Psalmen

Psalm 1

11Selig der Mann, der nicht nach dem Rat der Frevler geht, / nicht auf dem Weg der Sünder steht, * nicht im Kreis der Spötter sitzt,

2sondern sein Gefallen hat an der Weisung des HERRN, * bei Tag und bei Nacht über seine Weisung nachsinnt.

3Er ist wie ein Baum, * gepflanzt an Bächen voll Wasser, der zur rechten Zeit seine Frucht bringt * und dessen Blätter nicht welken. Alles, was er tut, * es wird ihm gelingen.

4Nicht so die Frevler: * Sie sind wie Spreu, die der Wind verweht. 5Darum werden die Frevler im Gericht nicht bestehen * noch die Sünder in der Gemeinde der Gerechten.

6Denn der HERR kennt den Weg der Gerechten, * der Weg der Frevler aber verliert sich.

Überblick

Glücklich ist, wer sein Leben an der Weisung Gottes ausrichtet, denn alle anderen Wege gleichen nur einer Selbstzerstörung. Das ist die radikale Aussage von Psalm 1.

 

1. Verortung

Hieronymus, der Kirchenvater und Heilige, verstand Psalm 1 als die „Haupttür“ in das „große“ Haus, als das er den Psalter beschreibt. Diese Tür ist kein Gebet; Gott wird nicht angeredet. Sondern die Bedeutung der Tora, der Weisung Gottes, wird reflektiert. Der Psalm liest sich wie ein Verweis zurück auf Moses Worte im Buch Deuteronomium, der mit Blick auf die göttlichen Gesetze fordert: „Und diese Worte, auf die ich dich heute verpflichte, sollen auf deinem Herzen geschrieben stehen. Du sollst sie deinen Kindern wiederholen. Du sollst sie sprechen, wenn du zu Hause sitzt und wenn du auf der Straße gehst, wenn du dich schlafen legst und wenn du aufstehst“ (Deuteronomium 6,6-7). Die Tora Gottes – seine Weisung, seine Gesetze - soll das Lebensprinzip des Menschen sein. An ihr und ihrer praktischen Umsetzung im Leben entscheidet sich, ob ein Mensch ein Gerechter oder ein Frevler ist. 

Wer das Buch der Psalmen durch diese Tür betritt und die einzelnen Texte abschreitet, wandelt durch die Klage zum Lob hin. Aus dem Meditieren der Tora entwächst im Leben der Lobpreis – so wird zum Beispiel in Psalm 19 die Weisung Gottes als Grund zur Freude gefeiert: „Die Weisung des HERRN ist vollkommen, sie erquickt den Menschen. Das Zeugnis des HERRN ist verlässlich, den Unwissenden macht es weise. Die Befehle des HERRN sind gerade, sie erfüllen das Herz mit Freude. Das Gebot des HERRN ist rein, es erleuchtet die Augen“ (Psalm 19,8-9). Und das Buch der Psalmen endet nicht in einer Reflektion über die Weisung Gottes, sondern in einem ausführlichen Lobpreis über den rettenden Schöpfergott. Alles zielt auf die abschließende Aufforderung: „Alles, was atmet, lobe den HERRN. Halleluja!“ (Psalm 150,6). Im universalen Lobpreis vollendet sich das Glück des Menschen, der in Psalm 1 selig- bzw. glücklichgepriesen wird.

Bereits im babylonischen Talmud wurde erkannt, dass die beiden Psalmen 1 und 2, die von Seligpreisungen umrahmt sind, zusammen das Proömium des Psalters bilden (siehe das Traktat Berakot 9b-10a – siehe ausführlich zu dieser Leseweise die Kommentierung von Psalm 2). Psalm 2 schließt mit der Zusage: „Selig alle, die bei ihm [Gott] sich bergen!“ (Vers 12). Beide Psalmen bilden die Hoffnungsgrundlage für die folgenden David zugeschriebenen Klagen in Ps 3-41. Der letzte Psalm dieses sogenannten ersten Davidspsalters beginnt wiederum mit einer Seligpreisung: „Selig, wer sich des Geringen annimmt; zur Zeit des Unheils wird der HERR ihn retten. Der HERR wird ihn behüten und am Leben erhalten. Man preist ihn glücklich im Land.“ (Psalm 41,2-3). Der Mensch, der in Ps 1,1 seligpriesen wird, ist derjenige, der die Tora Gottes meditiert und sie auch befolgt, indem er sich des Geringen annimmt. Er kann sich in Gott bergen und Gott behütet ihn.

