Der Philemonbrief

Fürsprache für Onesimus (Phlm 8-20)

8Obwohl ich durch Christus volle Freiheit habe, dir zu befehlen, was du tun sollst,

9ziehe ich es um der Liebe willen vor, dich zu bitten. Ich, Paulus, ein alter Mann, jetzt auch Gefangener Christi Jesu,

10ich bitte dich für mein Kind Onesimus, dem ich im Gefängnis zum Vater geworden bin.

11Einst war er dir unnütz, jetzt aber ist er dir und mir recht nützlich.

12Ich schicke ihn zu dir zurück, ihn, das bedeutet mein Innerstes.

13Ich wollte ihn bei mir behalten, damit er mir an deiner Stelle dient in den Fesseln des Evangeliums.

14Aber ohne deine Zustimmung wollte ich nichts tun. Deine gute Tat soll nicht erzwungen, sondern freiwillig sein.

15Denn vielleicht wurde er deshalb eine Weile von dir getrennt, damit du ihn für ewig zurückerhältst,

16nicht mehr als Sklaven, sondern als weit mehr: als geliebten Bruder. Das ist er jedenfalls für mich, um wie viel mehr dann für dich, als Mensch und auch vor dem Herrn.

17Wenn du also mit mir Gemeinschaft hast, nimm ihn auf wie mich!

18Wenn er dich aber geschädigt hat oder dir etwas schuldet, setz das auf meine Rechnung!

19Ich, Paulus, schreibe mit eigener Hand: Ich werde es erstatten - ohne jetzt davon zu reden, dass auch du dich selbst mir schuldest.

20Ja, Bruder, um des Herrn willen möchte ich von dir einen Nutzen haben. Erquicke mein Innerstes in Christus!

Überblick

Mit Vers 8 beginnt das eigentliche Briefkorpus. Mit anderen Worten: Paulus rückt mit seinem Anliegen heraus, das den Anlass des Schreibens bildet. Und was er zu sagen hat,  ist ein starkes Stück: Öffentlich, nämlich in einem Brief, der in der Hausgemeinde des Philemon verlesen werden soll, greift Paulus in den Konflikt zwischen diesem Philemon und seinem entlaufenen Sklaven Onesimus ein. Die Änderung ihres Verhältnisses - Philemon soll Onesimus als "geliebten Bruder" annehmen - wird zur Bewährungsprobe christlichen Glaubens.

 

Verse 8-10: Im Namen der "Liebe"

Mit dem Wechsel zum Anliegen ändert sich der Tonfall. Denn als Erstes stellt Paulus seine Autorität heraus. Wie wir aus allen seinen Briefen wissen, versteht er sich als "Apostel Jesu Christi". Auch wenn er dem irdischen Jesus nie begegnet ist, hat er den Ruf des gekreuzigten und auferweckten Christus vernommen, als dessen "Sklave" er sich geradezu sieht. In Galater 2,20 kann er gar formulieren: "Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir." In solcher Identifikation erfüllt er seinen Missionsauftrag und hat dabei wohl auch einst Philemon gewonnen, der nicht nur Christ wurde, sondern seine Familie und wahrscheinlich einige Personen mehr als Christen um sich versammeln konnte. Für die gottesdinentlichen Zusammenkünfte stellt er ihnen sogar sein Haus zur Verfügung. 

Aus seiner Position als Initiator dieses Geschehens leitet Paulus offensichtlich eine Autorität gegenüber Philemon ab, die ihm Weisungsvollmacht gibt. Das ist schon ein starker Ton. Daran ändert nichts, dass Paulus nur auf die Möglichkeit hinweist, von dieser Autorität Gebrauch machen zu können, um dann doch darauf zu verzichten. Das aufgebaute Druckpotenzial ist hoch, und das bedeutet: Paulus geht es bei seinem Einsatz für Onesimus um sehr viel. Paulus sieht im vorliegenden Fall eine Bewährungsprobe des Glaubens für Philemon, an der sogar der Fortbestand der Beziehung zu hängen scheint (vgl. Vers 17: "Wenn du also mit mir Gemeinschaft hast ..."). Auf jedenfall hat ihn der Gefängnisaufenthalt nicht zu einer gebrochenen Persönlichkeit werden lassen. 

