Jona verkündet Ninive den endgültigen Untergang – doch für den König und seine Untertanen gibt es noch Hoffnung.
1. Verortung im Buch
Das Buch Jona fängt sozusagen von neuem an. Gott beauftragt Jona erneut nach Ninive zu gehen. um das Gottesurteil zu verkünden. Im Hebräischen sind gar die ersten sieben Worte des an ihn gerichteten Auftrags identisch: „Mach dich auf den Weg und geh nach Ninive, der großen Stadt, und rufe …“ (Jona 1,2 // 3,2). Aber Jona hat sich verändert. Er befolgt Gottes Befehl – seine Lektion hat er jedoch noch nicht gelernt, wie Jona 4 zeigen wird. Vorher werden ihm der König und die Stadtbewohner durch ihr hoffendes Handeln nochmals vor Augen führen, was das Vertrauen auf seinen Gott bedeutet. Bereits mitten im Seesturm hatte der Kapitän auf dem Schiff zu Jona gesagt: „Steh auf, ruf deinen Gott an; vielleicht denkt dieser Gott an uns, sodass wir nicht untergehen.“ (Jona 1,16) Und auch der König Ninives äußert eben diese Hoffnung: „Wer weiß, vielleicht kehrt er um und es reut Gott und er lässt ab von seinem glühenden Zorn, sodass wir nicht zugrunde gehen.“ (Jona 3,9). In der revidierten Einheitsübersetzung ist es nicht zu erkennen, aber sowohl die Worte des Kapitäns als das Edikt des Königs enden mit denselben Worten im hebräischen Text: וְלֹ֥א נֹאבֵֽד (gesprochen: welo noved), „sodass wir nicht zugrunde gehen“. Es ist diese Hoffnung, die sich an der Barmherzigkeit des Gottes ausrichtet, die Jona nicht versteht. „Wer weiß?“ sagt der König und sucht in der Beziehung zu Gott Rettung. Und eben dieses „Wissen“ erklärt Jona im folgenden Kapitel dann zum Grund seiner Flucht am Anfang des Buches und seiner widersinnigen Verzweiflung am Ende des Buches: „denn ich wusste, dass du ein gnädiger und barmherziger Gott bist, langmütig und reich an Huld und dass deine Drohungen dich reuen.“ (Jona 4,2).
2. Aufbau
Die Erzählung der wiederholten Beauftragung Jonas durch Gott ist gerahmt durch den Verweis auf das „Rede JHWHs“ – es ergeht an Jona und er handelt demensprechend (Verse 1 und 3). Der eigentliche Auftrag ist alternierend formuliert und so die verlangte Handlung im Zentrum betont: „rufe den Ruf“, wie es wörtlich heißt (Vers 2). Das, was Jona ausrufen, soll wird nicht ausgeführt, sondern Gott wird den Ruf zu Jona „reden“. So wird in den ersten drei Sätzen der ganze Fokus auf das Befolgen des Wortes Gottes gelegt.
Jonas Ausführung des Auftrags ist gefolgt durch eine radikale Umkehr der Bewohner Ninives zu Gott (Verse 4-5). Nachholend wird darauffolgend erzählt, dass ihre Trauer- und Bußriten auch vom König und seinen hohen Beamten verordnet wurden (Verse 6-9). Dieses nachholende Erzählen betont zum einen, den eigenen Umkehrwillen der Bewohner Ninives. Und zudem ist das in Vers 10 beschriebene Handeln Gottes eine direkte Antwort auf die in Vers 9 vom König geäußerte Hoffnung: vielleicht reut es Gott – es reut Gott.
3. Erklärung einzelner Verse
Verse 1-3a: Dass Gott seinen Auftrag an Jona nun wiederholt, verdeutlicht dass Jonas Flucht nicht an Gottes Absicht geändert hat. Und es ist auch bemerkenswert, dass mit keinem Wort ein Tadel Gottes an Jona erwähnt oder auch nur angedeutet wird. Der Grund weswegen Gott den Jona beruft, ist aus Jona 1,2 bekannt: „rufe über sie aus, dass ihre Schlechtigkeit zu mir heraufgedrungen ist“, nun wird das Wie verdeutlicht. Er soll „zu ihr“ rufen, was Gott „zu ihm“ sagen soll. Jona soll das Sprachrohr Gottes sein (siehe auch Jeremia 19,2). Nun handelt er wie die Propheten Elija und Jeremia (1 Könige 17,5 und Jeremia 13,2).
