Zwischen Jonas Selbstmitleid und Gottes Mitleid bleibt am Ende des Buches Jona ein Fragezeichen stehen.
1. Verortung im Buch
Das Buch Jona endet mit einer offenen Frage. Am Anfang des Buches und in seiner Mitte ergingen an Jona im Gotteswort klare Anweisungen (Jona 1,1-2 und 3,1-2). Nun im letzten Kapitel stellt der Gott, den Jona in Frage stellt, selbst nur noch Fragen, mit denen er um Jonas Verständnis wirbt. In allen Reden Gottes geht es um die „Ninive, die große Stadt“, doch die theologische Bedeutung wird des Handeln Gottes wird nun in Gottes „Mitleid“ begründet. Sie ist der Hoffnungsanker für die Seeleute, die nicht untergehen wollten in Jona 1,6.14 und des Königs Ninives in Jona 3,9, dass sie vielleicht nicht „zugrunde gehen“ wie die Rizinusstaude.
Jona hatte mit seinem Todeswunsch in Vers 9 die Beziehung zu Gott abgebrochen. Sein Zorn gilt „bis in den Tod“. Doch Gott hakt nochmals nach, ob dieser Zorn berechtigt ist (vergleiche Verse 4 und 9).
2. Aufbau
Die letzten Worte Gottes bestehen aus zwei Sätzen, die einen deutlichen Kontrast zwischen Gott und Jona aufbauen: „Du“ in Vers 10 – und „Ich“ in Vers 11. Der Kristallisationspunkt ist das in beiden Versen vorkommende hebräische Wort für „Mitleid“ (siehe dazu die Rubrik „Auslegung“).
3. Erklärung einzelner Verse
Vers 10: Gott redet mit Jona, doch am Ende des Buches öffnen sich die Worte hin zum Leser und zur Leserin. Dies verdeutlicht der Autor durch einen kleinen Kunstgriff: In der Redeeinleitung wird nun – anders als noch in Vers 9 – der Angesprochene nicht explizit genannt (siehe schon Vers 4). Die Feststellung, dass Jona Mitleid um die Rizinusstaude hätte, wirkt komisch, gar satirisch. Denn er betrauert nicht das Schicksal der Pflanze, sondern versinkt aufgrund ihres Schicksals in Selbstmitleid und daraus resultierend in Zorn. Er vermisst sein eigenes Wohlergehen und Gott hält ihm nur vor, dass ihm die Staude als pures Geschenk Gottes zugewachsen ist. Er selbst hat sich dafür nicht gemüht und nichts zum Wachsen beigetragen. Vielleicht ist das hier verwendete hebräische Verb גדל „groß werden lassen“ eine bewusste Anspielung auf Gottes Verhältnis zu Ninive, die als „große [גדולה] Stadt für JHWH“ bezeichnet (Jona 3,3). Nun wird auch klar, dass die Rizinusstaude Jona keinen Schatten spendete, sondern in der Nacht gewachsen war und ihm so nur die Hoffnung auf kühlenden Schatten gab und vor dem Sonnenaufgang durch Gott doch zugrunde ging – die Staude wird als „Kind einer Nacht“ beschrieben.
Vers 11: Die Größe Ninives gibt Gott mit „mehr als“ 120.000 Einwohnern an. Gemäß einer Stele eines assyrischen Königs, Assurnasirpal II. (883-859), wohnten in der viel kleiner Stadt Kalach 69574 Menschen. Hier geht es nun jedoch nicht um eine genaue Angabe der Einwohnerzahl, wie bereits das „mehr als“ verdeutlicht. Die Zahl steht für eine sehr große Menge (siehe auch Richter 8,10 und 1 Könige 8,63). Und das Mitleid Gottes gilt nicht nur den Menschen, sondern auch dem Vieh, dass gemäß der Erzählung in Jona 3 ebenso „umgekehrt“ ist. Dass die Bewohner, wörtlich übersetzt, „nicht zu unterscheiden wissen zwischen rechts und links“ betont, dass sie – anders als Israel durch die Tora – sozusagen keinen klaren moralischen Kompass besitzen (vergleiche Deuteronomium 5,32). Zu ihnen, denen Gott seinen Willen nicht geoffenbart hatte, schickte Gott eben vielleicht deshalb einen Propheten. Das „Wissen“ jedenfalls ist eine sarkastische Note: Der König Ninives wusste nicht, ob noch Hoffnung für seine Stadt besteht (Jona 3,9), er konnte es nicht wissen, aber kehrte doch zu Gott um. Jona hingegen, der um das Wesen Gottes weiß (Jona 4,2), wandte sich von Gott ab.