Bei aller Härte des Einstiegs bleibt aber dennoch festzuhalten, dass Paulus bei Philemon tatsächlich auf Einsicht und Freiwilligkeit zielt. Zum dritten Mal bereits, nach Vers 5 und Vers 7, fällt das Wort "Liebe". Was Paulus darunter versteht, hat er in 1 Korinther 13,4-5  deutlich gesagt:

"4 Die Liebe ist langmütig, die Liebe ist gütig. Sie ereifert sich nicht, sie prahlt nicht, sie bläht sich nicht auf. 5 Sie handelt nicht ungehörig, sucht nicht ihren Vorteil, lässt sich nicht zum Zorn reizen, trägt das Böse nicht nach."

Wenn diese Liebe der Maßstab ist, dann kann sie in der Tat nur aus Einsicht und Freiwilligkeit erwachsen und nicht als Folge von Druck und Befehlsgehorsam. Paulus mildert also seinen Tonfall und "bittet". Er verzichtet auch auf den Apostelbegriff und betont - damit eher auf Mitleid denn auf Autorität setzend - sein Alter (vielleicht um die 60?) und seine Gefangenschaft.  Deren Grund ist allerdings seine Christus-Verbundenheit ist.

Dieses Stichwort "bitten"wird zur Brücke für einen sehr emotional formulierten Passus.  Paulus leitet mit ihm in einem zweiten Anlauf dazu über, für wen er bittet - und lässt erst damit  "die Katze aus dem Sack".

 

Verse 9b-10: Onesimus

Im Gefängnis wird Paulus seit einiger Zeit von einem Sklaven namens Onesimus betreut, der sich offensichtlich von seinem Herrn, Philemon, schlecht oder ungerecht behandelt fühlt und geflohen ist. Vielleicht hat Philemon einst Paulus bei einem Besuch in der Gemeinde des Philemon selbst erlebt und hofft nun auf seine Vermittlungskünste. Die Brenzligkeit der Situation ist nicht zu unterschätzen: Die Flucht eines Sklaven vor dem Herrn bedeutete ein hohes Risiko, das unter Umständen mit dem Leben bezahlt werden musste.

Doch Paulus beginnt nicht mit den rechtlichen Details, bei denen er ja sowieso allein auf die Angaben des entlaufenen Sklaven angewiesen wäre. Entscheidend ist ihn vielmehr: Onesimus kam als "Heide" zu ihm. Der Sklave hatte also vor seiner Flucht im Haus des Philemon gelebt, ohne zur sich bei ihm versammelnden christlichen Hausgemeinde zu gehören.

Seit seiner Zuflucht zu Paulus hat sich diese Situation grundlegend geändert. Paulus hat mit Katechese und Taufe Onesimus für das Christentum gewonnen, im Gefängnis ein geistliches Kind gezeugt ("... dem ich im Gefängnis zum Vater geworden bin"). 

 

Verse 11-12: "mein Innerstes"

Für Paulus ist Onesimus viel mehr als ein "Missionserfolg": Er empfindet innigste Zuneigung für ihn - eine Zuneigung, die Philemon eher fremd zu sein scheint, der seinen Sklaven nur unter Nützlichkeitsaspekten zu betrachten scheint. Das lässt jedenfalls der wortspielerische Einschub von Vers 11 vermuten. Der durch seine Flucht für Onesimus "unnütz" gewordene Sklave ist nun ein "nützlicher". Dass diese Nützlichkeit sowohl für Paulus als auch für Onesmus gilt, irritiert zunächst einmal, wird sich aber ab Vers 13 klären. Zunächst betont Paulus, das Onesimus sein "Innerstes" ist - angespielt wird auf den Bereich der Bauchorgane, in dem biblisch der Quellpunkt der Barmherzigkeit verortet wird. Ihn zu Philemon zurückzuschicken bedeutet also für den gefangenen Paulus - in heutigem Sprachbild -, sich das Herz aus dem Leibe zu reißen. Indem Paulus aus innerster Anteilnahme sich die Sache des Onesimus zu eigen macht, zeigt er, dass sein Hohelied auf die Liebe in 1 Korinther 13 (Vers 2: "... hätte aber die Liebe nicht, wäre ich nichts") weder reiner Appell an die Anderen noch theoretisches Gerede ist. Sie bewegt ihn durch und durch.

