Eine israelitische Vollwaise steigt zur Königin Persiens auf.
1. Verortung im Buch
Aus dem vorherigen Kapitel bleibt eine Frage offen: Wer wird anstelle von Waschti die neue Königin? Dem König wurde durch seinen Berater in Ester 1,19 empfohlen: „Waschti darf dem König Artaxerxes nicht mehr unter die Augen treten. Der König aber verleihe den Rang der Königin einer anderen, die würdiger ist als sie.“ Erst in Ester 2,5-7 werden nun die eigentlichen Hauptprotagonisten eingeführt, deren jüdische Identität, direkt in den Vordergrund gestellt wird. Mehrfach wird vom Erzähler darauf hingewiesen, dass Mordechai seine Nichte und Adoptivtochter ermahnt hatte, ihre jüdische Identität zu verschweigen – bei den Lesern und Leserinnen wird somit eine dunkle Ahnung geweckt. Erst in Ester 3,4 und in 7,3 wird ihre Zugehörigkeit zum Judentum, bzw. zum Volk Israel den anderen Figuren in der Erzählung aufgedeckt; was im Falle Mordechais lebensbedrohliche Folgen hat.
Eine im Jerusalemer Talmud belegte Diskussion zeigt auf, dass für einige Rabbinen, das Vorspiel am Hof (Ester 1,1-2,4) vor dem Auftritt Mordechais und Esters zu vernachlässigen sei. An Purim, wenn die Ester-Rolle im Judentum zu lesen ist, reiche es mit Ester 2,5 zu beginnen, da nun die für das jüdische Volk erst die eigentliche Handlung beginne.
2. Aufbau
Der Weg Esters von der Vollwaise zur persischen Königin wird in Ester 2,1-20 erzählt. Für den Aufbau dieser Verse sind die Unterbrechungen im Erzählverlauf entscheidend. Nach dem Ausrufen des Schönheitswettbewerbs (Verse 1-4) wird sein Ablauf erst in den Versen 8-18 erzählt. In den Versen 5-7 werden die beiden Hauptcharaktere, Mordechai und Ester, unvermittelt eingeführt – und ihre jüdische Identität wird betont. Der Hinweis, dass Ester ihre Herkunft verheimlichen soll, durchzieht das Kapitel als Thema (Verse 10 und 20) und als Problem. An den Aufstieg Esters zur Königin folgt in den Versen 21-23 die Erzählung eines von Mordechai aufgedeckten Mordkomplottes gegen den König. Zuvor wird in einer kurzen Unterbrechung des Erzählverlaufes, bzw. in einer Überleitungen in den Versen 19-20 Mordechai wieder in den Fokus gestellt und nochmals auf das auch nach Esters Krönung von ihr gehaltene Schweigen über ihre Herkunft verwiesen.
Betrachtet man die Handlungen Esters zeigt sich ein weiteres Thema: Hegai ist der erste, der ihrem Charme erliegt (Vers 9), dann kann der Erzähler feststellen, dass Ester allen gefiel, die sie sahen (Vers 15), was dann abschließend durch den König bestätigt wird (Vers 17).
