Gottes Recht und Gerechtigkeit macht den idealen Herrscher zum König der Armen.
1. Verortung
In den Überschriften von 73 der 150 Psalmen steht der Name Davids: „von David“ (לדוד, gesprochen: leDavid) - was häufig als fiktive Autorenangabe gedeutet wird. 14 Psalmen werden gar durch die Nennung Davids direkt auf Lebenssituationen des großen Königs bezogen – zum Beispiel: „Von David. Als er sich vor Abimelech wahnsinnig stellte und dieser ihn wegtrieb und er ging.“ (Psalm 34,1). In der jüdischen Tradition wurde dann David zum Autor des gesamten Psalters: „Mose gab den Israeliten die fünf Bücher der Thora und David gab den Israeliten die fünf Bücher der Psalmen“ (Midrash Tehilim zu Psalm 1,2). In der Überschrift von Psalm 72 begegnen die Betenden und Lesenden jedoch nicht David, sondern Salomo (לשלמה, gesprochen: leSchlomo). Der letzte Vers des Psalms verbietet eine Übersetzung mit „von Salomo“, denn dort heißt es: „Zu Ende sind die Bittgebete Davids, des Sohnes Isais.“ Durch diesen Kolophon, durch diese Herkunftsangabe wird der Psalm in den Mund Davids gelegt. So legt sich die Wiedergabe im Deutschen mit „für Salomo“ in Vers 1 - wie in der antiken, griechischen Übersetzung - im Sinne einer Leseanweisung „mit Blick auf Salomo“ nahe. Der vorhergehende Psalm 71 ist das Gebet des alten Davids. In ihm meditiert er über die Gerechtigkeit Gottes, die er in seinem Testament an seinen Nachfolger auf dem Thron einschärfen wird: „Auch wenn ich alt und grau bin, Gott, verlass mich nicht, damit ich von deinem machtvollen Arm der Nachwelt künde, den kommenden Geschlechtern von deiner Stärke, von deiner Gerechtigkeit, Gott, die bis zum Himmel reicht!“ (Psalm 71,18-19). Psalm 72 ist darauffolgend sozusagen das finale Testament Davids, indem er nicht nur die Gerechtigkeit Gottes meditiert, sondern den idealen Herrscher definiert – und dies in der Form eines Bittgebets.
Der Psalter, das Buch der Psalmen ist in fünf Bücher eingeteilt; vergleichbar den fünf Büchern der Tora, wie bereits die jüdische Auslegungstradition in dem Midrash Tehilim zu Psalm 1,2 feststellte. Psalm 72 steht am Ende des zweiten Buches und endet mit einer Doxologie, einem Lobpreis Gottes: „Gepriesen sei der HERR, der Gott Israels! Er allein tut Wunder. Gepriesen sei der Name seiner Herrlichkeit auf ewig! Die ganze Erde sei erfüllt von seiner Herrlichkeit. Amen, ja amen.“ (Verse 18-19; vgl. Psalm 41,14; 89,53; 106,48). Solche Doxologien teilen den Psalter in fünf Bücher, worin sich auch ein gewisser Geschichtsbezug des Psalters erkennen lässt. In Psalm 72 geht sozusagen das Königtums David an seine(n) Nachfolger über und am Ende des dritten Buches wird in Psalm 89 der Untergang der davidischen Dynastie beklagt – aber nicht ohne die Hoffnung auf einen kommenden, neuen Davidssohn.
2. Aufbau
Der Psalm ist im hebräischen Satzbau geprägt von Verbformen die zwei Übersetzungsmöglichkeiten bieten: Entweder kann man sie als Zukunftsaussage („er wird…“) oder aber im Sinne eines Auftrags („er soll…“) lesen. Für das futurische Verständnis haben sich zum Beispiel bereits die antiken Übersetzer in Griechische entschieden – und so haben sie den Psalm auf einen Heilbringer bezogen gelesen. Beide Lesevarianten stehen sich jedoch nicht unversöhnlich gegenüber: Das Sollen bestimmt die Zukunft. So soll und wird der König den Armen retten, der um Hilfe ruft (siehe Vers 5).
