Die Not wird als Pädagogik Gottes interpretiert, ohne sie zu rationalisieren. Doch der Todesschreck wechselt die Seiten.
1. Verortung im Buch
In der Tradition der Kirche gelten seit dem antiken Schriftsteller Cassiodorus sieben Psalmen als sogenannte Psalmi Poenitentiales („Bußpsalmen“): die Psalmen 6; 32; 38; 51; 102; 130; 143. Es überrascht jedoch, dass in Psalm 6 keine Sünden des Beters thematisiert werden und auch kein Sündenbekenntnis vorliegt. Sondern im Fokus des Beters stehen vor allem seine Feinde (Verse 9-11).
Durch die Psalmen 3-6 zieht sich ein trotziges „du,aber“, das die Gebetdynamik bestimmt. Der erlebten Welt wird der Glaube an die Beziehung der Betenden zu Gott gegenübergestellt: „Du aber, HERR, bist ein Schild für mich, du bist meine Ehre und erhebst mein Haupt“ (Psalm 3,4); „In Frieden leg ich mich nieder und schlafe; denn du allein, HERR, lässt mich sorglos wohnen“ (Psalm 4,9); „Denn du, HERR, segnest den Gerechten. Wie mit einem Schild deckst du ihn mit Gnade“ (Psalm 5,13) und dann in Psalm 6,4: „Meine Seele ist tief erschrocken. Du aber, HERR - wie lange noch?“
Bereits der Kirchenlehrer Augustinus von Hippo hat darauf hingewiesen, dass das Gebet in Psalm 6 eine Fortsetzung in Psalm 7 findet: PS 6 sei das Flehen um Heilung der Seele, Psalm 7 dann das Lob der geheilten Seele samt Bitte um Bewahrung.
2. Aufbau
Der Schrecken prägt dieses Gebet: Die Glieder des Beters erstarren vor Schrecken, seine Seele ist tief erschrocken (Verse 3-4), aber am Ende ist er sich gewiss, dass alle seine Feinde in tiefen Schrecken geraten werden (Vers 11). Dabei handelt sich nicht einfach um einen kurzen Schock, sondern die Erschütterung, die einem die direkte Nähe des Todes im ganzen Körper spüren lässt – wie es vor allem in den Worten des Beters in den Versen 2-8 nachzulesen ist.
Die Verse 2-8 bestehen aus einer fünfmaligen Anrede Gottes mit sieben Aufforderungen – die Imperative werden immer drängender und die Begründungen immer länger. Die Dramatik der flehenden Worte erlebt einen Höhepunkt in Vers 4, der im Hebräischen am Ende einfach abbricht: „Du aber, HERR - wie lange noch?“ – es fehlt die Anklage gegen Gott am Ende dieser Frage; doch sie wird nicht ausgesprochen. Der Beter kehrt zu seinem drängenden Flehen zurück. In den Versen 7-8 beklagt er nur noch seine Situation und redet Gott nicht mehr direkt an. …und wie aus dem Nichts spricht er nicht mehr Gott, sondern seine Feinde an (Vers 9) und verortet sich ihnen gegenüber neu in seiner Welt (Verse 10-11). Plötzlich und unerwartet erzählt der Beter in den letzten beiden Versen ein glückliches Ende.
3. Erklärung einzelner Verse
Vers 1: Zu den Angaben „Ein Psalm Davids“ und „Für den Chormeister“ siehe die Kommentierung von Psalm 3,1; 4,1. Die Bedeutung der Angabe „auf der Achten“ (siehe auch Psalm 12,1) bezieht sich vielleicht auf die Stimmlage oder ein achtseitiges Musikinstrument.
Vers 2: Der Psalm ist geprägt durch positive Aufforderungen, beginnt jedoch mit zwei verneinten Imperativen: strafe nicht – züchtige nicht! Nicht das Strafen und auch nicht das Züchtigen werden verneint, sondern dass es nicht im Zorn und im Grimm geschehen möge. Die verwendeten Verben stammen aus der Sprache der Weisheitsliteratur: Es geht nicht um ein gerichtliches Strafen, sondern um Gottes Pädagogik. Der Beter ist sich keiner Sünde bewusst (vgl. hingegen Psalm 38,4-5), aber leidet unter der Erziehung Gottes; vgl. zum Beispiel Jeremia 10,24: „Züchtige mich, HERR, doch mit Maß, / nicht in deinem Zorn, / damit du mich nicht zum Verschwinden bringst!“
Verse 3-4: Die erste Bitte und deren Begründung sind kurz und knapp. Der Beter bittet um Gottes Gnade, da ihm die Lebenskraft fehlt. Betont steht am Ende der ersten Bitte das „Ich“ des Beters. Die zweite Bitte „Heile mich!“ hat in der Auslegungsgeschichte oft dazu geführt, dass angenommen wurde, der Beter wäre sterbenskrank. Im Hebräischen zielt die Aufforderung „Heile mich!“ auf etwas umfassenderes, vgl. Jeremia 17,14: „Heile mich, HERR, so bin ich geheilt, / hilf mir, so ist mir geholfen“ – man könnte Psalm 6,3b ebenso übersetzen: „Rette mich!“. Es geht um die ganzheitliche Wiederherstellung des Beters und das beinhaltet nicht nur seine Gesundheit, sondern auch seinen gesellschaftlichen Stand und seine Beziehung zu Gott. Nicht nur die Glieder des Beters sind starr vor Schock, sondern – und das sogar noch „mehr“ – sein ganzes Leben ist gelähmt. Am Ende von Vers 4 steht dem betonten „Ich“ des Beters das betonte „Du“ der Anrede gegenüber. Doch die Frage an Gott wird nicht zuendegesprochen. Sie verstummt vor der Klage: Bis wann? – die Antwort gibt der Beter selbst in Vers 11.
