Ein Mann in Sack und Asche und eine Frau, die sich entscheiden muss, treffen aufeinander.
1. Verortung im Buch
Das vorherige Kapitel endete mit dem persischen König und seinem Hofmarschall Haman in Feierlaune – ausgelassen begießen sie das erlassene Edikt, das den Tod aller Juden im persischen Reich bedeutet. Im starken Kontrast dazu tritt nun wieder Mordechai auf – klagend, in Sack und Asche gekleidet. Diese Selbstminderungsriten (siehe die Rubriken „Auslegung“ und „Kontext“) sind der Beginn der Rettungserzählung, die dazu führen wird, dass Mordechai am Ende „ein königliches Gewand aus violettem Purpur und weißem Leinen, eine große goldene Krone und einen Mantel aus kostbarem Leinen und rotem Purpur“ tragen wird (Ester 8,15). Eigentlich war Mordechai ein Held, der „einen Posten am Tor des königlichen Palastes hatte“ (Ester 2,21); nun hat er – aufgrund seiner Selbstminderungsriten – keinen Zugang mehr zum Palast.
Entscheidend für die Rettung Mordechais und aller Juden und somit für den weiteren Verlauf der Erzählung ist nun wieder eine Übertretung eines königlichen Gesetzes: Zuerst hatte Waschti einen königlichen Befehl verweigert (Ester 1,12), dann hatte Mordechai, obwohl dies vom König befohlen war, Haman die Ehrerbietung durch Kniefall verweigert (Ester 3,2) – und nun wird sich Ester bewusst, dass auch sie ein persisches Gesetz übertreten muss, um ihr Volk zu retten (Ester 4,11.16).
Ester 3,14-15, das Gespräch zwischen Mordechai und Ester, ist das einzige direkte „innerjüdische“ Gespräch im gesamten Buch. Aus ihm entwächst Esters Entschluss für die Rettung ihres Volkes aufzutreten – was in den folgenden Kapiteln entfaltet und erzählt wird.
2. Aufbau
Der szenische Aufbau des Kapitels ist geprägt durch die Positionierungen von Mordechai und Ester: Er vor dem Tor des Palastes, durch das er nicht hindurchgehen darf; sie im Palast. Diese Grenze wird anfangs durch ihre Dienerinnen und dann durch den königlichen Eunuchen Hatach überbrückt. Zuerst wird dies nur durch indirekte Rede erzählt (Verse 4-9). Dann lässt der Erzähler Ester und Mordechai selbst zu Wort kommen (Verse 10-16). Zunehmend entschwindet der Bote Hatach aus der Erzählung: In den Versen 12-13 (vgl. Vers 15) wird er bereits nicht mehr genannt: „Man teilte Mordechai mit, was Ester gesagt hatte. Mordechai ließ Ester erwidern: …“ – es ist nun fast so, als würden sie doch direkt miteinander reden.
Gerahmt ist das Kapitel durch die Feststellung, dass alle Juden (außer Ester) auf das Edikt mit Fasten reagierten (Vers 3) und Ester nach dem Gespräch mit Mordechai ein zusätzliches dreitägiges Fasten ausruft (Vers 16).
3. Erklärung einzelner Verse
Verse 1-3: Bevor die Reaktion aller Juden geschildert wird (Vers 3), wird die spontane Reaktion Mordechais erzählt; so wird zugleich seine Führungsrolle verdeutlicht (er wird direkt zweimal im ersten Vers genannt). Das Zerreißen der Kleider, das Hüllen in Sack und Asche sowie das öffentliche Klagegeschrei sind im gesamten Alten Orient verbreitete Trauerriten, bzw. Selbstminderungsriten, die die handelnde Person einer toten Person angleichen. Im Alten Testament vollziehen Menschen diese Riten sowie das in Vers 3 genannte Fasten des Volkes, wenn jemand stirbt oder wenn ein Unheil droht (siehe die Rubriken „Auslegung“ und „Kontext“). Als Bußriten treten sie zusammen mit einem Klage- und Bittgebet (das hier jedoch nicht erwähnt wird) auf, um durch äußeres Erscheinen die innere Umkehr anzuzeigen – sie sind ein nonverbaler Hilfeschrei (siehe dazu ausführlicher die Rubrik „Auslegung“). Mordechai richtet durch diese Selbstminderungsriten seinen Hilfeschrei jedoch nicht an Gott, sondern geht in der Erzählung zum Tor des Palastes. Der antike, griechische Geschichtsschreiber Herodot erzählt von Bauern, deren Land durch den Bau von Schleusen im Sommer nicht mehr genügend bewässert wurde; sie zogen ebenso vor das Tor des persischen Königs und erhoben ihr lautes Klagegeschrei – und der König erhört sie. Jedoch wird in Ester 4 nicht der König auf Mordechai aufmerksam, sondern die Dienerinnen und Eunuchen Esters und somit sie selbst.
Verse 4-5: Ester reagiert nicht entsprechend der jüdischen Sitte und beteiligt sich nicht an den Selbstminderungsriten (vgl. Ijob 2,12-13), sondern will scheinbar das Äußere verdecken – danach fragt sie erst nach dem inneren Grund für Mordechais Verhalten. Vielleicht will sie ihm durch die neue Kleidung ermöglichen, zu ihr in den Palast zu kommen (vgl. Ester 2,22); doch er lässt sich von seinem öffentlichen Auftreten nicht abbringen. Dass Ester aber bereits die Dramatik der Situation versteht, bevor sie durch Mordechai von dem Edikt erfährt, verdeutlicht der Autor in Vers 4 durch eine besondere Wortwahl. In der revidierten Einheitsübersetzung steht „erschrak die Königin sehr“. Das zugrundliegende hebräische Wort, bzw. dessen Wurzel hat die Grundbedeutung „vor Angst beben“.
