Mehr als die Hälfte der Psalmen sind Klagepsalmen, Von ihnen ist Psalm 88 vermutlich der düsterste, Psalm 22 hingegen der bekannteste. Sein Eröffnungsruf "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen" ist für Christen in das Gemeinschaftsgedächtnis eingegraben, da das Markusevangelium Jesus mit diesen Worten am Kreuz sterben lässt (Markus 15,34). Dass die Markus-Passion sogar mehrfach auf den Psalm zurückgreift, (vgl. dazu unter "Kontext"), dürfte weitaus weniger bekannt sein.
In unmittelbarer Nachbarschaft dieses existentiellen Klagepsalms steht der einzige reine Vertrauenspsalm des biblischen Psalters: nämlich Psalm 23 "Der Herr ist mein Hirt ...". Diese Spannung zwischen gefühltem Gottesverlust (Psalm 22) und erlebter Gottesnähe (Psalm 23) stellt spannungsstark und zugleich realistisch zwei Grunderfahrungen dar, die sich ergeben, wenn jemand sein Leben aus Glauben heraus deutet. Die Spannung aufzulösen - das zeigt manche Heiligenvita, wie etwa diejenige der Theresa von Lisieux - bleibt eine Aufgabe, die erst im Tode endet, der nach christlichem Glauben und Hoffen zur endgültigen Begegnung mit dem "Guten Hirten" führt und das "Mein Gott!" aus jedem Fragekontext herausholt und zur reinen Liebeserklärung umwandelt, auf die Gott mit seiner Liebeserklärung "Mein geliebtes Kind!" antwortet oder ihr gar zuvorkommt.
Aufbau des Psalms
Die Länge des Psalms und der Wechsel der Bildwelten bzw. Stimmungen mag beim ersten Lesen verwirren. Genaue Lektüre ergibt allerdings einen klaren Aufbau:
Vers 1 Überschrift
Verse 2-3 Ich-Klage über die Ferne Gottes
Verse 4-6 vergangenheitsgestütztes Vertrauensbekenntnis
Verse 7-9 Ich-Klage über die eigene "Entmenschung" und die Verachtung durch die Anderen
Verse 10-12 schöpfungstheologisch gestütztes Vertrauensbekenntnis und Bitte um Aufhebung der Gottesferne
Verse 13-14 Klage über die Anderen im Bild wilder Tiere
Verse 15-16 Ich Klage über die eigene "Ich-Auflösung"
Verse 17-19 Klage über die anderen im Bild wilder Tiere
Verse 20-22a Bitte um Aufhebung der Gottferne und um Rettung vor den wilden Tieren (also den Anderen)
Vers 22b Bekenntnis: Gott hat "geantwortet"
Vers 23 Lobgelübde
Verse 24-27 Lobaufforderung an die "Nachkommen Jakobs"
Verse 28-32 Aussicht auf Loblied der ganzen Welt auf Gottes Königtum mit Schlussbekenntnis zu Gottes Wirken
Die Übersicht zeigt bis Vers 22a einen permanenten Wechsel zwischen Klage-Elementen und Vertrauensäußerungen, wobei beide sich zunehmend verstärken: Die Vertrauensäußerungen werden zur immer dringenderen Bitte an Gott, Abhilfe zu schaffen; die Klage über die Anderen wird in ihrer Bildwahl immer bedrohlicher.
Vers 22b benennt vom hebräischen Wortlaut her, dass der Beter/die Beterin Gottes Antwort vernommen hat.
Die "klassische" Reaktion auf solche Erfahrung der Nähe Gottes in Klagepsalmen sind Lob- und Opferversprechen. Das entsprechende Gelübde des Beters ist wohl der ursprüngliche Schluss des Psalms (Vers 23), dem sich eine Aufforderung zum Lob an die Anderen anschließt. Die Nicht-Nennung von Opfern könnte ein Nachklang der tempellosen Zeit des Exils und danach (586 - 515 v. Chr.) sein.
Mit den Versen 28-32 folgt ein zweiter, nachträglicher Schluss des Psalms, der das betende "Ich" völlig vernachlässigt und den gesamten Psalm in den universalen Horizont der Königsherrschaft Gottes stellt.
