Der antwortende Gott gibt Ruhe auf dem Nachtlager.
1. Verortung im Buch
Psalm 3 endet mit der Feststellung: „Beim HERRN ist die Hilfe. Auf deinem Volk ist dein Segen“ (Vers 9). Der Beter weiß, dass Gott auf sein Rufen antwortet (Vers 5) und er bekennt, dass Gott „meine Ehre“ ist (Vers 5). Auch der Beter in Psalm 4 ist sich gewiss: „der HERR hört, wenn ich zu ihm rufe“ (Vers 4). Und er nennt Gott ebenso „meine Ehre“ (Vers 3, siehe Erklärung). Sowohl der Beter von Psalm 3 als auch von Psalm 4 können aufgrund ihres Gottvertrauens ruhig schlafen: „Ich legte mich nieder und schlief, ich erwachte, denn der HERR schützt mich“ (Psalm 3,6); und: „In Frieden leg ich mich nieder und schlafe; denn du allein, HERR, lässt mich sorglos wohnen“ (Psalm 4,9). Doch aus dem Hilferuf in Psalm 3 ist nun in Psalm 4 ein Gebet voller Vertrauen, ja fast eine Predigt geworden. Psalm 4 kann als Vertrauensbekenntnis darüber, was der Segen Gottes (Psalm 3,9) bedeutet, gelesen werden (siehe vor allem Psalm 4,7-9).
Anders als in Psalm 3 steht der Beter in Psalm 4 nun keinen Bedrängern mehr entgegen. In Psalm 3,3 zitiert er noch seine Feinde: „Viele gibt es, die von mir sagen: Er findet keine Hilfe bei Gott.“ Nun in Psalm 4 sind die vielen keine Feinde mehr, sondern ‚besserungsfähige‘ Menschen: „Viele sagen: Wer lässt uns Gutes schauen?“ (Vers 7, siehe Erklärung).
2. Aufbau
Der Psalm hat zwei Sprechrichtungen: In den Versen 2.7-9 spricht der Beter zu Gott und in den Versen 3-6 predigt er zu den „Mächtigen“ (Vers 3, siehe Erklärung). Das Zitat „der Vielen“ in Vers 7 fungiert wie ein Scharniervers von der Predigt zum Gebet. Generell ist der Psalm von dem „Ich“ des Beters geprägt, doch in Vers 7 sticht der Wir-Bezug hervor, in dem die zuvor Angeredeten einbezogen sind: „HERR lass Dein Angesicht über uns leuchten!“
Mehrere Motive kommen in dem Psalm bewusst wörtlich zweimal vor und prägen den Gebetsverlauf: (1.) Der Bittruf um eine Antwort Gottes (Vers 2), spiegelt sich in der Gewissheit des Beters, dass Gott hört, wenn er ruft (Vers 4). (2.) Dem „Gott meiner Gerechtigkeit“ (Vers 2) sollen „Opfer der Gerechtigkeit“ (Vers 6) dargebracht werden. (3.) Der Beter rät dazu, auf dem Nachtlager im Herzen zu „reden“ und still zu sein (Vers 5), anstatt öffentlich zu „reden“: „Wer lässt uns Gutes schauen?“ (Vers 7); die empfohlene Stille auf dem Bettlager in Vers 5, ist für den Beter verwirklicht, der sich in Frieden zur Nacht legen kann (Vers 9). (4.) Die Aufforderung „… vertraut auf den HERRN!“ (Vers 6) zeigt sich im Leben des Beters umgesetzt: „vertrauensvoll lässt Du mich wohnen“ (Vers 9, wörtlich übersetzt).