Vers 3b: Dreimal wird Ninive im Buch Jona als „große Stadt“ bezeichnet (Jona 1,2; 3,2; 4,11). Nun ist sie zudem noch – wörtlich übersetzt –: „eine Stadt groß für Gott“. Gemeinhin wird dies so gedeutet, dass Ninive selbst in den Augen Gottes eine große Stadt war. Darauf deuten auch die riesigen Außmaße an. Ein Durchmesser von drei Tagesmärschen bedeutet in der damaligen Zeit 60 oder gar 90 Kilometer. Die bisherigen Ausgrabungen Ninives deuten eher daraufhin, dass die Stadtmauer einen Umfang von nur 12 Kilometern hatte. Im Buch Jona wird die Stadt also größer gemacht, als sie ist, um ihre Bedeutung noch zu erhöhen – und den Kontrast zwischen dem einzelnen Propheten Jona und der riesigen Stadt zu zeichnen. Diesem Zweck dient vielleicht auch die Formulierung „eine Stadt groß für Gott“. Damit könnte auch die besondere Beziehung Gottes zu dieser Stadt ausgedrückt werden. Im Deutschen könnte man auch übersetzen: „Gottes großen Stadt“. Damit wäre auch direkt ein Seitenhieb auf Jerusalem verbunden, dass eigentlich exklusiv für sich beansprucht „Stadt Gottes“ zu sein. Der Kontrast zwischen Jerusalem und Ninive wird auch im Edikt des Königs eine Rolle spielen (siehe Verse 7-9). Dieser Gedanke ist umso provozierender, wenn man mit dem Propheten Nahum mit den Worten aus Jona 1,2 im Hintergrund bedenkt, dass der Prophet Nahum über Ninive seine Wehklage ausspricht: „Weh der Stadt voll Blutschuld; sie ist nichts als Lüge. Voll von Raffgier ist sie, vom Rauben lässt sie nicht ab.“ (Nahum 3,1).
Vers 4: Das sehr kurze Gotteswort ist vielschichtig. Die angekündigte Dauer von 40 Tagen erinnert an das Gottesgericht durch die Sintflut (Genesis 7,4), die Unterweisung Moses durch Gott auf dem Berg Sinai (Exodus 24,18) und Moses stellvertretende Buße für das ungehorsame Volk Israel (Deuteronomium 9,18). Dass Jona „noch“ 40 Tage bis zur Vollstreckung des Gottesgerichts ankündigt, verweist darauf, dass es sozusagen noch eine Zwischenzeit gibt – doch auf den ersten Blick scheint dies nur wie ein unaufhaltbarer Countdown. Denn das eigentliche Urteil, wird im Hebräischen mit einem Partizip ausgedrückt, dass das Feststehen der Zerstörung ausdrückt. Das verwendete Verb (הפך) ist der feststehende Ausdruck für den Untergang Sodoms und Gomorras (Gen 19,25.29 u.ö.) – doch dieses Verb besitzt auch eine weitere Sinnebene. Es kann ebenso einen positiven Wandel ausdrücken (zum Beispiel Jeremia 31,13). So könnte bereits im Gotteswort versteckt die Möglichkeit der Umkehr Ninives angedeutet sein.
Vers 5: Jonas Auftrag ist erledigt und im restlichen Kapitel spielt er keine Rolle mehr. Die Reaktion der Bewohner Ninives – jedes einzelnen wie der Text betont – ist überraschend. Ohne dass Jona Gott als Autorität genannt oder einen Grund für die Zerstörung angeführt hat, beginnen sie an Gott zu glauben. „Glauben“ bedeutet hier, dass sie ihr Schicksal völlig in die Hände Gottes legen. Die dahinterstehende Hoffnung, wird erst in Vers 9 erklärt. Hier erfährt der Leser nur, dass die Bewohner radikal auf den Ruf Jona reagieren, indem sie selbst rufen – sie rufen ein Fasten aus und kleiden sich in Sackgewänder. Fasten ist im Alten Testament zuvorderst ein Trauerritus, in dem sich der Trauernde dem Toten angleicht. Wie Weinen und Totenklage ist es eine Äußerung der Trauer durch Selbstminderung (2 Samuel 1,12). Es ist ein symbolischer, von Mitgefühl mit den Toten geleiteter Eintritt in den Bereich von Krankheit und Tod. Als Antizipation des Todes dient das Fasten in der Hebräischen Bibel auch als nonverbale Dimension des Bittgebets für Kranke. Der Beter in Psalm 35,13 beklagt die fehlende Sympathie seiner Feinde in seiner Not, während er sich selbst, als sie krank waren, mit ihnen solidarisch verhalten hatte: „Ich aber zog ein Bußkleid [wörtlich: Sacktuch] an, als sie erkrankten, und quälte mich ab mit Fasten. Nun kehre mein Gebet zurück in meine Brust." Seinem Bittgebet, das er sich nun wünscht nicht ausgesprochen zu haben, verlieh er durch eine Selbsterniedrigung in der Form des Fastens Nachdruck. Dahinter steht der Glaube, dass Gott sich den Erniedrigten, die elend und arm sind, zuwendet (siehe Psalm 109,21-22). In Verbindung mit einem Gebet hebt das Fasten die Dringlichkeit der Bitte hervor. Sie wird durch das Fasten dramatisiert. Auch das Sacktuch ist zuvorderst Ausdruck der Trauer, wie in Genesis 37,31-35 deutlich wird.