Kurze Bemerkungen zu den Einzelteilen
Vers 1: Ein Psalm Davids
Die Überschrift macht keine historische Aussage. Sollte sie im Sinne "Ein Psalm Davids" zu verstehen sein, so ist sie eine spirituelle Anweisung, den Psalm im Geiste des einstigen Königs David, der auch Zeiten der Gottferne kannte (z. B. Verfolgung durch den eigenen Sohn Absalom), zu beten. Denkbar ist auch, dass die Angabe als Widmung "Für David" zu übersetzen ist, wobei "David" dann die Bezeichnung einer Vorsängergruppe wäre wie in anderen Psalmen "Asaf" oder "Korach".
Die Vortragsbezeichnung ("Hinde [hebräisch ʼayǽlæt] der Morgenröte") kann nicht sicher aufgelöst werden, erinnert aber an den am ausgetrockneten Wassergraben nach Wasser lechzenden Hirsch in Psalm 42,2 [wahrscheinlich ist auch hier statt ʼāyál ʼayǽlæt "Hirschkuh/Hinde" zu lesen]. Da im Übrigen der Morgen die Zeit, da man Gottes Hilfe und Gerechtigkeit mit der aufgehenden Sonne (im Alten Orient der Gott der Gerechtigkeit) erwartet, könnte man interpretieren: Gleich dem durstigen Tier brüllt der Beter/die Beterin nach der Erfahrung von Gottes (gerechtem) Handeln. Dem Psalm ist ein entsprechender Rezitationston zu unterlegen.
Verse 2-3: "Worte meines Schreiens/Brüllens"
Erlebte Gottferne, Ausbleiben jeglicher Antwort trotz unablässlichen Gebet-"Brüllens" (so die wörtliche Übersetzung des hebräischen Wortes šāʼag, das z. B. für Löwen verwendet wird), das auch in der Nacht nicht zum Schweigen führt - das ist die Ausgangserfahrung der Beterin/des Beters. Zum konkreten Grund der Klage, welche Situation also als Gottferne erlebt und gedeutet wird, erfahren wir zumindest eingangs nichts. Zur Deutung der "Warum"-Frage (Vers 2) s. unter Auslegung.
Verse 4-6: "Aber du ..."
Angesichts des Vergeblichkeitsrufs, da die Antwort Gottes auszubleiben scheint, erstaunt heutige Leser*innen das deutliche Bekenntnis zu demselben Gott als "heilig". Doch versteht man dieses Bekenntis von Jesaja 6,1-71 her, überrascht der Perspektivwechsel deutlich weniger. Denn der "heilige Gott" ist der dem Menschen unverfügbare Gott, dessen Macht gleichermaßen Gericht wie auch Vergebungsbereitschaft und damit Rettung umfasst. "Heiligkeit" Gottes ist das Gegenteil davon, den berechtigten Zornesanteilen freien Lauf zu lassen. Sie werden vielmehr "gebändigt" durch die viel größere "Langmut" Gottes, die biblisch eine "Langsamkeit zum Zorn" umschreibt. Auf sie setzt die Beterin/der Beter aus Psalm 22 und findet den Grund dazu bei seinen Vorfahren. Das bedeutet: Wo die eigene positive Gotteserfahrung ausbleibt, wird auf die Fremderfahrung Anderer zurückgegriffen. Hier erweist sich als hilfreich, dass der betende Mensch in den Psalmen sich nie nur als Individuum versteht, sondern doppelt in die Gemeinschaft "Israels" eingebunden sieht: die unter Umständen aktuell versammelte Gemeinschaft der "Brüder" im Gottesdienst und die die Zeiten überschreitende Gemeinschaft des Gottesvolkes seit der Rettung aus Ägypten.
Offensichtlich schwingt die Hoffnung mit, dass Gott auch die/den Betenden aktuell die Rettungserfahrung machen lässt, die die nicht vergeblich hoffenden Vorfahren einst machen durften.