Verse 5-6: Die Aufforderung zur Umkehr gilt Gott! Das Leben, die Lebenskraft des Beters, zuvor als gelähmt beschrieben, soll nun durch die Zuwendung Gottes reanimiert werden. Sowohl in Vers 4 als auch in Vers 5 steht das hebräische Wort נפש (gesprochen: nefesch), das sowohl „Kehle“ als auch Leben(skraft) bedeutet und oft auch als „Seele“ übersetzt wird. Der Beter beschwört zur Rettung seines Lebens die Gnade (חסד, gesprochen: chesed) Gottes, d.h. den treuen Beziehungswillen Gottes. Der Tod des Beters wäre nichts anderes als ein Beziehungsabbruch durch den Gott des Lebens. In der altorientalischen Welt sowie in weiten Teilen des Alten Testaments wartete auf die Toten nach dem diesseitigen Leben eine schattenhafte Existenz in der Unterwelt. Dieser Ort wird oft als Land des Staubes, der Finsternis und des Vergessen beschrieben, der den Menschen von seinem Gott trennt – es ist, worauf der Beter nun argumentierend hinweist, ein Ort, an dem es kein Gotteslob gibt. Das Argument ist radikal: Ist Gott auf den Lobpreis angewiesen (siehe Auslegung)? In beiden Teilversen von Vers 6 steht das Loben am Ende - sozusagen als Wesensbeschreibung nicht nur des Lebens, sondern auch der Beziehung zwischen dem Menschen und Gott.
Verse 7-8: Das Seufzen, das der Beter beschreibt, ist nicht bedeutungstragend, es ist keine Rede, sondern eher ein leiser, langgezogener Schrei, der in seinen Tränen erstickt. Nun argumentiert der Beter nicht mehr, sondern beschreibt seine eigene Auflösung, das Zerfließen seines Lebens (Vers 7). Seine Augen sind vom fortwährenden Weinen geschwollen und nicht nur altersmatt geworden, sondern „hervorgetreten“. Sind damit die tiefen Augenringe gemeint, die das Gesicht verdunkeln und die Augen scheinbar hervortreten lassen? Wenig wörtlich, aber vielleicht doch passend übersetzt Martin Buber: „stierend auf all meine Bedränger“. Plötzlich erwähnt der Beter Feinde, die im Folgenden als Ursache all seines Leides (gegen Vers 2) benannt werden. Der angsterfüllte Blick des Beters ist in ihre Richtung gewendet, sie bringen ihm den Tod. Plötzlich ist der Beter völlig fixiert auf seine Feinde, „all meine Bedränger“ (Vers 8), „all ihr Übeltäter“ (Vers 9).
Verse 9-10: Kaum ist das eigentliche Problem benannt, werden - wörtlich übersetzt - „diejenigen, die Unheilsmacht verwirklichen“, direkt angesprochen. In ihr Angesicht kann der Beter nun bekennen, dass Gott sein Gebet gehört hat. Seinem Gebet folgt somit direkt die Gewissheit, dass Gott sich ihm nun helfend zuwenden wird. In der antiken, griechischen Übersetzung hat Gott nicht nur das Gebet gehört und er ist sich der Erhörung gewiss, sondern: „der Herr hat mein Gebet angenommen“. Das in Vers 8 als Zerfließen beschriebene Weinen, wird nun als Akt des Gebetes erkannt.
Vers 11: „Bis wann?“, fragte der Beter in Vers 4. Nun ist er sich gewiss, „unverzüglich / im Nu“ wird Gott rettend handeln. Gott steht dem Beter nicht als strenger Pädagoge gegenüber (Vers 2), sondern ihm zur Seite gegen seine Feinde. Sie sollen „beschämt“ werden – das wird zweimal betont. Das kann konkret auch bedeuten, sie sollen zuschanden werden. Bemerkenswert ist, dass dies eine „Umkehr“ beinhaltet. Das kann ganz einfach ihre Abkehr von ihrer bösen Absicht bedeuten, oder eine Umkehr zu Gott; vgl. Psalm 83,17: „Bedecke mit Schmach ihr Gesicht, damit sie, HERR, nach deinem Namen fragen.“ Gemäß Vers 5 soll Gott umkehren, damit die Feinde des Beters (zu Gott) umkehren.