Durch Gewalt kehrt Ruhe ein, die fortan gefeiert werden soll.
1. Verortung im Buch
Acht Monate sind vergangen. Sowohl das Edikt Hamans als auch das Gegen-Edikt Mordechais und Esters sind gültig (vgl. Ester 8,8). Der entscheidende Tag ist der 13. Adar und die Feinde der Juden, die berechtigt sind, sie zu töten, und die Juden, denen die Gegenwehr erlaubt wurde, stehen sich gegenüber. Dieser Tag, den der heidnische Haman durch einen heidnischen Gottesentscheid zum entscheidenden Datum werden ließ (Ester 3,7,13), wird nicht nur zum Tag der Gegenwehr (Ester 8,12), sondern zu einem Freuden- und Triumphtag für die Juden im persischen Reich.
Haman hatte in seinen Worten zu dem König in Ester 3,8 gesagt: „Es gibt ein einziges Volk, das über alle Provinzen deines Reiches verstreut lebt, aber sich von den anderen Völkern absondert. Seine Gesetze sind von denen aller anderen Völker verschieden; auch die Gesetze des Königs befolgen sie nicht“ und hinzugefügt – wörtlich übersetzt: „Und dem König ziemt es nicht, sie gewähren zu lassen / in Ruhe zu lassen.“ Nun erlangen die Juden und Jüdinnen durch den zweiten, königlichen Erlass „Ruhe“ vor all ihren Feinden: „sie hatten sich Ruhe vor ihren Feinden verschafft“ (Vers 16). Um diese gewonnen Ruhe zu erinnern und zu feiern, wird am Ende des Buches das Purim-Fest eingesetzt und die Erzählung wird zu einer Ätiologie des Festes.
2. Aufbau
Die Ereignisse am 13. Adar werden in den Versen 1-19 erzählt. Durch zwei Briefe wird dann im Anschluss das Purimfest vorgeschrieben (Verse 20-32) und es folgt der Epilog des hebräischen Esterbuches (10,1-3).
Diese letzten Abschnitte des Buches sind durch Leitworte geprägt. Der erste Abschnitt ist deutlich durch Kriegssprache geprägt (siehe Verse 2.5), wobei die Gegner der Juden klar negativ als „diejenigen, die das Böse suchen“ (Vers 2), als Hasser (Verse 1.5.16), als „Feinde“ (Verse 1.5.16.22) und „Bedränger“ (Verse 10.24) tituliert werden. Aus der Sicht des Autors ist die Gewalt der Juden und Jüdinnen gerechtfertigt: „um für ihr Leben einzutreten“ (Vers 16). Dass die Juden und Jüdinnen sich nach der Tötung ihrer Feinde nicht auch noch an deren Besitz bereicherten, wird dreimal klargestellt (Verse 10.15.16) – obwohl ihnen das Gegen-Edikt dieses Recht gewährt hatte (Ester 8,11). Dadurch werden sie zudem nochmals ethisch gegenüber Haman erhöht, der den König mit dem Argument überzeugen wollte, dass man sich an dem Tod der Juden bereichern könnte (Ester 3,9). Mit der Tötung der Feinde kehrt die Ruhe ein (Verse 16.17.18.22) und das Purimfest wird „aufgerichtet“ (Verse 21.27.29.31.32).
3. Erklärung einzelner Verse
Vers 1: Das Gegen-Edikt (Ester 8,11-12) vermochte nicht das von Haman verfasste Edikt (Ester 3,13) zu annullieren (siehe Ester 8,8). So bereiten sich „diejenigen, die ihnen [= den Juden] das Böse wollte“ (Vers 2). darauf vor sie zu töten. Anders als in den Edikten ist nun nicht vom Töten die Rede, sondern vom Beherrschen – das ist kein Widerspruch, sondern zeigt die Verfügungsmacht an. Poetisch sehr schön formuliert, wird die Schicksalswende ausgedrückt – wörtlich übersetzt wird die Struktur deutlicher: „an dem Tag, an dem die Feinde der Juden gedacht hatten, über sie zu verfügen – und es sich umgekehrt verhielt – an jenem verfügten die Juden, sie selbst, über ihre Hasser.“ Die Formulierung lässt offen, durch wen sich diese Schicksalswende ereignete (vgl. Verse 23ff.) und zugleich ist fast alles in den Versen 1-19 Erzählte zusammengefasst.