Verse 7-9: "Ich aber bin ein Wurm"
Doch noch ist diese Rettung "Zukunftsmusik". Die Bildsprache zur Beschreibung der eigenen Gefühlslage angesichts der sozialen Ächtung ist auch heute, besonders im Zeitalter digitaler hate speeches, sofort verständlich. Die "Wurm"-Metapher steht nicht nur für eine völlige "Entmenschung", sondern spielt die Vorstellung ein, als Lebender bereits ein Toter zu sein (vgl. Ijob 1713-14: "13 Ich erhoffe nichts mehr. Die Unterwelt wird mein Haus, in der Finsternis breite ich mein Lager aus. 14 Zur Grube rufe ich: Mein Vater bist du!, Meine Mutter, meine Schwester!, zum Wurm."). Hintergrund könnte die Erkrankung des Beters sein, insofern Krankheit als Gottesstrafe für Sünde verstanden wurde (vgl. noch in Johannes 9,2 die erste spontane Jüngerreaktion angesichts eines Blindegeborenen: "Rabbi, wer hat gesündigt? Er selbst oder seine Eltern, sodass er blind geboren wurde?"). Die Folge war, dass man Kranke mied, um nicht in den Dunstkreis der Gottesstrafe mitzugeraten, und sich auch noch moralisch über sie erhob. Dabei ist es dem realen Leben gut abgeschaut, wie gerne Menschen dazu neigen, in den eh schon vorhandenen Wunden Anderer zu bohren. Im konkreten Fall wird gerade das, was dem Betenden selbst die meiste Not macht, das Ausbleiben der Antwort Gottes, als Spott unter die Nase gerieben: "Der soll mal schön helfen ...!"
Verse 10-12: "Ich aber bin geworfen auf dich"
Diese Verse blenden wieder eine mit den Versen 4-6 vergleichbare Vertrauensperspektive ein. Nun wird aber nicht auf die Geschichte des Volkes Israels zurückgeblickt, sondern auf die eigene Individualgeschichte: Die Beziehung zwischen Mensch und seinem Gott beginnt mit dem Werden im Leib der Mutter. Dieser also von Anbeginn für das Leben zuständige Schöpfergott wird angerufen, und zwar sowohl bei seiner Schöpfer- und damit auch Rettungsmacht als auch bei seiner Verantwortlichkeit für sein Geschöpf, das auf ihn - Gott - "geworfen" ist. Im letzten Jahrhundert hat der Philosoph Martin Heidegger (1889 - 1976) den Begriff der "Geworfenheit" losgelöst von seiner theologischen Eingebundenheit für die Unausweichlichkeit der menschlichen Existenz verwendet, also für die Tatsache, einfach dasein zu müssen - ein Thema, das gerade angesichts der Diskussion um das Recht auf Selbsttötung besonders aktuell ist. Diese ist allerdings kein Gedanke der Beterin/des Beters, die bzw. der vielmehr auf die neu erfahrene Nähe Gottes und Hilfe durch ihn hofft, die er bei den Menschen vermisst ("kein Helfer ist da").
Verse 13-19: "Stiere", "Büffel" und "Hunde"
Diese Versgruppe umklammert mit ihren beiden durch Tiermetaphern bestimmten Kleinstrophen (Verse 13-14.17-19), die mit neuen Worten auf die "Spötter" aus Vers 7-9 blickt, eine erneute Ich-Klage (Verse 15-16), die an den Beginn von Vers 7 erinnert. Auch hier erinnert die völlige Auflösungs-Sprache an einen sich zersetzenden Leichnam und damit an den Tod (Vers 16 wird er ausdrücklich genannt), dem der Beter/die Beterin sich offensichtlich näher fühlt als dem Leben. Vielleicht spielt auch die im Hintergrund vermutete Krankheit für die Formulierungen eine Rolle, die z. B. mit hohem Fieber verbunden sein könnte (und den zugehörigen "Glieder"-Schmerzen). "Herz" und "Eingeweide" sind die für Vitalität, Handlungsvermögen und Gefühlswelt stehenden Organe, die ihren Dienst nicht mehr erfüllen können. Die absolute Kraft- und Sprachlosigkeit ("trockene, am Gaumen klebende Zunge") weckt schon beim Lesen das reine Mitleid, wenn man sich nur vom Psalm anrühren lässt. Die Sprachwelt mit eigenen Erfahrungen aufzufüllen, dürfte nicht schwerfallen.
