Das Buch Jona

Jona 4,10-11: Mitleid

10Darauf sagte der HERR:

Du hast Mitleid mit einem Rizinusstrauch,

für den du nicht gearbeitet und den du nicht großgezogen hast. Über Nacht war er da, über Nacht ist er eingegangen.

11 Soll ich da nicht Mitleid haben mit Ninive, der großen Stadt,

in der mehr als hundertzwanzigtausend Menschen leben, die zwischen rechts und links nicht unterscheiden können - und außerdem so viel Vieh?

Überblick

Zwischen Jonas Selbstmitleid und Gottes Mitleid bleibt am Ende des Buches Jona ein Fragezeichen stehen.

 

1. Verortung im Buch

Das Buch Jona endet mit einer offenen Frage. Am Anfang des Buches und in seiner Mitte ergingen an Jona im Gotteswort klare Anweisungen (Jona 1,1-2 und 3,1-2). Nun im letzten Kapitel stellt der Gott, den Jona in Frage stellt, selbst nur noch Fragen, mit denen er um Jonas Verständnis wirbt. In allen Reden Gottes geht es um die „Ninive, die große Stadt“, doch die theologische Bedeutung wird des Handeln Gottes wird nun in Gottes „Mitleid“ begründet. Sie ist der Hoffnungsanker für die Seeleute, die nicht untergehen wollten in Jona 1,6.14 und des Königs Ninives in Jona 3,9, dass sie vielleicht nicht „zugrunde gehen“ wie die Rizinusstaude.

Jona hatte mit seinem Todeswunsch in Vers 9 die Beziehung zu Gott abgebrochen. Sein Zorn gilt „bis in den Tod“. Doch Gott hakt nochmals nach, ob dieser Zorn berechtigt ist (vergleiche Verse 4 und 9).

 

2. Aufbau

Die letzten Worte Gottes bestehen aus zwei Sätzen, die einen deutlichen Kontrast zwischen Gott und Jona aufbauen: „Du“ in Vers 10 – und „Ich“ in Vers 11. Der Kristallisationspunkt ist das in beiden Versen vorkommende hebräische Wort für „Mitleid“ (siehe dazu die Rubrik „Auslegung“).

 

3. Erklärung einzelner Verse

Vers 10: Gott redet mit Jona, doch am Ende des Buches öffnen sich die Worte hin zum Leser und zur Leserin. Dies verdeutlicht der Autor durch einen kleinen Kunstgriff: In der Redeeinleitung wird nun – anders als noch in Vers 9 – der Angesprochene nicht explizit genannt (siehe schon Vers 4). Die Feststellung, dass Jona Mitleid um die Rizinusstaude hätte, wirkt komisch, gar satirisch. Denn er betrauert nicht das Schicksal der Pflanze, sondern versinkt aufgrund ihres Schicksals in Selbstmitleid und daraus resultierend in Zorn. Er vermisst sein eigenes Wohlergehen und Gott hält ihm nur vor, dass ihm die Staude als pures Geschenk Gottes zugewachsen ist. Er selbst hat sich dafür nicht gemüht und nichts zum Wachsen beigetragen. Vielleicht ist das hier verwendete hebräische Verb גדל „groß werden lassen“ eine bewusste Anspielung auf Gottes Verhältnis zu Ninive, die als „große [גדולה] Stadt für JHWH“ bezeichnet (Jona 3,3).  Nun wird auch klar, dass die Rizinusstaude Jona keinen Schatten spendete, sondern in der Nacht gewachsen war und ihm so nur die Hoffnung auf kühlenden Schatten gab und vor dem Sonnenaufgang durch Gott doch zugrunde ging – die Staude wird als „Kind einer Nacht“ beschrieben.

Vers 11: Die Größe Ninives gibt Gott mit „mehr als“ 120.000 Einwohnern an. Gemäß einer Stele eines assyrischen Königs, Assurnasirpal II. (883-859), wohnten in der viel kleiner Stadt Kalach 69574 Menschen. Hier geht es nun jedoch nicht um eine genaue Angabe der Einwohnerzahl, wie bereits das „mehr als“ verdeutlicht. Die Zahl steht für eine sehr große Menge (siehe auch Richter 8,10 und 1 Könige 8,63). Und das Mitleid Gottes gilt nicht nur den Menschen, sondern auch dem Vieh, dass gemäß der Erzählung in Jona 3 ebenso „umgekehrt“ ist. Dass die Bewohner, wörtlich übersetzt, „nicht zu unterscheiden wissen zwischen rechts und links“ betont, dass sie – anders als Israel durch die Tora – sozusagen keinen klaren moralischen Kompass besitzen (vergleiche Deuteronomium 5,32). Zu ihnen, denen Gott seinen Willen nicht geoffenbart hatte, schickte Gott eben vielleicht deshalb einen Propheten. Das „Wissen“ jedenfalls ist eine sarkastische Note: Der König Ninives wusste nicht, ob noch Hoffnung für seine Stadt besteht (Jona 3,9), er konnte es nicht wissen, aber kehrte doch zu Gott um. Jona hingegen, der um das Wesen Gottes weiß (Jona 4,2), wandte sich von Gott ab. 

