Wo ist der Gott der Gerechtigkeit, wenn die Barmherzigkeit und Reue obsiegt? Diese Frage stellt sich der Prophet Jona.
1. Verortung im Buch
Die Bosheit Ninives begründet die Sendung Jonas: „… geh nach Ninive, der großen Stadt, und rufe über sie aus, dass ihre Schlechtigkeit [רָעָתָם, gesprochen: ra‘atam] zu mir heraufgedrungen ist.“ (Jona 1,2). Doch nachdem Jona die Gerichtsworte ausgerufen hat, ruft der König die Stadtbewohner von den Wegen der Bosheit abzulassen: „jeder soll umkehren von seinem bösen Weg [מִדַּרְכּוֹ הָֽרָעָה, gesprochen: miderko hara'a] und von der Gewalt, die an seinen Händen klebt.“(Jona 3,8). Und nach deren Umkehr wendet sich Gott von seinem Gerichtszorn ab, der nun selbst als Bosheit bezeichnet wird: „Da reute Gott das Unheil [הָרָעָה, gesprochen: hara‘a], das er ihnen angedroht hatte, und er tat es nicht.“ (Jona 3,10). Während somit die Stadt Ninive und selbst Gott sich von der Bosheit abwendet, wendet sich Jona ihr nun zu: „Das missfiel Jona ganz und gar [wörtlich: und es war böse zu Jona, eine große Bosheit [רָעָ֣ה גְדוֹלָה, gesprochen: ra’a gdola]] und er wurde zornig.“ (Jona 4,1). Gott zieht das Böse, was er Ninive antun wollte, zurück, aufgrund deren Abkehr von der Bosheit – und eben dies führt Jona zur Bosheit. Während Gott von seinem Zorn ablässt (Jona 3,10), wird Jona zornig über Gott – und die entscheidende Frage Gottes im letzten Kapitel an Jona ist nun: „Ist es recht von dir, zornig zu sein?“ (Jona 4,3; siehe auch Vers 9). Die Reue Gottes wird zum Konfliktpunkt.
2. Aufbau
Der Zorn Jonas rahmt seine erste Reaktion auf das Ausbleiben der Vernichtung Ninives (Verse 1 und 4). In diesem Zorn spricht er ein Bittgebet, in dessen Mitte das Wesen Gottes beschrieben wird, das den Grund Jonas Zorns offenlegt und das in den Todeswunsch mündet.
3. Erklärung einzelner Verse
Vers 1: Die Reaktion Jonas ist direkt bezogen auf die in Jona 3,10 beschriebene Reue Gottes. Wörtlich steht hier am Anfang: „und es war böse zu Jona“. Er ärgert sich über Gott, ja er wir böse deswegen. Eine „große Bosheit“ überkommt ihn und daraus resultiert sein Zorn. Wörtlich heißt es im zweiten Versteil: „ihm wurde heiß“. Damit wird im Hebräischen wörtlich Bezug genommen auf die Zornesglut Gottes, von der dieser ablässt (Jona 3,10). Die Barmherzigkeit Gottes wird zum Grund des Zorns Jonas.
Vers 2: Das Gebet Jonas ist ein Klageflehen, das mit einem „Ach“ beginnt. Der Gott, von dem er sich im Folgenden endgültig trennen will, ist sein letzte Zufluchtsort. Nun erklärt er, warum er zu Anfang des Buches vor Gott geflohen war. Im Hebräischen wird hier explizit das Wort Jonas (דְבָרִי, gesprochen: dvari), gegen das Wort Gottes gestellt (siehe Jona 3,1-3). Mit seinem Wissen über Gottes Wesen begründet er seinen Widerstand von Anfang an und seine gezielte Flucht nach Tarschisch (zum „Wissen“ vgl. Jona 3,9). Die sogenannten „Gnadenformel“ (siehe die Rubrik „Kontext“), die von Jona hier in abgewandelter Form angeführt ist, beschreibt die theologische Grundlage für das in Jona 3 beschriebene Handeln Gottes. „Gnädig“ ist Gott, da er in bestehender Not rettend eingreift um Willen des Unterdrückten (siehe Exodus 22,26). Die Beschreibung als „barmherzig“ betont die mütterlich-fürsorgliche Seite Gottes. Das hebräische Wort für Mutterleib und für „barmherzig“ werden aus derselben Wortwurzel gebildet. Dass Gott „langmütig“ ist, bedeutet, dass der Zorn Gottes ein verzögerter ist. Und sein Zorn ist umfangen von seiner „Huld“. Der hebräische Begriff חֶסֶד (gesprochen: chesed) benennt die übergroße göttliche Güte, die Jona auch in seinem Gebet im Bauch des Fisches erwähnt (Jona 2,9). Sie ist die Eigenschaft Gottes, auf der dessen Gemeinschaft mit den Menschen und seinem Volk Israel beruht. Das letzte Glied der Wesensbeschreibung Gottes ist der Vorwurf den Jona erhebt: Ihm tut die (eigene) Bosheit leid (siehe oben „Verortung“ im Buch). Zur Auslegung dieser Wesensbeschreibung im Kontext des Buches Jona siehe die Rubrik „Auslegung“.
Vers 3: Mit dem soeben beschrieben Gott möchte er nichts zu tun haben – und er weiß, dass es vor dem „Gott des Himmels, der das Meer und das Festland gemacht hat“ (Jona 1,9) kein Entrinnen außer dem Tod gibt. Wie Mose und die Propheten Jeremia und Elija wünscht er sich den Tod (vergleiche Numeri 11,10-15 und Jeremia 20,14-18) – aber nicht, wie sie aufgrund der Berufung durch Gott und der damit verbundenen Last. Sondern Jona scheitert nicht an seiner Sendung, sondern an seinem Gott. Wörtlich erinnern Jonas Worte an 1 Könige 19,4b, wo Elija, nach der Erfolglosigkeit seiner Mission verzweifelt sagt: „Nun ist es genug, HERR. Nimm mein Leben; denn ich bin nicht besser als meine Väter.“ Doch zwischen Elija und Jona lieg ein himmelweiter Unterschied.
Vers 4: Gott antwortet nicht auf Jonas Gebet, sondern seine Frage zielt auf den in Vers 1 erzählten Zorn Jonas. Und es handelt sich um keine rhetorische Frage, sondern sie will zum Nachdenken anregen. Jona wird eine Antwort darauf in den Versen 5-9 geben. Theoretisch ist es auch möglich die Frage als eine Exklamation zu lesen: „Du bist sehr zornig.“