 

Verse 13-14

Nach dem emotionalen Argument Vers 12 spricht Paulus jetzt eine andere Sprache. Onesimus - der Name bedeutet "der Nützliche" - hat sich in der Zwischenzeit für Paulus als äußerst "nützlich" erwiesen. Gemeint ist wahrscheinlich sowohl ein Engagement in der Versorgung des Gefangenen mit Lebensmitteln als auch in Form von Botengängen, vielleicht auch katechetischen Gesprächen im Auftrag des Paulus. Das Lob des Onesimus wird aber dadurch zur Ermahnung des Philemon, dass all diese Aufgaben eigentlich von Philemon zu erfüllen wären. So sieht es jedenfalls Paulus, der später sogar formulieren kann: "... ohne jetzt davon zu reden, dass auch du dich selbst mir schuldest" (Vers 19). Mit diesem Argument sieht sich Paulus zumindest moralisch berechtigt, Onesimus bei sich zu behalten. Rein rechtlich war natürlich die Einbehaltung des Sklaven enes Anderen nicht erlaubt. Paulus will aber ganz offensichtlich dem Phileomon massiv ins christliche Gewissen reden. Dennoch möchte er dem Sklavenherrn zugleich die Möglichkeit geben, aus eigener Einsicht, ehrlichem Wollen und freiem Willen zu handeln und Onesimus aufzunehmen.

 

Verse 15-16: "als geliebten Bruder"

Dabei geht es nicht darum, bei der Zurücknahme des Onesimus auf Strafen - wegen der Flucht oder eventueller Vergehen in seinem Sklavendienst - zu verzichten. Es geht auch nicht darum, wie man vor allem wegen der Rede von der "Nützlichkeit" des Onesimus für Philemon in Vers 11 schließen könnte, dass der Herr jetzt einen "gebesserten", zuverlässigeren Sklaven zurück erhält, der fortan jeden Befehl widerspruchslos ausführen wird oder bei dem man keine Angst mehr vor Diebstahl haben muss.

Vielmehr erwartet und erhofft Paulus von Philemon eine grundsätzliche Neubestimmung seines Verhältnisses zu Onesimus. Der Wechsel drückt sich in der Gegenüberstellung der Begriffe "Sklave" und "geliebter Bruder" aus. Aus einem Rechtsverhältnis, das ein absolutes Machtgefälle bzw. eine totale Abhängigkeit, Verfügungsgewalt und Gehorsamspflicht umschreibt, soll ein auf Gleichrangigkeit, Gemeinschaftszugehörigkeit sowie Verzicht auf Herren-Allüren und Privilegien basierendes Verhältnis werden, in dem "Liebe" im Sinne gegenseitiger hochachtender Wertschätzung Raum findet. Für Philemon soll in Bezug auf Onesimus das gelten, was für Paulus schon längst im Blick auf den entlaufenen Sklaven gilt (zur Konkretion s. unter "Auslegung" und "Kunst etc.").

Man vertue sich nicht: Es geht hier nicht um Sentimentalität und auch nicht um einen Einzelfall, sondern um das Durchbuchstabieren eines Grundsatzes am konkreten Beispiel:

"Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht männlich und weiblich; denn ihr alle seid einer in Christus Jesus" -

so lautet der Grundsatz, den Paulus in Galater 3,28 formuliert hat.

Mit anderen Worten: An seinem Verhalten gegenüber Onesimus erweist sich der Christusglaube des Philemon als wirklichkeitsprägend oder als lebensunwirksame Theorie. Im positiven Fall wäre Onesimus  dem Philemon "nützlich" (Vers 11) - und zwar auf Dauer -, indem er ihm als "anderer Christus", als "Geringster"1 zur Herausforderung einer Liebespraxis würde, mit der Philemon seinen "Glauben an Jesus Christus" und seine "Liebe zu ihm" (Vers 5) unter Beweis stellen könnte.

 

Vers 17: "wie mich"

Mit Vers 17 wird ein Bogen zurück zum Anfang des Philemonbriefes geschlagen. Denn von dort her erschließt sich, was Paulus damit meint, dass Philemon seinen Sklaven aufnehmen soll wie Paulus selbst. In Vers 1 heißt es nämlich:

"Paulus, Gefangener Christi Jesu, und Timotheus, der Bruder, an Philemon, unseren Geliebten und Mitarbeiter."

"Bruder", "Geliebter", "Mitarbeiter" - das sind die Begrifflichkeiten, mit denen Paulus das Verhältnis zu denen bestimmt, mit denen er zu tun hat. Hier werden Paulus, sein Gefährte Timotheus und Philemon absolut gleichrangig. Denn alle sind einem einzigen Herrn zugeordnet: Christus Jesus, für den sich Paulus sogar gefangen nehmen ließ. Genau in diese Gleichordnung will Paulus auch den Onesimus aufgenommen wissen - und zwar durch Philemon.