3. Erklärung einzelner Verse
Vers 1: Wie viel Zeit seit den im ersten Kapitel berichteten Ereignissen vergangen ist, erfahren der Leser und die Leserin nicht. Gemäß der weiteren Erzählung (vgl. Ester 2,16) ist ein Zeitraum zwischen einem Tag und drei Jahren denkbar. Das im Hebräischen verwendete Verb, um auszudrücken, dass der Zorn des Königs sich gelegt hat, wird auch in der Sintflutgeschichte verwendet, um den Rückgang des Wasser auszudrücken (שכך; Genesis 8,1) – dies könnte vielleicht anzeigen, dass einige Zeit vergehen musste, bevor der König sich wieder beruhigte; so wie das Wasser der Sintflut nicht von einem auf den anderen Tag wieder verschwunden war. Einige Ausleger vermuten, dass das nun erzählte Erinnern gefühltes Mitleid des Königs gegenüber dem festgelegten Schicksals Waschtis anzeigen könnte. Das, was er erinnert, wird jedoch angegeben: nicht nur der nach Beratungen ergangene königliche Befehl gegen sie (Ester 1,13-22), sondern auch der Grund für seinen Zorn, ihre in Ester 1,10-12 erzählte Verweigerung. Die antike, griechische Übersetzung, genannt Septuaginta, gibt den Sinn dieses Verses wohl richtig wieder: „Und nach diesen Geschehnissen wurder der König des Grimms überdrüssig, und er schenkte Astin [d.h. Waschti] keine Beachtung mehr, denn er erinnerte sich daran, was sie gesagt und wie er sie verurteilt hatte.“ Der König hakt das Thema „Waschti“ für sich ab.
Verse 2-4: Waren es in Ester 1,13 die geschichts -und rechtsgelehrten Fürsten, die im Angesicht der Weigerung Waschtis berieten, so erhält der König nun Rat von seinen Leibdienern, die im Endeffekt den Ratschlag des Fürsten Memuchan aufnehmen: „Der König aber verleihe den Rang der Königin einer anderen, die würdiger ist als sie“ (Ester 1,19); nun aber liegt die Betonung zuerst auf der Schönheit der zu suchenden zukünftigen, neuen Königin. Doch die in Vers 4 verwendete Wendung – wörtlich übersetzt: „in den Augen des Königs Gefallen finden“ – beinhaltet auch weitere Dimensionen der Schönheit, wie charakterliche Eigenschaften. Entgegen der Darstellung, dass in allen Teilen des Reiches eine Jungfrau und somit heiratsfähiges Mädchen zu suchen sei, war es im persischen Reich üblich, dass der König bewusst innerhalb der persischen Eliten seine Ehefrauen aussuchte, um seine Macht zu sichern – die Hochzeiten waren politisch motiviert.
Verse 5-7: Die Einführung Mordechais in die Erzählung erfolgt plötzlich und unvermittelt – wie ein radikaler Einschnitt. Vers 5 beginnt in Hebräisch mit den Worten – wörtlich übersetzt: „Ein jüdischer Mann lebte in der Festung Susa und sein Name war Mordechai …“. Noch vor seinem Namen wird seine ethnische Zugehörigkeit genannt: Er, bzw. seine Familie, stammt aus dem israelitischen Südreich Judah. Sein Name lässt sich außerbiblisch sowohl für Juden als auch für Perser nachweisen – vermutlich leitet er sich von Marduk, dem Stadtgott von Babylon, ab und dies deutet daraufhin, dass er ein im persischen Reich integrierter Jude war. Seine angegebene Genealogie lässt sich auf zwei Arten lesen. Entweder war er selbst 597. v.Chr. mit dem letzten davidischen König Jojachin ins Exil geführt worden – dann wäre er zur Zeit der Erzählung mindestens 117 Jahre alt -, oder, was wahrscheinlicher ist, er gehört zur dritten Generation einer benjaminitischen Exils-Familie. Wie Vers 6 durch die vierfache Wiederholung der Wortwurzel גלה mit der Bedeutung „wegführen“ betont, ist die religiös-kulturelle Identität durch die Exilierung bestimmt – Martin Buber verdeutlicht dies wunderbar in seiner Übersetzung: „der verschleppt worden war aus Jerusalem mit der Verschlepptenhaft, die verschleppt ward mit Jechonja König von Jehuda, die Nebukadnezar, König von Babel, hatte verschleppen lassen“. Auch Mordechais Herkunft aus dem Stamm der Benjaminiter ist vielleicht von Bedeutung: In Richter 1,21 findet sich die Tradition, dass Jerusalem zum Stammesgebiet der Benjaminiter gehörte. Mordechai ist der Pflegevater seiner verwaisten Cousine Esther, deren jüdischer Name Hadassa ist. Dass eine biblische Figur zwei Namen – einen jüdischen und einen nichtj-jüdischen – haben konnte, ist nicht ungewöhnlich; vgl. Josef, der Sohn Jakobs, der in Ägypten auch den Namen Zafenat-Paneach trägt (Genesis 41,45) und der Prophet Daniel, der auch Beltschazzar hieß (Daniel 1,7). Der Name Hadassa bedeutet Myrre und der Name Esther leitet sich wohl ebenso wie der Name Mordechai von einer altorientalischen Gottheit, hier nun Ištar, ab. Für die weitere Erzählung ist entscheidend, dass Esther nicht nur „schön anzusehen“ (vgl. Vers 2) war, sondern darüber hinaus auch eine „anmutige Gestalt“ besaß. Das Ende von Vers 7 wird in der Septuaginta deutlich abgeändert; Mordechai würde sich seine Nichte, die Vollwaise als zukünftige Ehefrau heranziehen.