Um diese Ich-Klage, die sich ganz auf das subjektive, körperliche Empfinden fokussiert, "lagern" sich die Verse 13-14.17-18, die die Wahrnehmung der Außenwelt beschreiben: Deren Vertreterinnen und Vertreter erscheinen als Bestien, die ihre Menschlichkeit verloren haben. Sie gieren geradezu nach dem Untergang des Leidenden. Das Bild der Bedrohung durch "Gefräßigkeit" meint nicht unbedingt körperliche Nachstellung, eher vielleicht verbale Aktionen mit "großem Mundwerk". Im übrigen erscheint der Beterin bzw.dem Beter die Gegenwelt nur als "Rotte". Die Vielen gegen den Einen - in dieser Ohnmacht erlebt er sich. "Stiere" stehen dabei eher für Macht, "Büffel von Baschan", also aus der besten Weideregion Israels in dessen Nordosten, an "Ausgefressenheit"; die "Hunde" (nach Exodus/2 Mose 11,7 angriffslustige Tiere) scheinen wegen ihrer Neigung zur Meute-Bildung gewählt zu sein.Der Hinweis auf die "durchbohrten" Hände und Füße kann sich nur auf die griechische Übersetzung des Alten Testaments stützen (Septuaginta). Der hebräische Text hat den unverständlichen Wortlaut: "Wie der Löwe - meine Hände und meine Füße". Wegen der zuvor genannten Hunde ist man geneigt, eher an "beißen" oder gar "abnagen" (statt an "Löwe" oder "durchbohren") zu denken. Dazu würde die Fortsetzung mit dem "Knochen"-Bild passen. Krankheit und Schikane im Verein lassen den Menschen bis auf die Knochen abmagern. Während er seinen Leib knochenzählend betrachtet, wird er für die Anderen zum reinen Objekt des Gaffens. Heute würde man sagen: Der bzw. die Eine leidet, und die Anderen halten ihr Handy drauf, um die Photos dann in den Social Media zu teilen.
Auch Vers 19 ist nicht fern von Gegenwartserfahrungen: Da ist jemand noch nicht gestorben, da werden schon seine Besitztümer verteilt. Dabei gilt im Alten Testament wie überhaupt im Alten Orient das "Gewand" nicht nur einfach als Besitz, sondern es ist so etwas wie ein Identity Marker, ein Persönlichkeits-Ausweis. Am "Gewand" ist eine Person identifizierbar. Vers 19 erzählt davon, wie Menschen einen Leidenden bereits "abgeschrieben" haben und den ganzen "Fall" nur unter materiellem Gesichtspunkt betrachten.
Verse 20-22a: "Du aber ..."
Vers 20 greift wörtlich die Einleitung von Vers 4 auf. Jetzt aber geht es nicht um ein Vertrauensbekenntnis, sondern um die mehrfache Anrufung Gottes um Hilfe. Diese Bitte ist ein fester Bestandteil, wenn ein Psalm als Klagelied gestaltet ist: Neben Klage und Vetrauensbekenntnis gehört - eigentlich sehr erwartbar - auch die Bitte um Änderung der Situation dazu. Diese Bitte war in Vers 12 schon einmal ganz kurz vorweggenommen worden. Jetzt, nach der großen Klage, hat sie ihren rechten Platz und wird entsprechend breit entfaltet. Dabei haben die Verse etwas Synthetisierendes ("Zusammenfassendes"), insofern sowohl mit den Tieren als auch mit Wörtern "fern", "Hilfe" und "retten" Begriffe zitiert werden, die allesamt vorher im Psalm bereits eine wichtige Rolle spielten. Wirklich neu eingeführt wird "nur" das Wort "Leben", das "einzige Gut". Dieses Wort bringt auf den Punkt, um was es der Beterin bzw. dem Beter wirklich geht. Wie der Beter von Psalm 42 richtet er "ein Gebet zum Gott meines Lebens" (Psalm 42,9). Auffallend ist übrigens, wie abweichend, deutlich friedlicher, Psalm 22,21 ("Entreiß mein Leben dem Schwert") gegenüber Psalm 17,13 formuliert: "Steh auf, HERR, tritt dem Frevler entgegen! Wirf ihn zu Boden, entreiß ihm mein Leben mit dem Schwert!".
