Der Hochmütige wird zum Ehrerbieter: Haman muss den, den er umbringen will, stattdessen hofieren.
1. Verortung im Buch
Es ist die Nacht zwischen den zwei Gastmählern, zu denen Ester den König und Haman eingeladen hatte. Seit Ester 2,23 warten die Lesenden auf eine Belohnung für Mordechai: Er hatte eine Verschwörung gegen den König aufgedeckt, aber ganz überraschend und unvermittelt wurde danach in Ester 3,1 der Aufstieg Hamans zum Hofmarschall erzählt. Die Verschwörer gegen den König wurden gehängt und Mordechais rettende Tat niedergeschrieben: „Man hängte die beiden an den Galgen und hielt das Ereignis in der Chronik fest, die für den König geführt wurde.“ (Ester 2,23) – eben diese Chronik lässt der König nun in Ester 6,1 in seiner schlaflosen Nacht holen und eben diese Aufzeichnung wird ihm vorgelesen.
Kurz darauf steht Haman im äußeren Hof des Königspalastes und wird so geschickt zu Ester im vorherigen Kapitel parallelisiert und zugleich differenziert. Im vorherigen Kapitel wird in Vers erzählt: Ester „trat in den inneren Palasthof, der vor dem Haus des Königs lag.“ Nun wird den Lesenden in Ester 6,4 berichtet: „Haman aber war gerade in den äußeren Hof des Königspalastes gekommen“. Beide kommen als Bittsteller – doch Ester geht direkt in den inneren Hof, während Mordechai von draußen gerufen wird. Die Handlung liegt nicht mehr in der Hand Hamans. Der Vergleich der Worte Hamans Ehefrau und seiner Freunde in Ester 5,14 („Man könnte doch einen Galgen errichten, fünfzig Ellen hoch. Du aber sag morgen früh dem König, man solle Mordechai daran aufhängen. Dann kannst du mit dem König frohen Herzens zu dem Mahl gehen.“) und in Ester 6,13 („Wenn dein Sturz vor Mordechai schon begonnen hat und er zum Volk der Juden gehört, wirst du nichts gegen ihn ausrichten, sondern du wirst gewiss durch ihn zu Fall kommen.“) verdeutlichen die Wende.
2. Aufbau
Ohne Zweifel ist das Leitwort, bzw. das entscheidende Wortfeld das Ester 6 prägt „Ehre“ und „ehren“. Viermal werden die Worte wiederholt „dessen Ehrung dem König gefällt“ (Verse 6.7.9). Siebenmal kommt das Wort „ehren“ insgesamt vor (Verse 3.6.7.9.11).
Die Erzählung folgt in diesem Kapitel bis zur Rückkehr Hamans in sein Haus (Vers 12) dem Muster, das im Buch Ester schon mehrmals wiedergekehrt ist: Ein Problem entsteht, bzw. wird erkannt (Verse 1-3), Ratgeber werden gerufen und sie erteilen einen Rat (Verse 4-9), der direkt umgesetzt wird (Verse 10-11).
3. Erklärung einzelner Verse
Vers 1: Dass der König nicht einschlafen konnte, liegt im Hebräischen die metaphorisch sehr schöne Aussage zugrunde, dass ihm „der Schlaf floh“. Der Grund seiner Schlaflosigkeit wird nicht erzählt. Für die antiken, griechischen Übersetzer war der Grund jedoch offensichtlich: „Der Herr aber nahm jene Nacht hindurch den Schlaf vom König weg …“ (LXX Ester 6,1). In seiner Schlaflosigkeit lässt der König sich die Chronik bringen (vgl. 2,23) – nicht um selbst darin zu lesen, sondern wie es im Alten Orient üblich war, laut daraus vorlesen zu lassen.
Vers 2: Der unbegründeten Schlaflosigkeit folgt ein glücklicher Zufall. Im Passiv formuliert, so als ließe sich der Bericht selbst sich finden, kommen die Vorleser eben zu der Stelle, an der von Mordechais Aufdeckung der Verschwörung berichtet wird. In fast wörtlicher Wiederholung liest man nun das in Ester 2,21-22 erzählte. Die Wiederholung der Ereignisse lässt sie umso bedeutsamer erscheinen.
Vers 3: Nun, also vier Jahre nach den Ereignissen stellt der König, die Frage, welche seitdem offen ist: „Welche Belohnung und Auszeichnung hat Mordechai dafür erhalten?“ – und diejenigen, die ihm in Ester 2,2-4 den Schönheitswettbewerb vorgeschlagen hatten, der zur Krönung Esters führte, antworten ihm nun, dass Mordechai bisher keine Belohnung erhalten hat.