Verse 8-9: Nach der Einführung Mordechais und Esters in den Erzählverlauf, wird der in den Versen 1-4 angelegte Erzählpfaden wieder aufgenommen. Sie wird nun zuerst passiv dargestellt. So wie Mordechai sie als seine Tochter „angenommen“ hatte, so wird nun ebenso über sie verfügt und sie wird in die Burg Susa, den Königspalast „genommen“, d.h. gebracht. Dort findet sie in den Augen des Eunuchen Hegai, der der Aufseher des Harems ist, Gefallen (vgl. Vers 2). Darüber hinaus „fand sie Gunst“ bei ihm – die hebräische Formulierung נשא חסד ist auffällig und zeigt vielleicht an, dass Ester andere für sich einzunehmen wusste (vgl. Vers 17). Hegai beeilt sich daraufhin ihr bevorzugt zu Diensten zu stehen. Sie erhält die bestmögliche Vorbereitung auf den Schönheitswettbewerb; so erhält sie nicht nur sieben auserlesene Dienerinnen, sondern wörtlich „sieben der auserlesensten Dienerinnen“.
Verse 10-11: Weiterhin folgt Ester der Autorität ihres Adoptivvaters Mordechai und verheimlicht ihre jüdische Herkunft. Auffallend ist hier die Wortwahl des Autors, der bewusst die Verbindung von Volk und Land betont. Der hebräische Begriff מוֹלֶדֶת, in der revidierten Einheitsübersetzung mit „Abstammung“ übersetzt, bezieht sich sowohl auf ihre genealogische als auch lokale Herkunft. Mordechai, der um Esther besorgt ist, hält sich in der Nähe der Frauengemächer auf, um sich über ihr Wohlergehen zu erkundigen. Aus antiken Quellen ist bekannt, dass ein persischer Harem, nicht im Sinne eines abgeschlossenen Bereichs zu verstehen ist, sondern die Frauen sich frei bewegen konnten.
Verse 12-16: Ein ganzes Jahr dauert die kosmetische Vorbereitung der Jungfrauen auf die Begegnung mit dem König. Zum einen zeigt sich darin wie in Ester 1 die Prachtentfaltung des persischen Königtums. Zusätzlich ist dies auch als eine Übergangsphase oder Rite de passage zu deuten, um die Frauen in ihren neuen sozialen Status einzuführen. Durch die Nacht mit dem König, d.h. nach dem Geschlechtsverkehr mit ihm werden sie zu seinen Nebenfrauen. In gewisser Weise teilen sie das Schicksal mit Waschti und dürfen nur wieder vor den König treten, wenn er sie beim Namen rufen lässt. Als Ester an der Reihe ist, zum König gebracht zu werden, zeigt sich erneut, dass sie demütig dem Rat eines Mannes folgt. Nachdem sie, wie von Mordechai verlangt, ihre religiös-ethische Herkunft verschwiegen hatte, zeigt sie sich nun bescheiden, folgt nicht eigenen Wünschen, sondern lässt sich von Hegai für die Begegnung mit dem König präparieren. Ein Detail in der Wortwahl des Autors unterstreicht dies nochmals: Während die anderen Jungfrauen zum König kommen (im Sinne von ‚gehen‘), wird Ester zu ihm gebracht (vgl. Vers 8). Und dies geschieht vier Jahre nach der Weigerung Washtis und an eben demselben Ort, dem Königspalast.