 

2. Aufbau

Am Anfang wird der einzelne Gerechte beschrieben, der mit der Darstellung der Frevler kontrastiert wird (Verse 1-3). Das Schicksal der Frevler wird dem als Mahnung an die Seite gestellt (Verse 4-5) und der Weg des Gerechten und die Wege der Frevler werden wertend einander gegenübergestellt (Vers 6). In gewisser Weise stellen diese wenigen Verse eine umfassende Lehre, sozusagen von A bis Z, dar – das wird auch in einem kleinen Detail des Aufbaus deutlich. Das erste Wort des Psalms (אַשְׁרֵי, gesprochen: aschreij) beginnt mit dem ersten Buchstaben des hebräischen Alphabets, während das letzte Wort (‎תֹּאבֵד, gesprochen: toved) mit dem letzten beginnt. Das was den Text vor allem prägt ist die Antithektik, zum Beispiel die Verneinungen „nicht“ (לֹא, gesprochen: lo), die 6mal vorkommt. Besonders hervor sticht Vers 2, der zu den drei Verneinungen in Vers 1, eingeleitet durch „sondern“ (‎כִּ֤י אִ֥ם, gesprochen: ki im), den Gerechten positiv in seinem Tun beschreibt. Und dann nach der weiteren positive Beschreibung durch den Vergleich mit dem Baum, folgt wieder eine Kontrastsetzun in Vers 4 durch “nicht so“ (‎לֹא־כֵ֥ן, gesprochen: lo ken). So wird sprachlich im Aufbau des Psalms die Gegenüberstellung der Wege der Frevler und des Wegs des Gerechten in Vers 6 dargestellt.

 

3. Erklärung einzelner Verse

Vers 1: Für viele Menschen klingt das Wort „selig“ antiquiert. Die hebräische Wortformel ‎אַ֥שְֽׁרֵי־הָאִ֗ישׁ (gesprochen: aschreij ha-ish) kann auch mit „glücklich ist derjenige“ übersetzt werden. Es geht nicht, darum dass jemand in einer Situation Glück gehabt hat, sondern dieses Glück ist etwas, das das ganze Leben prägt: „Alles, was er tut, es wird ihm gelingen.“ (Vers 3).   Dieses Glück ist ein gelingendes Leben. 26mal erklingen in den Psalmen solche Seligpreisungen: Gepriesen werden alle, die Gott fürchten, auf ihn vertrauen, seinen Willen befolgen, gerecht und gütig leben, sich nach Gottes Gegenwart sehnen und von ihm erwählt sind. Vers 1 formuliert einen Glückwunsch, für denjenigen, der sich für den Weg mit Gott entschieden hat. Doch diese positive Aussage wird in einem ersten Schritt durch die Darstellung der negativen Alternative beschrieben. In Vers 1 steht der Einzelne den Vielen gegenüber, die nicht nur sich gegen Gott stellen, sondern zudem auch durch Hohn und Spott Gott und Mitmenschen öffentlich missachten. Der Seliggepriesene, der in Vers 6 als ein Gerechter bezeichnet wird, hält sich fern von Frevlern, Sündern und Spöttern und deren Lebensnormen und Lebenswandel. Der Weg der Frevler, Sünder und Spötter führt, wie die verwendeten Verben anzeigen, zum Erlahmen (siehe dazu auch Vers 6). Eine zunehmende Verstockung wird durch die Reihenfolge „gehen – stehen – sitzen“ angezeigt. Dieser Einstieg in den Psalm verdeutlicht auch, dass der Mensch dem Bösen nicht als etwas abstraktes, sondern in sozialer Form begegnet.