Vers 22b: "Du hast geantwortet"
Lange Zeit folgte man in den deutschen Übersetzungen dieses Versteils, der eigentlich nur aus einem einzigen Wort besteht (ʽanîtānî) der griechischen und lateinischen Übersetzungstradition "Rette mich Armen!". Diese Bitte würde gut passen, korrespondiert aber nicht mit dem überlieferten Text, der eindeutig sagt: "Du hast geantwortet." Deshalb hat die neue Einheitsübersetzung sich zu Recht für den hebräischen Text entschieden. Dabei ist "erhören" allerdings eine bereits sehr interpretierende Übersetzung. Denn hebräisch ʽānāh bedeutet einfach nur "antworten". Die Wendung lässt also völlig offen, ob die Antwort der Beterin/dem Beter tatsächlich als "Erhörung" einer konkreten Bitte erscheint oder einfach als die Erfahrung wenigstens einer Reaktion, die aber möglicherweise anders ausgefallen ist als ursprünglich erwartet.
Erkennbar findet auf jeden Fall an dieser Stelle im Psalm ein Stimmungsumschwung statt. Dabei muss offenbleiben, ob tatsächlich die Antwort Gottes für den betenden Menschen erfolgt ist oder ob er sich der Antwort Gottes einfach nur so gewiss ist, dass er sie betend bereits vorwegnehmen kann. In jedem Fall gilt: Ob real oder vorwegnehmend, Gottes Ferne hat sich in Gottes Nähe gewandelt. Es muss ebenfalls offenbleiben, ob an das Ende der sozialen Schikanen, an ein Aufhören der Krankheit oder an eine in der Krankheit stärkende Gotteserfahrung zu denken ist. Alles ist möglich und gibt daher Raum, sich selbst als Beterin und Beter in diesem Psalm unterzubringen.
Vers 23: "Ich will .... dich loben"
Zur Rettung gehört der Dank, am Ende eines Klagelieds sehr oft als Dankversprechen bzw. Dank-"Gelübde" formuliert. So geschieht es auch in Psalm 22. Der Lobdank soll erfolgen inmitten der betenden Gemeinschaft. Die "Brüder" werden zu Ohrenzeugen des Rettungsbekenntnisses eines aus ihrer Mitte. Dieser Eine reiht sich damit ein in die große "Wolke der Zeugen" (zu diesem Ausdruck vgl. Hebräer 11,1), die mit den "Vätern" aus Vers 5 beginnt. So werden sich in Zukunft Menschen, denen es an eigener Gotteserfahrung mangelt, auch auf diesen namenlosen Geretteten berufen können, dessen Lob durch die Gemeinde ("inmitten der Gemeinde") sich vervielfachen soll.
Verse 24-27
Das Gelübde (Ich-Rede) wechselt nun in Aufforderungsrufe (Ihr-Rede), die an die "Nachkommen Jakobs" bzw. "Nachkommen Israels" ergehen. Beide Namen beziehen sich auf den Isaak-Sohn "Jakob" als Ahne des Volkes: "Jakob" steht vor allem für die "Erwählung", "Israel" - der Segensname Jakobs seit seinem Kampf mit Gott ("Israel" bedeutet "Gottesstreiter") am Jabbok (vgl. Genesis/1 Mose 32,23-33) - steht für die Volksgemeinschaft.
Vers 25 kann als der eigentliche Lobpreistext der/des Geretteten aufgefasst werden. Er zitiert sich im Psalm sozusagen selbst und kann deshalb von sich in der dritten Person sprechen: "Er [Got] hat gehört, als er [der Beter] zu ihm [Gott] schrie." Dabei korrespondiert die Aussage "Er hat gehört" (jetzt in der Einheitsübersetzung zutreffend übersetzt gegenüber früher: "er hat erhört") dem Bekenntnis von Vers 22a: "Er hat geantwortet."