Verse 17-18: Es ist Liebe auf den ersten Blick – betont wird hier jedoch nur die Liebe des Königs zu Ester. Über sie wird ausgesagt, dass sie aktiv seine Gunst gewann (vgl. Vers 9). Die zuvor bereits allgemein getroffene Aussage, dass Ester „allen“ gefiel, die sie sahen, wird nun auch exemplarisch durch den König bestätigt. Er setzt ihr direkt, ohne Zeremonie und somit spontan die Krone auf, die Waschti zu tragen verweigerte. Erst nach der spontanen Krönung richtet der König zu Ehren der neuen Königin ein Gastmahl mit allen Satrapen aus. Es ist nun nach den drei Gastmählern in Ester 1 bereits das vierte Gastmahl, von dem erzählt wird.
Vers 19: In diesem Vers ist für viele Ausleger unverständlich, wozu eine zweite Versammlung der Jungfrauen, analog zu den Worten in Vers 3, stattfindet, nachdem Ester gekrönt ist. Vielleicht handelt es sich um die Versammlung der übriggebliebenen Jungfrauen, die noch nicht zum König geführt worden waren und daher nicht zu den Nebenfrauen zählen. Wozu diese Versammlung vorgenommen wird, wird nicht erzählt. Bedeutsam ist nun der Schwenk des Fokus auf Mordechai. Er sitzt im Tor des Palastes – einem bedeutenden öffentlichen Platz, der für die gesellschaftliche Kommunikation aber auch Jurisdiktion von hoher Bedeutung war. Vielleicht deutet seine Anwesenheit dort daraufhin, dass er zu den Torwächtern zählte – was auch erklären könnte, wie er sich in der Nähe des Frauenpalastes frei bewegen konnte.
Vers 20: Nochmals wird darauf hingewiesen, dass Ester ihre jüdische Herkunft verheimlichte und so dem Rat ihres Adoptivvaters Mordechai auch nach dem Aufstieg von der Waise zur Königin folgte.
Verse 21-23: Die Aufdeckung des Komplotts gegen den König geschieht in der Zeit, als Ester bereits Königin ist, und hat somit nichts mit ihrem Aufstieg zu tun. Vielmehr verdeutlicht diese Episode, dass die beiden jüdischen Protagonisten loyal gegenüber dem König handeln. Im hebräischen Text steht, dass die beiden Leibwächter des Königs über diesen „erzürnt“ waren – das hebräische Wort קצף weist auf eine wohlbedachte Mordabsicht hin. Mordechai erfährt von der Planung des Mordes und berichtet davon der Königin Ester, die es wiederum ‚im Namen Mordechais“ dem König mitteilt. Für den weiteren Verlauf der Erzählung ist nun entscheidend, dass Mordechai für sein Tun nicht belohnt wird. Der Autor erzählt nichts von einer Reaktion des Königs und auch die folgende Untersuchung und Verurteilung wird im Passiv ausgedrückt. Der König tritt erzähltechnisch beinahe selbst in den Hintergrund, um dann in Ester 6,1-10 die Belohnung Mordechais nachholen zu können, aufgrund des Eintrags in der königlichen Geschichtschronik. Hier nun bleiben der Leser und die Leserin mit der Frage zurück, warum Mordechai für seine Tat nicht geehrt wird.