Vers 2: Positiv gewendet wird derjenige glücklich gepriesen, der sich an die Weisung Gottes hält. Der hebräische Begriff תּוֹרָה (gesprochen: torah) wurde in der antiken, griechischen Übersetzung des Alten Testaments mit νόμος (gesprochen: nomos) wiedergegeben und in der folgenden Rezeptionsgeschichte auf die Bedeutung „Gesetz“ verengt. In der Hebräischen Bibel ist der Begriff vielschichtig. Im Buch der Sprichwörter bezeichnet es die Weisung der Eltern (Sprichwörter 1,8) sowie die Lehren des Weisheitslehrers (Sprichwörter 7,2). Im Buch Levitikus zeigt sich eine Konzentration des Begriffes auf kultische Anweisungen durch die Priester vor allem zur Unterscheidung von heilig und profan (Levitikus 11,46-47). Im Buch Deuteronomium wird תּוֹרָה zum wichtigsten Oberbegriff für den in den Gesetzen niedergeschriebenen Willen Gottes (Deuteronomium 4,44-45), der dann im Buch Nehemia das durch Esra verkündete Gesetz bezeichnet (Nehemia 8,1). Der eine Einzelweisung bedeutende Begriff תּוֹרָה entwickelt sich innerhalb der Hebräischen Bibel zur Bezeichnung der Tora Moses als Terminus für das Buch Deuteronomium bzw. der im Pentateuch gesammelten Gesetze. Die in Psalm 1,2 angesprochene Tora Gottes liegt dem Beter in Schriftform vor, da er nicht nur, wie es in der revidierten Einheitsübersetzung steht, über sie nachsinnt, sondern sie aufsagt, bzw. rezitiert. Im Mönchstum wird das ständige, halblaute Aufsagen von Bibelversen oder -texten als „ruminatio“ bezeichnet, was wörtlich „Wiederkäuen“ bedeutet. Dies trifft die Aussage in Vers 2 ganz gut: Es geht nicht primär darum, auf neue Gedanken zu kommen, sondern in einem ersten grundlegenden Schritt darum, den Willen Gottes sozusagen einzuverleiben – und das soll den ganzen Alltag begleiten. Den hohen Stellenwert der Tora Gottes, wird in Vers 2 auch dadurch deutlich, dass das Wort zweimal vorkommt und somit hervorgehoben wird. Beim zweiten Vorkommen ist die Formulierung „seine Weisung“ im Bezug auf. Man kann sowohl lesen „die Weisung Gottes“ oder die Weisung Gottes ist sozusagen zur einverleibten Weisung des Beters geworden.

Vers 3: Der Seliggepriesene wird mit einem Baum verglichen, der durch mehrere Kanälen bewässert wird. Wie der Fruchtbaum vom Wasser lebt, so lebt der Gerechte durch die Weisung Gottes. Wie der Baum an den Wasserquellen fest verwurzelt ist, so ist der Gerechte fest verwurzelt in der Tora Gottes. Vielleicht assoziiert das Bild von dem Baum auch die Verwurzelung im Tempel und damit in der direkten Nähe zu Gott, vgl. zum Beispiel Psalm 92,13-16: „Der Gerechte sprießt wie die Palme, er wächst wie die Zeder des Libanon. Gepflanzt im Haus des HERRN, sprießen sie in den Höfen unseres Gottes. Sie tragen Frucht noch im Alter und bleiben voll Saft und Frische; 16 sie verkünden: Der HERR ist redlich, mein Fels! An ihm ist kein Unrecht.“ Innerhalb des Psalms bietet der Vergleich mit dem Baum, der einen Ruheplatz mitten im Überfluss hat, jedoch zuvorderst einen Kontrast zum Bild des Streus in Vers 4. 

Verse 4-5: Beim Worfeln wird auf der Tenne das gedroschene Getreide in den Wind geworfen, damit sich die Spreu davon trennt und verweht. Dies ist hier eine Gerichtsmetapher (siehe auch Matthäus 3,12). Die Aussage von Vers 4 wird in der antiken, griechischen Übersetzung noch radikalisiert: „Nicht so die Gottlosen, nicht so, sondern (sie sind) wie der Staub, den der Wind vom Angesicht der Erde wegreißen wird.“ Dem beständigen Baum wird die Vernichtung der nutzlosen Spreu gegenübergestellt. Ob es sich bei diesem Gericht um ein innergeschichtliches oder endzeitliches  handelt, ist nur schwer zu entscheiden. Die antike, griechische Übersetzung geht davon aus, dass die Frevler, Sünder und Spötter nicht aus dem Tod auferstehen werden. Das in Vers 5 verwendete hebräische Verb קום kann diese Bedeutung haben. Innerhalb des Psalms ist das Verb mit der Bedeutung „aufstehen / bestehen“ jedoch zuerst eine Antithese zum Sitzen im Kreis der Spötter (Vers 1)., bzw. ihr Weg kommt zum Stillstand wie Vers 6 verdeutlicht.