Beim ersten Lesen scheint der Gedankengang des Psalms nicht allzu geordnet und Themen scheinen sich zu wiederholen. Einen beim Lesen deutlich erkennbaren Einschnitt bietet der Beginn von Vers 12 mit dem bekräftigenden Ausruf „ja / fürwahr“ (כי, gesprochen: ki). Entscheidend ist jedoch bereits der Beginn des Psalms. Nur in Vers 1 steht eine direkte Gottesanrede („o Gott“) und dies verbunden mit einem Imperativ („verleihe“). Dies verdeutlicht nicht nur, dass Psalm 72 ein Bittgebet ist, sondern auch, dass alle folgenden Bitten und Wünsche in den Versen 2-17 mit dieser grundlegenden Bitte verknüpft sind. So wird zum Beispiel nur in Vers 1 der König/Königssohne genannt, der in den Versen 2-17 im Fokus steht. Er ist die entscheidende, soziale Instanz, indem er den Elenden und Armen Gerechtigkeit widerfahren lässt (Gerechtigkeit als Thema in den Verse 2-4 und Barmherzigkeit in den Versen 12-14) und er ist zugleich Mittler des göttlichen Segens mit der heilvollen Bedeutung für die Natur (Fruchtbarkeit als Thema in den Verse 5-7 und Fülle und Andauer in den Versen 15-17). Beachtet man beide Themen in dem Psalm, lässt sich eine thematische Steigerung vom vorderen Teil des Psalms (Verse 2-7) von den Themen Gerechtigkeit und Fruchtbarkeit zum zweiten Teil des Psalms (Verse 12-17) zu den Themen Barmherzigkeit und Fülle erkennen.
Im Zentrum des Psalms (Verse 8-11) rückt die außenpolitische Sphäre in den Fokus: die universale Herrschaft über die Völker. Am Ende des Psalms stehen eine Doxologie (Verse 18-19) und das Kolophon (Vers 20).
3. Erklärung einzelner Verse
Verse 1-2: Recht und Gerechtigkeit sind die Herrschaftsgrundlage für den König, seine Dynastie und somit im Verständnis des Alten Orients sind sie auch das Fundament für den Staat. Im radikalen Kontrast jedoch zu seiner Umwelt betrachtete Israel den König nicht als Gesetzgeber, sondern ebenso wie das Volk als Gesetzempfänger. In der radikalsten Ausprägung findet sich dies im Buch Deuteronomium, im sogenannten Königsgesetz: „Sein Leben lang soll er die Weisung mit sich führen und in der Rolle lesen, damit er lernt, den HERRN, seinen Gott, zu fürchten, alle Worte dieser Weisung und diese Gesetze zu bewahren, sie zu halten, sein Herz nicht über seine Brüder zu erheben und von dem Gebot weder rechts noch links abzuweichen, damit er lange als König in Israels Mitte lebt, er und seine Nachkommen“ (Deuteronomium 17,19-20). Psalm 72 beginnt mit der Bitte, die im Endeffekt jedoch zuerst einmal eine Feststellung ist: Recht und Gerechtigkeit sind auch für einen Herrscher nicht selbstverständlich, sondern beide müssen ihm „verliehen“ werden. In der revidierten Einheitsübersetzung steht in Vers 1 die Bitte um das Richteramt, jedoch kann das hier verwendete hebräische Wort משפט (gesprochen: mischpat) sowohl eine konkrete Gerichtsentscheidung im Sinne eines Urteils bedeuten als auch den übergeordneten Begriff „Recht“. In Vers 1 steht das Wort im Plural und meint hier somit die Rechtsvorschriften. In Vers 2 begegnet das Wort dann im Singular im Sinne von Recht oder einem Urteil gemäß dem Recht. In Parallele zu dem Recht und den Rechtsvorschriften stehen in den Versen 1-2 die hebräischen Worte צדק (gesprochen: zedek) und צדקה (gesprochen: z‘daka), also Gerechtigkeit und der Erweis von Gerechtigkeit. Die Gerechtigkeit steht dem Recht als Korrektiv bei; sie ist die lebensförderliche, göttliche Ordnung der Welt, die das heilvolle Zusammenleben ermöglicht und zur Not auch das Recht außer Kraft setzen kann. Das Recht kann zur Unterdrückung missbraucht werden, wie auch das Buch des Propheten Amos betont – die Gerechtigkeit jedoch kann nicht missbraucht werden. Und der König soll zuvorderst als Anwalt und Retter der Elenden und Armen auftreten, die eine besondere Würde zugesprochen bekommen: Sie sind Gottes Elende und Armen, Teil seines Volkes; es ist die göttliche Aufgabe des Königs, sie durch Recht und Gerechtigkeit zu beschützen.
Vers 3: Der Frieden ist Frucht der Gerechtigkeit und des Rechts. Seine Verortung auf den Bergen und Hügeln – Israel ist ein Gebirgsland - bedeutet, dass das Volk in Frieden wohnen wird. Anders jedoch als in der Wiedergabe der revidierten Einheitsübersetzung tragen die Berge und Hügel nicht zudem Gerechtigkeit, sondern die Gerechtigkeit ermöglicht den Frieden – daher ist besser zu übersetzen: „Es sollen die Berge und die Hügel Frieden tragen für das Volk – durch den Erweis von Gerechtigkeit.“
Vers 4: Der König wird bewusst an die Seite der Armen und Elenden gestellt und somit in Gegnerschaft zu deren Unterdrückern. Der König steht an der Seite der wirtschaftlich und soziale Geschwächten und Gefährdeten und er tritt denen entgegen, die Armut und Elend verursachen.