Dieser "hörende" und "antwortende" Gott ist derart Ursache von allem, wofür die betende Gemeinde ihn jetzt loben soll, dass der Beter auch den Lobpreis selbst nicht sich, sondern Gott zuschreibt: "Von dir kommt mein Lobpreis in großer Versammlung" (Vers 26).
Die Strophe endet mit trostvollen Ausichten für die "Armen", die gleichgesetzt werden mit den "Gott Suchenden" (zur dahinter stehenden Armen-Theologie s. unter Auslegung). Dieser letzte Begriff darf nicht mit der heute öfters anzutreffenden Rede vom "Gottsucher" verwechselt werden im Sinne des tastenden und fragenden Ausschauhaltens einzelner Menschen, ob und wie es Gott gibt und er zur Erfahrung des Menschen werden kann. Vielmehr meint "Gott suchen" im Alten Testament in der Regel das Aufsuchen Gottes im Tempel, das Sich-Hinstellen "vor sein Angesicht". Und dieses Tun erweist sich wiederum als Ausdruck einer umfassenden "Gottesfurcht" (Vers 26), die weniger Angst als eine Anerkennung von Gottes Größe sowie eine Ganzausrichtung des eigenen Lebens in allen Bereichen auf ihn hin meint.
Der Schluss von Vers 27 ist die letzte direkte Anrede des Betenden an die Gemeinde ("euer Herz"). Danach ändert sich die Perspektive in ein "Reden über". Die Formel "auf immer" (hebräisch lāʽad "bis zu [wann auch immer]" markiert ein ursprüngliches Ende des Psalms an dieser Stelle, ist aber zugleich auch das von der Fortsetzung dankbar aufgegriffene Bindeglied, den Psalm räumlich und zeitlich zu weiten.
Verse 28-32
Die Schlussverse wechseln deutlich die Perspektive: Das Ich des Beters verschwindet völlig. An seine Stelle tritt die Rede von den "Enden der Erde" und den "Nationen" (Vers 28). Außerdem ist von einem "Volk" - gemeint ist wohl ein sich neu konstituierendes Israel - die Rede, "das [erst] noch geboren wird" (Vers 32). Universalisierung (die gesamte Welt bzw. der gesamte Erdkreis gerät in den Blick) und Eschatologisierung (Blick auf eine ferne Zukunft einschließlich eines Lebens nach dem Tode) sind die Kennzeichen, die diese Verse als eine zweite, deutlich nach den Versen 23-27 Überarbeitung des Psalms erkennen lassen.
Derjenige, der den Beter bzw. die Beterin errettet hat, erweist sich im Schlussteil als der schöpfungsweit seine Königsherrschaft ausübende Gott. Ihm soll in einer zeitlich nicht näher beschriebenen Zukunft das Lob der ganzen Welt erklingen, die sich vom Lobpreis Israels hat anstecken lassen. Sie, die Menschen der Welt, werden von derselben "Sättigung" erfasst werden (Vers 30: "es aßen und warfen sich nieder die Fetten der Erde" [wörtlich] könnte aufgrund des Folgetextes im Sinne einer Vorwegnahme gelesen werden), die nach Vers 27 den "Armen" vorbehalten ist. In für das Alte Testament kühnem Weiterdenken werden in die Schar der Gott Lobenden auch die Toten (Vers 30a: "Alle, die in den Staub gesunken sind ...") einstimmen. Die Verse 30b-31a "korrigieren" diese Sichtweise wohl und bieten eine Alternativlösung an: Nicht die Verstorbenen selbst werden Gott loben (gemäß der in Psalm 30,10 rhetorischen, im Geiste negativ zu beantwortenden Frage: "Kann Staub dich preisen, deine Treue verkünden?"), sondern ihre auf Erden lebenden Nachkommen.
So wird am Ende eine ganz neue Lob- und Betgemeinschaft angesichts des königlichen Gottes entstehen, deren "Neuschöpfung" (Bild des "Geborenwerdens") auch im Schlussbekenntis miterfasst ist: "Ja, er hat es getan."