerichteten Worte in Psalm 21,2-6 liest: „HERR, an deiner Macht freut sich der König; über deine Hilfe, wie jubelt er laut. Du hast ihm den Wunsch seines Herzens gewährt, ihm nicht versagt, was seine Lippen begehrten. Ja, du kommst ihm entgegen mit Segen und Glück, du setzt auf sein Haupt eine goldene Krone. Leben erbat er von dir, du gabst es ihm, lange Jahre, immer und ewig. Groß ist seine Herrlichkeit durch deine rettende Tat, du legst auf ihn Hoheit und Pracht.“
Verse 7-9: Der Auftrag des Menschen über die Tierwelt zu herrschen, bedeutet keine Willkür. Der Mensch hat die Verantwortung das Gutsein und die Wohlordnung der Schöpfung zu bewahren (vgl. Genesis 1,28). Dieses Verständnis lässt sich mit einem Blick in die Schöpfungsgeschichte belegen. Das hier und auch in Gen 1,16-18 belegte hebräische Vers משל bedeutet ein Herrschen entsprechend der von Gott gesetzten Ordnung: „Gott machte die beiden großen Lichter, das große zur Herrschaft über den Tag, das kleine zur Herrschaft über die Nacht, und die Sterne. Gott setzte sie an das Himmelsgewölbe, damit sie über die Erde leuchten, über Tag und Nacht herrschen und das Licht von der Finsternis scheiden.“
Vers 10: siehe Vers 2a