Vers 5: Der hebräische Text dieses Verses und seine Wiedergabe in der antiken, griechischen Übersetzung, genannt Septuaginta, sind sehr unterschiedlich. Die revidierte Einheitsübersetzung folgt hier dem griechischen Text. Der hebräische Text kann folgendermaßen übersetzt werden: „Sie sollen Dich [gemeint ist Gott] fürchten vor der Sonne und vor dem Mond von Geschlecht zu Geschlecht“. Die zuvor in Vers 4 genannten Armen und Elenden sollen Gott, der nun hier plötzlich nach Vers 1 wieder angesprochen wird, in Ewigkeit durch alle Generationen hindurch, solange Mond und Sonne bestehen, fürchten. In der Septuaginta hingegen ist Vers 5 eine Aussage über den König: „Er wird zugleich anwesend sein mit der Sonne und vor dem Mond Generationen von Generationen“. Während im hebräischen Text das Verb ייראוך (gesprochen: jiarucha) steht, könnte den antiken Übersetzern ins Griechische eine ähnliche Verbform mit einer anderen Bedeutung vorgelegen haben: ויאריך (gesprochen: veja’arich). In welcher Richtung ein Abschreibfehler vorliegt, ist schwer zu entscheiden.
Verse 6-7: Das gerechte Handeln des Königs wird mit dem Regen als Lebensprinzip des Landes verglichen. Der Regen steht für die Fülle des Heils und der König wird in diesem Bild zur personifizierten Gerechtigkeit. Er ermögliche das Wachsen entweder des Gerechten oder der Gerechtigkeit – beide Lesevarianten sind belegt. Und der durch ihn ermöglichte Frieden, möge so lange wie die Schöpfung bestehen.
Verse 8-11: Nun geht der Blick deutlich über die Grenzen Israels hinweg und biblische Verheißungen sind angespielt. In Genesis 15,18 sagt Gott zu Abraham: „Deinen Nachkommen gebe ich dieses Land vom Strom Ägyptens bis zum großen Strom, dem Eufrat-Strom“ – die maximale Ausdehnung des verheißenen Landes. Und in Sacharja 9,10 sagt der Prophet über den verheißenen König: „Er wird den Nationen Frieden verkünden; und seine Herrschaft reicht von Meer zu Meer / und vom Strom bis an die Enden der Erde.“ Beide Verheißungen klingen auch hier in Psalm 72,8 und auch in Vers 17 an. Der Herrschaftsbereich des Königs umfasst nicht nur das verheißene Land, sondern die gesamte bekannte Welt bis hin zum, für das damalige Verständnis, weit entlegene Tarschisch, das vermutlich mit der antiken Hafenstadt Tartessos auf der Iberischen Halbinsel zu identifizieren ist. Die Verse 8-11 gehen von einer freiwilligen Unterwerfung aller Könige, Reiche und selbst der Feinde des Königs aus. Das Motiv des „Staubleckens“ (vgl. Jesaja 49,23) steht nicht für ein gewaltsames Niederdrücken, sondern für den Akt der Selbsterniedrigung. Besondere Beachtung verdienen die in Vers 9 erwähnten ציים (gesprochen: zijim), womit in der Hebräischen Bibel nicht nur menschliche Wüstenbewohner, sondern auch bedrohliche Wüstentiere bezeichnet werden (Jesaja 13,27).
Verse 12-14: Deutlicher als in den Versen 2-4 werden die unterdrückten Armen und Elenden als Menschen beschrieben, die sich selbst nicht helfen können, sondern in ihrer Lage nur noch um Hilfe flehen können. Dieses Flehen und Rufen bedeutet auch, dass sich der König von dem Leid anrühren lassen und Mitleid empfinden soll. Zu einem, weil es um ihr Leben geht – wie zweifach betont wird – und ihr Blut, also ihr Leben kostbar ist, bzw. in des Königs Augen sein soll. Das in Vers 14 verwendete Verb „(er)lösen“ hat hier einen doppelten Sinn, da es „retten“ bedeutet, aber im Kontext mit der Aussage über das Blut auch ein feststehender Begriff für die Blutrache ist (Numeri 35,19). Radikal zeigt sich, dass die vorderste Aufgabe des Königs der Schutz und die Verteidigung der Hilflosen ist. Er soll als ihre Schutzmacht auftreten.