Auslegung

Gott bereute sein Urteil über Ninive und zerstörte die Stadt nicht. Dieses Handeln, das verursacht ist durch ein Zurückblicken, ist ein Willenswandel. Die theologische Grundlage dafür benennt Gott nun durch das hebräische Wort הוס. Dieses Verb wird im Alten Testament häufig mit den Augen Gottes genannt. Vielleicht liegt dahinter das Bild, der zu Tränen gerührten Augen. Zusammen mit diesem Verb stehen auch häufig Handlungen des Verschonens und der Barmherzigkeit. In jedem Fall meint es ein tätiges Eingreifen. „Mitleid“ gehört zum Wesen Gottes und es ermöglicht den in der Reue gegeben Willenswandel. Jona verhalten dagegen ist eine Karikatur dessen, denn er leidet nicht emphatisch am Schicksal der Rizinusstaude, sondern er bemitleidet sich selbst. Ebenso wie die Reue Gottes ist aber auch sein Mitleid kein Automatismus – was in einem Gotteswort im Buch Ezechiel klargestellt wird: „Ich gebe nicht nach. Ich habe kein Mitleid, es reut mich nicht. Nach deinen Wegen und deinen Taten werden sie dich richten - Spruch GOTTES, des Herrn.“ (Ezechiel 24,14). Wie das Schicksal der Rizinusstaude verdeutlicht, ist Gott frei in seinem Handeln und kann theologisch – auch durch Jona – nicht begrenzt werden.

Das Mitleid Gottes hat für die Beziehung Gottes zu seinem auserwählten Volk eine ganz besondere Bedeutung, wie sich zum Beispiel im Buch Joel zeigt: „Zwischen Vorhalle und Altar sollen die Priester weinen, die Diener des HERRN, und sprechen: HERR, hab Mitleid mit deinem Volk und mache deinen Erbbesitz nicht zum Gespött, dass Nationen sich nicht lustig machen über sie. Warum soll man unter den Völkern sagen: Wo ist ihr Gott?“ (Joel 2,17) Dass nun jedoch Gottes Mitleid nicht allein auf sein Volk begrenzt ist, das ist die Provokation des Buches Jona. Selbst Ninive, aus israelitischer Perspektive das Paradebeispiel für Grausamkeit und Bosheit, ist Teil der Schöpfung Gottes, der das göttliche Mitleid gilt. Selbst dem Sinnbild des Bösen gesteht Gott die Möglichkeit zu, dass es sich radikal ändert. Und dieser radikale theologische Gedanke, steht am Ende des Buches als offene Frage formuliert, sodass das Buch zwar endet, aber die theologische Beschäftigung mit dessen Aussage am Ende erst richtig beginnt. Jona hätte antworten können: Ist das noch Gerechtigkeit? Jona antwortet aber nicht mehr, sondern der Leser und die Leserin sind nun zu einer Antwort herausgefordert.

Kunst etc.

Michelangelos Darstellung Jonas in der Sixtinischen Kapelle weicht von der Darstellung der anderen Propheten markant durch das Fehlen einer Schrift oder Schriftrolle. Im Buch Jona steht der Prophet selbst im Fokus, wie er auf Gott blickt. Er verweist mit den Fingern auf die Welt, die Sünden Ninives. Wie kann Gott das Geschehen vergessen lassen, „nur“ aufgrund einer Umkehr? Dieser Gedanke drückt ihn nieder – und er verliert den Blick dafür, wie Gott rettend zum Beispiel durch den großen Fisch an Jona gehandelt hat, ohne dass er zu Gott umgekehrt war.

Michelangelos „Jona“ in der Sixtinischen Kapelle, 1511. Lizenz: gemeinfrei.
Michelangelos „Jona“ in der Sixtinischen Kapelle, 1511. Lizenz: gemeinfrei.