3. Erklärung einzelner Verse
Vers 1: In 55 Psalmen steht in der Überschrift die Angabe „für den Chormeister“ (לַמְנַצֵּ֥חַ, gesprochen: leMenaze'ach). Auf den ersten Blick scheint es sich um eine Aufführungsangabe zu handeln – wie auch das folgende „Mit Saitenspiel“. Das hebräische Wort נצח hat die Bedeutung „beaufsichtigen“; aus 1 Chronik 15,21 erschließt sich, dass in den Psalmenüberschriften wohl der Stimmführer (wie die erste Geige bei einem klassischen Konzert) bezeichnet ist. Die genaue Bedeutung und Relevanz dieser Angabe für die Aufführung des Psalms ist jedoch nicht bekannt. Auffällig ist, dass die antike, griechische Übersetzung das Wort anders versteht und folgendermaßen übersetzt: „Auf das Ende hin“. Das hebräische Wort נֵצַח (gesprochen: nezach) bedeutet „Dauer / Ewigkeit“. Die Wortwurzel, die hinter לַמְנַצֵּ֥חַ steht, hat zudem noch eine selten vorkommende, zweite Bedeutung: „leuchten lassen“ – so könnte man auch übersetzen: „Zum Leuchtenlassen“. Im Buch Jesus Sirach wird mit dem Wort das Aufleuchten der Gnade Gottes beschrieben (Sir 35,10). Zur Angabe „Ein Psalm Davids“: siehe Psalm 3,1)
Vers 2: Der Psalm fängt nach der Überschrift direkt mit einer Bitte an; wobei diese Bitte doch zugleich auch der Themavers des ganzen Psalms ist und eine Gewissheit ausdrückt (vgl. Vers 4): Der Beter ist sich aufgrund Gottes früheren Rettungshandelns gewiss, dass Gott auf sein Rufen antworten wird. Er wird es nicht nur „erhören“, sondern der Beter erwartet eine konkret erfahrbare Zuwendung Gottes. Im Denken des Alten Testaments ist Gott klar als „antwortende Gott“ definiert, der hört und handelt. Diese dialogische Beziehung zwischen dem Gläubigen und Gott drückt sich auch in der auf den ersten Blick überraschenden Anrede „Gott meiner Gerechtigkeit“ aus. Gerechtigkeit ist weder subjektiv noch individuell zu verstehen, sondern bezeichnet im Alten Orient die Weltordnung, die sich im Strafen und Lieben Gottes verwirklicht. Nur Gott kann Gerechtigkeit herstellen. So ist diese Anrede keine Vereinnahmung Gottes durch den Beter, sondern ein Bekenntnis zu Gott und dessen Weltordnung. Vers 2 endet mit dem hebräischen Wort תְּפִלָּה (gesprochen: Tefila), dass sowohl Flehen als auch Bittgebet bedeutet. Allerdings folgt, ab Vers 3 nun nicht die zu erwarteten Notschilderung eines solchen Gebetes.
Vers 3: Wen der Beter nun anredet, ist nicht eindeutig zu klären. Im Hebräischen lautet die Anrede: בְּנֵ֥י אִ֡ישׁ (gesprochen: bnei isch). Vergleichbare Anreden finden sich im Ägyptischen und Babylonischen für angesehene und vornehme Personen. (vgl. vielleicht auch Psalm 49,3). Allerdings steht diese Anrede in Ps 62,10 synonym zur allgemeinen Bezeichnung „Menschenkinder“. Somit ist anfangend in Vers 3 entweder die Führungselite oder jeder Mensch angesprochen. Auch das Objekt ihrer Schmähungen „meine Ehre“ ist doppeldeutig: Ist die persönliche Ehre / Würde des Beters gemeint, oder handelt es sich hier, wie in Psalm 3,4 um eine Umschreibung Gottes? Ein Blick auf Psalm 106,20 lässt erkennen, dass Ehre ein relationaler Begriff ist; es geht um Beziehung – wörtlich übersetzt steht dort: „Sie [= die Israeliten] vertauschten ihre Ehre mit dem Bild eines Stieres, der Gras frisst [= das goldene Kalb, siehe Exodus 32].“ Die Ehre des Beters in Psalm 4 liegt in seiner Gottesbeziehung begründet. Dies wird auch deutlich in dem folgenden Vorwurf gegen die „Herrensöhne“, bzw. seine Mitmenschen. Sie lügen und folgen dem Nichtigen. Hinter dieser Anschuldigung liegt vielleicht eine zweite Bedeutungsebene, denn das in der revidierten Einheitsübersetzung mit „Lüge“ wiedergegebene hebräische Wort bezeichnet auch Götzen und deren Verehrung (siehe Amos 2,4 und Psalm 40,5); und in Ps 2,1 bedeutet das Sinnen auf Nichtiges die Rebellion gegen Gott (siehe auch die Erklärung zu Vers 8).
Vers 4: Der Beter ruft die Angeredeten zur Gotteserkenntnis auf! Ort dieser Gotteserkenntnis ist das Leben des Beters. Seine Auserwählung - eigentlich das besonderen Handeln Gottes an ihm - ist keine Auszeichnung; die Bezeichnung als „Frommer“ ist kein Verdienst, sondern beschreibt in der Sprache des Alten Testament jemanden, der gemäß der Liebe und Treue Gottes handelt, da Gott eben in Liebe und Treue an ihm gehandelt hat. Gottes Rettungstag (Vers 2) hat den Beter zu einem Frommen gemacht. An ihm und seinem Bekenntnis ist das Handeln Gottes in der Welt erkennbar. Weil er seinem Gott treu ist, vertraut er darauf, dass auch Gott ihm liebend zugewandt ist; so kann er sich gewiss sein, dass Gott ihn stets hört, wenn er zu ihm ruft. Sein Gottvertrauen soll den Angeredeten ein Vorbild sein.