Vers 15: Wenn man Vers 15 wörtlich ins Deutsche übersetzt, steht dort im Hebräischen: „Er soll leben, und er soll ihm von dem Gold Sabas geben, und er soll beten/flehen für ihn, und jeden Tag soll er ihn segnen!“ Es ist nicht auf den ersten Blick deutlich, wer hier das Subjekt und wer hier das Objekt ist. Da in den Versen 2-17 fast durchgehend der König das Subjekt ist, lässt sich dies auch für Vers 15 annehmen. Der Huldigungsruf „er [der König] soll leben“ stimmt auch mit der Aussage von Vers 5 überein, wenn man dort der antiken, griechischen Übersetzung folgt. Wenn man dieser Argumentation folgt, ist das Objekt dieses Verses einer der in den Versen 12-13 einzeln genannten: „der Arme“, „der Elende“, „der Geringe“. Sie soll der König nicht nur an seinem Reichtum teilhaben lassen, sondern auch für sie beten und sie segnen.
Vers 16: Während in den Versen 6-7 das Herrschen des Königs mit Naturbildern beschrieben wurde, werden nun paradiesische Zustände beschrieben: Selbst die landwirtschaftlich schwer zu bearbeitenden Berghängen werden von Getreidefeldern bedeckt sein; so wird es auf den Bergen rauschen, wie wenn ein Wind im Tal durch Felder rauscht. Der fruchtbare Libanon wird als Vergleich herangezogen. Die Fruchtbarkeit wird zur reichen Fülle führen. Aus dieser verheißenden Naturbeschreibung bricht der letzte Teil des Verses heraus: „sie sollen blühen aus der Stadt wie das Gras der Erde“. Wenn man von einem Abschreibfehler in den hebräischen Manuskripten ausgeht, könnte man auch übersetzen: „wie der Libanon blühe seine Frucht und seine Ähre wie das Gras der Erde.“ Vielleicht bezieht sich die Aussage im hebräischen Text jedoch auf die in den Versen 12-14 genannten Armen, Elenden und Unterdrückten, die in den Städten aus ihrer Not wieder (heraus) erblühen werden, wie das Gras, dass den trockenen Boden durchbricht.
Vers 17: Der Name einer Person steht in der Hebräischen Bibel auch für den Ruhm einer Person und die Erinnerung an sie. Aus dem vorherigen Vers wird die Naturmetaphorik fortgesetzt und ein dauerndes Anwachsen des Namens verheißen, solange die Sonne scheint (vgl. Vers 5) – also, solange die Welt besteht. Der König möge zu einem Teil der Heilsgeschichte Gottes mit seinem Volk und der Welt werden. Bewusst wird hier auf die mit Abraham begonnen Geschichte Gottes mit Israel und der Welt verwiesen. In Genesis 12,2-3 verheißt Gott dem Erzvater Abraham: „Ein Segen sollst du sein. 3 Ich werde segnen, die dich segnen; wer dich verwünscht, den werde ich verfluchen. Durch dich sollen alle Sippen der Erde Segen erlangen.“ Die Anspielung auf diese Verheißung und damit der Vergleich des Königs mit Abraham wird in der Septuaginta noch verdeutlicht, indem der Vers direkt durch einen Zusatz aus der Verheißung an Abraham aufgefüllt wird: „und ihn ihm gesegnet werden alle Stämme der Erde, alle Völker werden ihn seligpreisen.“
Verse 18-19: Die theozentrische Perspektive auf das Königtum, die in Vers 1 durch die Bitte grundgelegt wurde, steht in der abschließenden Doxologie im Fokus. Im Vers zuvor war die Rede vom ewigen Namen des Königs, der nun dem Namen Gottes untergeordnet wird. Der König ist das Instrument Gottes und nur der wahre König, das ist Gott, bewirkt in der Geschichte, Gesellschaft und Natur Wunder. Die Herrlichkeit des irdischen Königs ist somit nur ein Abglanz der himmlischen Herrlichkeit. Mit einem doppelten „Amen“ wird das Gebet und die Aussage der Doxologie, also der Lobpreis Gottes, abgeschlossen. Dieses hebräische Wort bedeutet eine Zustimmung zum Vorhergesagten. Wie in der Septuaginta deutlich wird, beinhaltet es zugleich auch den Wunsch, dass das zuvor Gesagte in Erfüllung gehen möge.
Vers 20: Unter dem Psalm steht noch ein Kolophon, das zurückblickend auf die sogenannten Davidspsalmen 3-41 und 51-71 feststellt, dass die Bittgebete Davids, bzw. deren Sammlung hiermit beendet ist – weitere Davidspsalmen sind jedoch Ps 86.101-103.108–110.138–145. Bemerkenswert ist, dass Psalm 72, dieses Bittgebet für den idealen König, nicht nur mit der Nennung Davids, sondern auch dessen Vater Isai endet, dessen Namen im Buch Jesaja für den verheißenen Neuanfang des israelitischen Königtums steht: „Doch aus dem Baumstumpf Isais wächst ein Reis hervor, / ein junger Trieb aus seinen Wurzeln bringt Frucht.“ (Jesaja 11,1).