Verse 6-9: Nun liest man, nach den Worten Hamans in Ester 3, zum zweiten Mal den tödlichen Plan, der alle Juden im persischen Reich bedroht. Die Gefahr wird also nochmals vor Augen geführt. Mordechai ist gut informiert und weiß auch um die finanziellen Aspekte, die nicht im Edikt stehen. Durch die Hochzeit hat er keine Verfügungsgewalt über Ester mehr, und so muss er sie nun überzeugen. Hierfür ist die Abschrift des Gesetzes die entscheidende Requisite. Der Erzähler legt uns nahe, dass Ester davon nichts weiß – aber dass sie lesen kann und sich mit eigenen Augen davon überzeugen soll. Mordechai bittet sie, „zum König zu gehen und ihn inständig um Gnade für ihr Volk anzuflehen“ (Vers 8) – das ist die letzte Bitte Mordechais an die bisher als passiv Handelnden dargestellte Ester, die dann ab Vers 16 zur die Handlung steuernden Akteurin wird.
Verse 10-12: Ester äußert Bedenken und sie stellt sich selbst betont ins Zentrum ihrer Sorgen – wörtlich: „Ich, selbst ich, bin schon dreißig Tage nicht mehr zum König gerufen worden“ – womit sie indirekt auch andeutet, dass zwischen ihr und dem König keine persönliche Beziehungsnähe besteht. Verse 1-3 hatten bereits die Dringlichkeit den Lesenden vor Augen geführt; aber gegen das Argument Esters könnte man anführen, dass bis zum Vollzug des Edikts noch elf Monate Zeit und somit auch keine Eile nötig sei. Sie könnte ja warten, bis dass der König sie wieder zu sich rufen würde, um ihr Anliegen vorzutragen. Auch dramatisiert der Autor die Situation hier geschickt, indem er ein Gesetz voraussetzt, dass es niemanden ermöglicht, unangemeldet zu einer Audienz zu erscheinen. Doch in Ester 6,4 wird zum Beispiel deutlich, dass Haman direkten Zugang zum König hatte – und hätte Ester nicht um eine Audienz bitten können? Die Worte Esters lassen die Lesenden verwundert zurück – und Mordechai geht auch nicht auf ihre Bedenken ein.
Verse 13-14: Die narrative Funktion Mordechais Aufforderung an Ester ihr jüdische Herkunft zu verschweigen (Ester 2,10.20), kommt nun zu einem ersten Ziel. Ohne, dass der Erzähler es erwähnt, tritt mit Mordechais Begründung, warum er Haman die Ehrerbietung durch einen Kniefall verweigert (Ester 3,4) auch die jüdische Identität von Ester in den Vordergrund. Selbst ihr Status als Königin kann sie nicht retten, denn sie ist und bleibt ebenso eine Jüdin – darauf weist Mordechai sie hin. Zugleich weist er auf die unbeirrbare Zuversicht des jüdischen Glaubens hin: „Wenn du in diesen Tagen schweigst, dann wird den Juden anderswoher Hilfe und Rettung kommen“ (Vers 14). Diese Interpretation in der revidierten Einheitsübersetzung ist jedoch problematisch. Zwar liegt der Übersetzung „anderswoher“ im Hebräischen ein Ausdruck zugrunde, der seit 50. v. Chr. bei Philo von Alexandrien und dann im rabbinischen Schriftum häufig belegt ist und als Gottesbezeichnung dient: Gott als „der Ort“. So übersetzt, bzw. deutet auch eine antike, griechische Übersetzung: „Wenn du über dein Volk hinwegsiehst, indem du ihnen nicht hilfst, so wird doch Gott ihnen Hilfe und Rettung sein; du aber und das Haus deines Vaters werden vernichtet werden.“. Aber wenn Mordechai davon ausgeht, dass Gott helfend eingreifen wird, warum sollte dies dann eine Bestrafung Esters bedeuten?; bzw. warum muss Ester überhaupt handeln? Daher ist es besser – und zugleich möglich – den Beginn von Vers 14 als rhetorische Frage zu übersetzen: „Denn wenn du schweigst, schweigst in dieser Zeit, wird den Juden dann Erleichterung und Rettung von einem anderen Ort erstehen?“ – nein, Ester ist die letzte Chance für die Jüdinnen und Juden im persischen Reich; und wenn sie schweigt, bedeutet das: „Du aber und das Haus deines Vaters werden untergehen.“ Und zum Ende deutet Mordechai noch an, dass der bisherige Lebensverlauf Esters vielleicht eine göttliche Fügung war, die die Rettung der Juden ermöglicht – anstatt auf Gottes Eingreifen zu hoffen, versucht Mordechai im Gegebenen Gottes Fügung zu erkennen.
Verse 15-17: Ester übernimmt die Handlungsaktivität: Sie ordnet ein Fasten an und wird selbst fasten – so schließt sie sich mit ihrem Volk (Vers 3) zusammen und übernimmt zugleich die Führungsrolle. Bemerkenswert ist, dass das dreitägige Fasten entsprechend der Chronologie des Buches genau auf das Pessach-Fest, die Feier der Befreiung Israels aus Ägypten fällt. Anstatt Freude gilt nun Trauer und Selbstminderung. Dieses Fasten ist nun religiös – sie ordnet ein stellvertretendes Fasten an („Fastet für mich!“); ein solches Fasten macht nur Sinn im Kontext eines Bittgebetes (vgl. Psalm 35,13-14). Die Juden von Susa sollen für sie beten, damit sie, wenn sie zum König gehen wird, nicht umgebracht wird. Vielleicht trotzig oder mutig entschlossen nimmt sie ihr Schicksal an: „Komme ich um, so komme ich um.“