Vers 6: Der Weg der Frevler ist nichts anderes als Selbstzerstörung. Man könnte auch übersetzen: „der Weg der Frevler muss vergehen“. Es ist sozusagen die Logik des falschen Lebensentwurf, dass er im Nichts endet. Es wird nicht ausgesagt, dass Gott die Frevler vernichtet – das tun sie durch ihre Art des Lebens selbst. Aktiv wird Gott hingegen nur in Bezug auf den Gerechten, der seliggepriesen wird, beschrieben. Dass Gott seinen Weg „kennt“ beschreibt auch eine intime Beziehung und dies nicht nur punktuell, sondern dauerhaft.

Auslegung

Psalm 1 lässt keinen Zweifel daran: Es gibt nur den einen richtigen Lebensweg und der ist grundgelegt in der Tora, also der Weisung und dem Willen Gottes. Die Tora ist der Maßstab für das Leben. Diese Radikalität könnte als Schwarz-Weiß-Malerei gebrandmarkt werden. Gibt es nicht auch in der Tora-Treue viele Grauschattierungen? Ja, aber die Entscheidung für oder gegen Gott ist eine Antwort mit nur zwei Möglichkeiten. 

Der Leser und Beter von Psalm 1 steht an keinem Scheideweg. Der Weg der Frevler, Sünder und Spötter ist keine Alternative – er vergeht. Der Psalm ist vielmehr eine Aufforderung und Bestärkung zum glücklichen und gelingenden Leben entsprechend der Weisung Gottes, die Leben ermöglicht und gelingen lässt. Der Psalm ist ein Lobpreis auf den paradigmatischen Gerechten, der sein Leben am Willen Gottes ausrichtet. 

Es ist bemerkenswert, dass innerhalb des Psalms in gewisser Weise bei aller Radikalität die Tora nicht genau definiert wird. Es besteht kein Zweifel daran, dass es sich um überlieferte Weisungen Gottes handelt, doch dies wird zum Beispiel nicht allein auf die alttestamentlichen Gesetze zugespitzt. In der Wirkungsgeschichte wurde dann zum Beispiel der Psalter selbst als Tora verstanden, die den Menschen den Weg aus der Klage hin zum Gotteslob lehrt. Die Psalmen seien die Tora Davids, des großen Psalmenbeters – so meinte der große jüdische, mittelalterliche Gelehrte Raschi, Rabbi Schlomo ben Jizchak in seiner Deutung von Psalm 1,2.

Kunst etc.

Eine besondere bildliche Darstellung von Psalm 1 findet man im Utrechter Psalter aus dem 9. Jahrhundert v. Chr. Oben links sieht man den Gerechten, vertieft im Schriftstudium und begleitet von einem Engel. Am oberen Rand ist die Abfolge von Tag und Nacht angedeutet, die anzeigt, dass das Dargestellte nicht nur eine Momentaufnahme ist. Direkt unter dem Gerechten, sieht man ihn ruhend am Baum – wodurch die Bildmetapher aus Vers 3 umgesetzt ist. Neben dem Baum sieht man ein Gesicht, dass in die Richtung der als Soldaten dargestellten Frevler, Sünder und Spötter bläst, ganz entsprechend dem Bild aus Vers 4, wie der Wind, der die Spreu verweht. Das Vergehen des Wegs der Frevler wird plastisch rechts unten dargestellt. Die Darstellung der beiden Personen im oberen Zentrum der Darstellung könnte die Entscheidung zwischen den Wegen darstellen. Dann handelt es sich bei der thronenden Person auf der rechten Seite nicht um David, den Psalmenbeter, sondern das in Vers 1 angesprochene Sitzen im Kreis der Spötter.

Utrecht Psalter. Psalm 1, f. iv, Universitätbibliothek Utrecht. Die Abbildung stammt aus E. T. de Wald, The Illustrations of the Utrecht Psalter (facsimile), Princeton 1932, plate 1.
Utrecht Psalter. Psalm 1, f. iv, Universitätbibliothek Utrecht. Die Abbildung stammt aus E. T. de Wald, The Illustrations of the Utrecht Psalter (facsimile), Princeton 1932, plate 1.