Verse 2-3: Die Juden „überfielen“ ihre Feinde nicht, sondern sie „streckten eine Hand“ (לשלח יד) gegen sie aus. Diese Formulierung wird auch verwendet in 2,21; 6,2, um die Absicht der Verschwörer gegen den König zu beschreiben, und in 3,6 um die böse Absicht Hamans gegen Mordechai zu benennen. Dass alle Völker mit „Schrecken“ vor den Juden befallen waren, spielt vielleicht die sogenannte JHWH-Krieg-Metaphorik an: Der Schrecken Gottes führt dazu, dass seine Feinde starr sind und sich nicht wehren können. Vielleicht will der Autor damit andeuten, dass es gar nicht zur Gegenwehr der Feinde kam. Die Umstände der Tötung werden nicht beschrieben (siehe Vers 5). Es wird nur noch vermerkt, dass das Verwaltungssystem des persischen Reiches auf der Seite der Juden und Jüdinnen stand, ohne zu erklären, was dies praktisch bedeutet. Das verwendete hebräische Verb bedeutet eigentlich „erhoben“ – es liegt nahe es so zu lesen, dass die Juden und Jüdinnen nun als zu schützende Bürger im Reich galten. Für das Verhalten des Staatsappart wird ein zweiter „Schrecken“ angeführt – ein Hinweis auf die Macht, die Mordechai nun auf königliche Befugnis innehatte.
Vers 4: Zweimal wird betont, dass Mordechai „groß“, also machtvoll war und dass die Kunde darüber im ganzen Reich verbreitet war.
Verse 5-6: Der Vers ist nicht nur geprägt von Kriegssprache, sondern vermerkt auch die Überlegenheit der Juden und Jüdinnen gegenüber ihren Feinden. Sie konnten – unaufhaltbar - tun, „was sie wollten“ (vgl. Ester 1,8) – wieder wird keine Gegenwehr beschrieben.
Verse 7-10: In Ester 5,11 rühmte sich Haman noch der großen Zahl seiner Söhne. 4mal wird im Folgenden auf ihren Tod hingewiesen (Verse 10.12.13.14). Der Verlust der Nachkommenschaft ist eine der größten Strafen im Alten Orient: Ende des eigenen Ruhms. Ohne Zweifel erscheint es für den antiken Leser und Leserinnen logisch, dass die Söhne Hamans nach der Hinrichtung ihres Vaters Feinde der Juden sind (vgl. auch Exodus 20,5).
Vers 10: Dass die Juden und Jüdinnen sich nach der Tötung ihrer Feinde nicht auch noch an deren Besitz bereicherten, wird dreimal klargestellt (Verse 10.15.16) – obwohl ihnen das Gegen-Edikt dieses Recht gewährte (Ester 8,11). Dadurch will der Autor erklären, dass die Juden und Jüdinnen ihre Feinde töteten, aber sich daran nicht bereicherten, dies nicht der dahinterstehende Zweck war.
Verse 11-15: Erstmals seit dem ersten Kapitel des Buches ergreift der König selbst eine Initiative. Informiert über die Zahl der in der Burg Susa getöteten Feinde der Juden, wendet er sich an seine Königin Ester, mit der Frage: „Was haben sie dann wohl in den übrigen königlichen Provinzen getan?“ Aus heutiger Sicht könnte diese Frage ein Ausdruck der Erschütterung über die Zahl der Toten sein. Seine weiteren Worte weisen aber in eine andere Richtung: Im Angesicht der hohen Zahl der Feinde der Juden, ergreift er die Initiative und fragt Ester, ob sie einen weiteren Wunsch hat. Der König unterstützt die Gewalt! Ester ist Teil der Gewalt! Sie leitet, wie gewohnt schon zuvor der höfischen Art entsprechen mit den Worten „wenn es dem König gefällt ein“ (Ester 5,4; 8,5) und verdeutlicht damit seine Entscheidungsmacht. Sie verlangt, dass das Gegen-Edikt in Susa noch einen weiteren Tag gültig ist, um auch in der weiteren Stadt die Feinde der Juden zu töten. Sie weist damit darauf hin, dass es in Susa mehr Feinde der Juden gab, als an einem Tag getötet werden konnte. Hinzutritt noch eine zweite Bitte: Die Leichen der Söhne Hamans sollen öffentlich aufgehängt werden. Das kann zwei Bedeutungen haben: entweder zur Schmach oder zur Abschreckung.
Vers 16: Der Blick wendet sich wieder über die Grenzen von Susa ins ganze persische Reich. Die Zahl der Getöteten variiert in den verschiedenen Textversionen stark. So werden in den verschiedenen antiken, griechischen Übersetzungen statt 75.000 entweder 71.000 oder 15.000 angeführt. Die Tötung führt zur „Ruhe“ – damit ist nicht nur das Ende der Gewalt und der Bedrohung gemeint. Im Hebräischen steht das seltene Partizip נוח, das außerhalb des Buches Ester nur am Ende des Tempelweihgebetes in 1 Chronik 6,41 steht: „Und jetzt steh auf, HERR und Gott, zum Ort deiner Ruhe, du und deine machtvolle Lade! Deine Priester, HERR und Gott, sollen sich in Heil kleiden und deine Frommen sich des Glückes freuen.“ – dort ist der Ort der Ruhe, der Tempel, der Ort Gottes in dieser Welt.
Verse 17-19: Nach vielen königlichen Festmählern ist nun die Zeit der Juden und Jüdinnen zum Feiern, zum ausgelassenen Trinken und Essen. Vielleicht lässt sich aus Vers 19 der Standort des Autors erschließen, denn es fällt hier auf, dass er nur den Festbrauch außerhalb Susas erklärt. Gehörte er vielleicht zur jüdischen Gemeinde in Susa? Belegen lässt sich das nicht. Die zwischen Land und Stadt abweichende Festordnung wird es in den folgenden zwei Briefen benannt.