 

Verse 18-20: Drei Zusatzklauseln

Die letzte drei Verse des Briefkorpus enthalten 3 Zusatzklauseln:

In Vers 18 übernimmt Paulus eine Bürgschaftsgarantie für den Fall, dass dem Philemon durch Onesmus irgendein Schaden entstanden sein sollte. Dabei kan nicht geklärt werden, ob es einfach um entgangene Arbeitsleistung oder eventuellen Diebstahl des Onesimus geht. Entscheidend ist: Selbst in seiner prekären Gefängnissituation ist Paulus zur Erstattung aus eigener Tasche bereit.

Vers 19 garantiert die Eigenhändigkeit des Schreibens. Das ist ungewöhnlich, weil Paulus sonst eher nur die Unterschrift mit eigener Hand geleistet und ansonsten seine Briefe diktiert zu haben scheint (vgl. z. B. 1 Korinther 16,21: "Den Gruß schreibe ich, Paulus, eigenhändig.") Allerdings hält auch Galater 6,11 die Eigenhändigkeit des Briefschreibens fest: "Seht, mit welch großen Buchstaben ich euch schreibe, mit eigener Hand." Auf diesem Hintergrund geht es auch in Philemon 19 wohl nicht nur um die handgeschriebene Schuldverschreibung, sondern um den ganzen Brief. Aber natürlich ist die Bemerkung zum eigenen Schreiben an der heikelsten Stelle untergebracht - wo es um das Geld geht. Paulus weiß, wie er Philemon gewinnen kann.

Dennoch verzichtet er nicht auf einen Nachsatz, der das Thema "Schulden" noch einmal ganz anders beleuchtet. Für Paulus gibt es tatsächlich ein Schuldverhältnis, dass durch den Empfang geistlicher Gaben entsteht. Dies schreibt er anschaulich im Römerbrief:

"26 Denn Mazedonien und Achaia haben beschlossen, eine Sammlung als Zeichen ihrer Gemeinschaft für die Armen unter den Heiligen in Jerusalem durchzuführen. 27 Ja, das haben sie beschlossen und sie sind auch deren Schuldner. Denn wenn die Heiden an ihren geistlichen Gütern Anteil erhalten haben, so sind sie auch verpflichtet, ihnen mit irdischen Gütern zu dienen (Römer 15,26-27).

M. a. W.: Die in Philemon wirksam gewordene Predigt des Paulus, die zur Bekehrung des Philemon geführt hat, sollte dieser nun damit beantworten, Onesimus so aufzunehmen, wie Paulus es sich vorstellt.

Nach Vers 20 wäre der Gewinn des Paulus innere Freude. Sie zu ermöglichen ist die Schlussbitte des Briefkorpus. In der Formulierung greift Paulus auf den Anfang des Briefs zurück. Bereits in Vers 7 hatte Paulus von der "Erquickung des Innersten der Heiligen" gesprochen, für die Philemon durch seine Taten sorgt. Genau diese "Erquickung des Innersten" soll Philemon nun auch Paulus gewähren. Einen zusätzlichen Aspekt hat diese Formulierung seit Vers 7 allerdings dadurch bekommen, dass Paulus als sein "Innerstes" den Onesimus bestimmt hat (Vers 12!). So bittet Paulus den Philemon nicht nur um seine eigene Erquickung, sondern zugleich um diejenige des Onesimus.

1

Auslegung

"... als Mensch und auch vor dem Herrn" (Vers 16)

Die Formulierung am Schluss von Vers 16 klingt etwas eigen. Tatsächlich wird sie dem griechischen Text auch nicht ganz gerecht. In genauerer Übersetzung lautet Vers 16:

"... nicht als einen Sklaven, sondern mehr als einen Sklaven: als einen geliebten Bruder - besonders für mich, wieviel mehr aber für dich, sowohl im Fleisch als auch im Herrn."

"Im Fleisch" und "im Herrn" sind offensichtlich strikt parallel zu verstehen und bezeichnen die beiden Welten, die zusammenkommen sollen: die religiöse Sinn- und Deutungswelt ("im Herrn" [Jesus Christus]) und die gesellschaftliche Welt mit ihren irdischen Gegebenheiten ("im Fleisch"). Was "im Herrn" gilt, dass nämlich durch den Glauben an ihn alle zu Brüdern und Schwestern geeint sind, soll auch im gesellschaftlichen Leben gelten. Der "hohe Glaube" soll sich sozusagen "verfleischlichen" und damit erfahrbar werden.