Vers 6: Zum König gelangt nicht die Nachricht über das Verhalten der Stadtbewohner, sondern „das Wort“ (דבר, gesprochen: davar), dass Gott durch Jona hat ausrufen lassen. Der mächtige, namentlich nicht genannte König erniedrigt sich daraufhin gänzlich. Er verlässt den Ort seiner Macht, den Thron, legt seine königliche Pracht ab, den Königsmantel und kleidet sich wie alle seine Bewohner in Sacktuch. Er geht sogar noch einen Schritt weiter als das, was er von seinem Volk verlangen wird. Er tauscht den Thron mit einem Platz auf der Asche, die den Tod symbolisiert. Vermutlich kontrastiert sein Verhalten gezielt das Verhalten des israelischen Königs Jojakim in Jeremia 36 (siehe die Rubrik „Kontext“).
Verse 7-8: Die erste verbale Reaktion des Königs ist ein Schrei, wie durch eine unmittelbare Notsituation ausgelöst, – sozusagen ein Aufschrei, aus dem ein Edikt des Königs und seiner Berater wird. Sein Aufruf zum Fasten ist drastisch formuliert. Er gibt nicht nur einfach ein Essenverbot aus, sondern es ist ein Wort gewählt, das eigentlich die Verköstigung von Kostproben bezeichnet. Er verbietet sozusagen selbst den Genuß von lebensnotwendigen Essen und Wasser. Und das gilt nicht nur für die Menschen, sondern auch für die zum Lebensbereich der Menschen gehörenden Tiere (siehe auch Judit 4,10). Es wirkt fast satirisch, dass in Vers 8 die Nutztiere wie die Menschen die Trauerriten vollziehen und sich ebenso wieder Gott zuwenden sollen (siehe dazu die Rubrik „Kontext“). Die Trauerriten sollen die Sichtbarmachung des Sinneswandels der gesamten Stadt sein. Zentral ist die Anrufung Gottes – die wie betont wird mit Inbrunst geschehen soll - und die Umkehr. Jeder einzelne soll, wie es wörtlich heißt von מִדַּרְכּ֣וֹ הָֽרָעָה (gesprochen: miderko hara‘a), „von seinem Weg der Bosheit“ umkehren. Damit wird innerhalb des Buches wörtlich auf das Gottesurteil in Jona 1,2 verwiesen, „ihre Bostheit“. Diese wird nun noch konkreter gefasst durch das Wort חָמָס (gesprochen: chamas), das ein umfassender Ausdruck für Sünde überhaupt ist und dessen Grundbedeutung die Gewalttat ist. Mit diesen beiden Begriffen רָעָה und חָמָס ist nicht geringeres angespielt als das Verhalten der Menschen, das zur Sintflut geführt hat (siehe Genesis 6,5.11).
Vers 9: Die Reaktion der Bewohner Ninives und ihres Königs hängt an der Hoffnung, dass es eine Reue Gottes gibt (siehe dazu die Rubrik „Auslegung“). Dass was die Stadt hier bedroht wird in drastischen Worten ausgedrückt. Gottes Zorn wird als seine alles verzehrende Glut beschrieben, von dem Gott jedoch, wie hier erhofft wird, ablassen kann (siehe zum Beispiel Josua 7,26).
Vers 10: Entscheidend für Gott sind weder das Fasten noch die Anrufung, sondern allein ihre Umkehr, bzw. genauer ihre Abkehr „ihrem Weg der Bosheit“. Deutlich nimmt der Erzähler in der Darstellung die Worte aus dem Königsedikt aus (siehe Verse 8b-9). Die Wortwahl erinnert zudem an die Reaktion Gottes auf Moses Fürbitte (siehe Exodus 32,12-14) – so als ob Gott mit Ninive verfährt, wie er sich ansonsten nur gegenüber seinem Volk Israel verhält. Gott blickt mitfühlend auf das Verhalten der Bewohner Ninives (siehe auch Exodus 2.25; negativ in Genesis 6,5). Gott sieht ihre „neuen“ Taten und handelt demensprechend, indem er selbst nicht tut, was er angekündigt hat.