Vers 20: Wörtlich übersetzt schreibt Mordechai „diese Dinge / Worte“ auf. Entweder soll damit angedeutet sein, dass Mordechai der Auto des Buches Ester ist; oder – was wahrscheinlich ist – wird damit der folgende Abschnitt über den Brief, den er an alle Juden und Jüdinnen im persischen Reich schickt, eingeleitet.
Vers 21-23: Während in Vers 19 darauf hingewiesen wurde, dass außerhalb von befestigten Städten nur der 14. Adar als Festtag begangen wurde, legt Mordechai nun in seiner Rolle als Führungsgestalt der Juden und Jüdinnen im persischen Reich fest, dass die Feier zwei Tage dauert und somit die Geschehnisse im Reich und in Susa (Verse 13-14) widerspiegeln. Sein Brief, wie auch der folgende Brief Esters, sind kein Sendschreiben des Königs und kein Erlass. In Vers 23 wird betont, dass die Juden und Jüdinnen, die Festschreibung des Brauches „annahmen“, also akzeptierten – wörtlich übersetzt: „Und die Juden nahmen es an als Brauch, was sie angefangen hatten zu tun“. De Festbrauch spiegelt keine Machtsymbolik wider, sondern der Festgrund ist die Ruhe und sie findet ihren Ausdruck im gegenseitigen Beschenken und der Fürsorge für die Armen; das Fest hat einen sozial-ethischen Charakter.
Verse 24-25: Der zusammenfassende Rückblick erzählt auf eigene Art nochmals, wie es zur Ruhe gekommen ist. Anders als in der bisherigen Erzählung werden nun aus der Perspektive Mordechais, dem jüdischen Stellvertreter des persischen Königs, die Geschehnisse rekapituliert. Haman wird nun als Feind aller Juden tituliert. Das Handeln Esters und Mordechais wird nur angedeutet und die beiden Helden der Erzählung werden namentlich nicht genannt – man kann Vers 25 gar so lesen, dass die Juden vor den König getreten sind und um Rettung gefleht haben. Die Rettergestalt ist nun der König – und auch das Verhalten Mordechais, dass zur Krise geführt hatte, wird nicht erinnert.
Vers 26: Die Erklärung des Festnamens wird gegeben. Er wird vom persischen Lehnwort „Pur“, dem Los das Haman geworfen hatte, um den Tag der Vernichtung zu bestimmen, abgeleitet. Warum jedoch der Name des Festes im Plural steht, wird nicht erklärt – und dafür gibt es bis heute auch keine allgemein anerkannte Erklärung.
Verse 27-28: Bereits in den Versen 19.23 war ausgesagt, dass die Juden und Jüdinnen das Fest nicht aufgrund eines Erlasses feiern, sondern es selbst als Brauch eingerichtet haben und durch die Worte Mordechais motiviert waren, fortan Purim zu feiern. Der Erzähler verweist dabei geschickt auch zurück auf 8,17: „In allen Völkern der Erde wandten sich viele dem Judentum zu; denn ein Schrecken vor den Juden hatte sie befallen“ – Purim ist auch ein Fest der Proselyten.
Vers 29-32: Auch Ester wendet sich an alle Jüdinnen und Juden im persischen Reich. Zwar wird in Vers 29 auch Mordechai angeführt, aber das Verb bezieht sich im Hebräischen nur auf sie. In ihrem Schreiben fügt sie dem Festbrauch noch das bis heute übliche vorherige Fasten (vgl. Ester 4,15-17) hinzu. So verdeutlich sich im Brauch der Übergang vom Leid zur Freude.
Vers 32: Das alles „in einer Urkunde aufgezeichnet“ wurde, verweist vermutlich durch den im Hebräischen verwendeten Begriff ספר zurück auf die königliche Chronik (Ester 2,23;6,1).
Verse 1-2: Ester wird nicht mehr erwähnt. Der Ruhm Mordechais wird im Lichte der Macht des persischen Königs betont. Dass der König ein das ganze Reich umfassende Abgabe einführt, verdeutlicht seine Machtposition im Reich – es gibt keinen Widerstand. Die Nennung der Inseln verdeutlicht die weite Ausbreitung des Reiches – sie versinnbildlichen die Enden der bekannten Welt. Vor diesem Hintergrund erscheint Mordechai als zwei mächtigster Mann im Reich als besonders machtvoll und als geschichtlich wichtige Gestalt des persischen Reiches – worauf die Eintragung seiner Geschichte in die königliche Chronik steht. So sind die letzten Verse im Endeffekt ein Jubelruf auf Mordechai. Er wird als Jude zu einem Paradigma. Wie Josef und Daniel ist ihm der Aufstieg zum Wohl seines Volkes geglückt. Er wird als Großer geehrt – nicht der Judenfeind Haman, der zuvor ein Großer war (Ester 3,1).