Dabei darf die Rede vom "geliebten Bruder" nicht von den eigenen Geschwister-Erfahrungen her entschlüsselt werden. Auch die Bibel weiß, seit Kain und Abel, dass leibliche Geschwisterschaft und Liebe kein zwingendes Paar bilden. Der von Paulus verwendete "Bruder"-Begriff ist eher vom Buch Deuteronomium/5. Buch Mose inspiriert (vgl. dazu z. B Deuteronomium 15,11: "Die Armen werden niemals ganz aus deinem Land verschwinden. Darum mache ich dir zur Pflicht: Du sollst deinem notleidenden und armen Bruder, der in deinem Land lebt, deine Hand öffnen.") Hier entsteht Bruderschaft nicht in erster Linie durch Verwandtschaft, sondern durch die gemeinsame Bezogenheit aller auf die Erwählung durch denselben Gott. Dieses Modell überträgt der jüdische Gelehrte Paulus auf Christus: Der gemeinsame Bezug auf ihn macht alle zu Brüdern und Schwestern. Insofern aber das Wesensmerkmal des Verhältnisses Gottes und auch Jesu zu den Seinen die Liebe ist, soll diese Liebe auch das Leben der Geschwister untereinander bestimmen. Sie sind (von Gott/Christus) geliebte Brüder und Schwestern und sollen es zugleich (in Gegenseitigkeit) sein. Für das paulinische Christentum gilt dasselbe, was der Alttestamentler Lothar Perlitt einmal im Blick auf das Buch Deuteronomium gesagt hat: "Mit dem Wort 'Bruder' sollen der Liebe Beine gemacht werden!"

 

Und was ist mit dem Sklaventum?

Nun wird man zu Recht einwenden können, dass weder das Alte noch das Neue Testament die Skalverei aufgehoben bzw. verboten hat. Paulus schickt Onesimus als Sklaven zu seinem Herrn zurück, bittet nicht um eine Änderung von dessen Rechtsstatus. Er erbittet einen anderen Umgang. Das mag aus heutiger Sicht zu wenig sein. Bedenkt man allerdings, dass die Sklavenbefreiung erst im 19. Jh. beginnt, ist die Forderung des Paulus bereits revolutionär. Und es ist keineswegs auszuschließen, dass sie auch praktische Folgen hatte, zumindest im Rahmen der gemeindlichen Zusammenkünfte. Wenn Philemon nämlich Onesimus aufnehmen soll wie Paulus selbst, dann bedeutet das auch die Zuweisung eines entsprechenden Liege- oder Sitzplatzes beim Gastmahl, auf dem außerhalb der christlichen Gemeinde ein Sklave nie zu liegen gekommen wäre. Zumindest das Herrenmahl könnte damit der Ort sein, an dem die Gleichheit aller unter dem einen Herrn Jesus Christus praktiziert und damit erlebbar wurde.

Möglicherweise war dies eines der Wesensmerkmale, dass in damaliger Zeit das Christentum gerade für die sonst Minderberechtigten attrkativ machte.

 

Kunst etc.

Die prächtige Villa Poppea (eine zeitlang wurde diese Ausgrabung der zweiten Ehefrau Kaiser Neros, Poppaea Sabina [* ca. 30/32 n. Chr.; † 65 n. Chr.] zugeordnet) dürfte wohl das häusliche Anwesen des Philemon bei weitem überbieten.

Allerdings gibt der wunderbar ausgemalte Raum den Eindruck eines römischen "Speisezimmers" gut wieder: An drei Seiten des Raums waren wandläufig die Liegegelegenheiten (aus Stein mit Polstern oder richtige Sofas) aufgebaut, von denen aus man die in der Mitte des Raums dargebotenen Speisen zu sich nahm. Aus den Wörten "tri" ("drei") und "klinē" (Liege") entstand die Bezeichnung "triclinium" für diesen Raum.

Versetzt man sich in eine Mahlszene in griechisch-römischer Zeit, wird anschaulich, was Paulus im Philemonbrief meint: Onesimus rückt beim gemeinsamen Mahl der Gemeinde vom Tischdienst hoch auf die Liegesofas und damit auf dieselbe Ebene wie sein Herr Philemon. Denn er ist "geliebter Bruder" (Vers 16). Ob das dem Philemon so richtig geschmeckt hat, wissen wir nicht. Die Mahnung des Paulus aber steht im Raum!