Vers 5: Die folgende Aufforderung ist überraschend: רִגְז֗וּ (gesprochen: rigszu) bedeutet nicht nur „erschreckt!“, sondern auch „bebt!“ im Sinne von „habt Angst!“ oder „rast vor Zorn!“. Der Beter fordert zur Unruhe auf, die grundgelegt ist in der Aussage von Vers 4. Sie fordert eine Reaktion heraus. Doch egal, wie diese Reaktion ausfällt, ob Angst oder Zorn, er mahnt die Angeredeten deswegen sich nicht gegen Gott zu versündigen (vgl. Exodus 20,20). Sie sollen die Nacht als Zeit der Besinnung nutzen, das vom Beter Gesagte bedenken und zur Ruhe kommen, d.h. still werden. Der Beter will den Angesprochenen zum Ort der Gotteserkenntnis werden.
Vers 6: Was sind „Opfer der Gerechtigkeit“? Im Sinne von Sprichwörter 21,3 könnte sich darin eine gewisse Kultkritik äußern: „Gerechtigkeit üben und Recht ist dem HERRN lieber als Schlachtopfer.“ Doch dieselbe Wendung steht auch in Psalm 51,21 und verdeutlicht dort, dass Opfer der Gerechtigkeit rechte Opfer von Menschen, die in ihrem Leben recht handeln, sind. Im Darbringen solcher Opfer zeigt sich das geforderte Gottvertrauen.
Vers 7: Im Kontext des Alten Orients ist die hier zitierte Frage, sowohl Kritik an Gott als auch eine polytheistische Sondierung: Von welchem Gott ist Gutes zu erhoffen? Die Beantwortung dieser Frage ist ein Bekenntnis. Auch wenn das deutsche Wort „das Gute“ so abstrakt klingt, geht es dem dahinterstehenden hebräischen Wort doch konkret um Schutz und Lebensintensität – was damit gemeint ist, verdeutlicht sich anhand von Jeremia 31,12-14: „Sie kommen und jubeln auf Zions Höhe, sie strahlen vor Freude über die Wohltaten [= das Gute] des HERRN, über Korn, Wein und Öl, über Lämmer und Rinder. Sie werden wie ein bewässerter Garten sein und nie mehr verschmachten. Dann freut sich die Jungfrau beim Reigentanz, ebenso Junge und Alte zusammen. Ich verwandle ihre Trauer in Jubel, tröste sie und mache sie froh nach ihrem Kummer. Ich labe die Priester mit Opferfett und mein Volk wird satt an meinen Gaben - Spruch des HERRN.“ Ganz konkret setzt der Beter „das Gute“ mit dem Aufleuchten des Angesichtes Gottes gleich, indem er aus dem Priestersegen in Numeri 6,24-26 zitiert und dies als Bitte formuliert, die ihn sowie die Angesprochenen im gemeinsame „Wir“ umfasst.
Vers 8: Glaube bedeutet Leben in Fülle. In den Worten des Beters steht sich jedoch die direkte Freude über Gott und die indirekte Rede über seinen Segen (in der Form einer reichen Ernte) gegenüber. Hier klingt die Kritik an, dass die vielen sich über den reichen Segen freuen, aber nicht über dessen Quelle. Hinter den beiden hebräischen Worten für Korn und Most verbirgt sich vielleicht eine Anspielung auf die in Mesopotamien und Syrien verehrten Gottheit Dagon und Tirasch; vgl. auch die prophetische Kritik an Israeli in Hosea 2,10-13: „Aber sie hat nicht erkannt, dass ich es war, der ihr das Korn und den Most und das Öl gab, der sie mit Silber überhäufte und mit Gold, das man dann für den Baal verbrauchte. Darum werde ich mir mein Korn zurückholen zu seiner Zeit und meinen Most zu seiner Jahreszeit; ich werde ihr meine Wolle und mein Leinen entreißen, die ihre Blöße verhüllen sollten.“
Vers 9: Die Freude des Glaubens ist Friede. Schon die alttestamentliche Weisheit lehrt, dass ein fleißiges Leben mit tiefem und gutem Schlaf belohnt wird: „Süß ist der Schlaf des Arbeiters, ob er wenig oder viel zu essen hat. Dem Reichen raubt sein voller Bauch die Ruhe des Schlafs“ (Kohelet 5,11). Der gute Schlaf gilt als Quelle für Lebenskraft und ist zugleich eine Gnadegabe: „… was recht ist, gibt der HERR denen, die er liebt, im Schlaf“ (Psalm 127,2), vgl. auch 1 Könige 19,18. Schon Vers 5 verdeutlicht, dass die Nacht die Zeit der Ruhe und somit Gotteserkenntnis ist. Die Ruhe des Beters ist am Ende des Psalms begründet in seinem Vertrauen auf die Einzigkeit Gottes.