Vers 4-6: Haman platzt sozusagen in die Szene hinein. Hört der König ihn draußen im Hof? Oder wird ihm mitgeteilt, dass Haman gekommen ist? Oder fragt er einfach danach, ob ein Ratgeber im Hof ist? Den Erzähler interessiert die Beantwortung dieser Fragen nicht, sondern er erzählt nun nochmals von der Absicht Hamans (vgl. Ester 5,14) – und er verdeutlich so den Kontrast. Der König, der Mordechai ehren will, trifft auf Haman, der Mordechai hinrichten lassen will. Der Eifer Hamans wird daran deutlich, dass ihm seine Frau den Rat gegeben hatte, am Morgen zum König zu gehen – aber Haman taucht schon mitten in der Nacht im Hof auf. Der König fragt gar nicht nach dem Grund, weshalb Haman im Hof ist, sondern schreitet nun direkt zur Tat voran. Da der König in seiner Frage an Haman den Namen Mordechais nicht nennt, sondern nur von einer zu ehrenden Person spricht, wird die Hybris Hamans erzählerisch nicht nur aufgedeckt, sondern zur Belustigung zur Schau gestellt. Haman kann sich nicht vorstellen, dass jemand anderes als er geehrt werden soll.
Verse 7-9: Haman malt sich seine eigene Ehrung aus und schlägt eine Vielzahl königlicher Symbole Ehrerbietung vor. In seinen Worten fehlt – und das fällt im Gegensatz zu allen anderen Gesprächen mit dem König deutlich auf – dass er nicht die Höflichkeitsformel „wenn es dem König gefällt“ verwendet, sondern fast so formuliert, als erteile er einen Befehl. Für Verwirrung sorgt der Vorschlag, dass dem königlichen Pferd, auf dem der zu ehrende reiten soll, ein Diadem aufgesetzt werden soll, wie es sonst die Königin trägt. Einige Ausleger tendieren daher dazu, den Text so zu lesen, als verlange Haman – im Endeffekt aus seiner Perspektive für sich selbst -, dass er gekrönt wird. Persische Palastreliefs zeigen aber Pferde, die einen Kopfputz wie ein Diadem tragen – das ist hier wohl gemeint. Im Endeffekt schlägt Haman vor, die zu ehrende Person für die Zeit der Prozession äußerlich dem König anzugleichen.
Verse 10-11: Der König nimmt Hamans Vorschlag an und offenbart ihm nun, dass die zu ehrende Person Mordechai ist. Derjenige, der sich geweigert hatte, vor Haman niederzufallen (ester 3,2), muss nun von dem Hofmarschall zur Ehre erhoben werden. In den Worten des Königs wird Haman zudem zusätzlich in seinem Status gemindert. In Ester 3,2 hieß es noch: Der König zeichnete „den Agagiter Haman, den Sohn Hammedatas, in besonderer Weise aus und gab ihm einen höheren Rang als allen anderen Fürsten seiner Umgebung.“ Nun jedoch ist er nur noch „einer der vornehmsten Fürsten“ (Vers 9). Die folgende Ehrung Mordechais steht im krassen Kontrast zu seinem Auftreten in Ester 4,1-3 – von den Selbstminderungsriten hin zum königlichen Glanz. Bemerkenswert ist, dass der König hier nun Mordechai bewusst als Juden bezeichnet (vgl. Ester 5,13), womit geschickt auf die Spannung zum Edikt gegen die Juden hingewiesen wird.
Verse 12-13: Für Mordechai ist die Ehrung scheinbar nur eine kurze Episode; er kehrt zurück an seinen Ort und alles ist wie vorher. Doch die Rückkehr Hamans in sein Haus verdeutlicht, dass der Wendepunkt überschritten ist. Haman kehrt mit verhüllten Haupt zurück (vgl. 7,8; Jeremia 14,4) – ein Zeichen großer Trauer und Traurigkeit. Wie am Ende des vorherigen Kapitels erzählt er seiner Frau und seinen Freunden von seinem Status – nun jedoch nicht mehr als selbstlos, sondern verzweifelnd. Aus den Freunden macht der Erzähler nun „Weise“, denn ihr folgendes Deutewort fasst die Erkenntnis / Hoffnung des Buches Ester bereits zusammen. Unausgesprochen lassen sie das Motiv des göttlichen Beistandes für sein Volk Israel anklingen: der zweitmächtigste Mann Persiens ist machtlos gegenüber einem Juden. Um das Deutewort von Seresch und den „Weisen“ besser zu verstehen, ist eine wörtlichere Übersetzung hilfreich: „Wenn Mordechai, vor dem du zu fallen begonnen hast, vom Samen der Juden ist, vermagst du nicht gegen ihn, sondern fallen, fallen wirst Du vor ihm.“ Der Niedergang Hamans hat begonnen und ist unaufhaltsam, da Mordechai ein Jude ist – die antiken, griechischen Übersetzer erklärten dies noch durch den Zusatz „denn der lebendige Gott ist ihm“ oder „denn Gott ist bei ihnen“. Und diese Worte stammen aus dem Mund von Nicht-Juden (vgl. Judit 5,5-21; 2 Makkabäer 9,11-27).
Vers 14: Die Kammerdiener treten plötzlich ein, nicht um Haman nun schon zur eigenen Hinrichtung zu bringen, sondern zum zweiten Gastmahl, zudem ihn Ester eingeladen hatte. Seinen Niedergang sehend wird er zum König und zu der Jüdin Ester gebracht.