Erweist sich vom Buchaufbau her die vorangehende Amos-Amazja-Szene in Amos 7,10-17 als Begründung des "Gesinnungswandels" in Gott, nicht länger an seinem Volk verschonend, d. h. vergebend vorüberzugehen, so lesen sich die drei Unheilsworte Amos 8,4-14 als Begründung für das "endgültige Aus" der vierten Vision (Amos 8,1-3).
Aufbau des Gesamttextes und Einordnung in das Amosbuch
Amos 8,4-7 variiert die aus Amos 2,6-7 bekannte Anklage. Der Vorwurf der Armenunterdrückung und des Schuldsklaven-Verkaufs wird um Handelsbetrug und Gewinngier erweitert. Das eigentliche Unheilswort in Vers 7 greift mit der markanten Rede vom "Stolz Jakobs" begrifflich auf Amos 6,8 zurück.
Die Verse 9-10 - eingeleitet durch die Formel "An jenem Tag" - machen das Trauermotiv stark, und zwar nicht als "Trauer der Schöpfung" (so in Amos 1,2), sondern in dem Sinn, dass das ganze Land nur noch von Trauerklagen erfüllt sein wird. Damit wird an die Trauerklagen der Palastsängerinnen in Amos 8,3 ebenso angeknüpft wie an das Kapitel 5, das als ganzes die Form einer Trauerklage hat (vgl. Amos 5,1). Besonders nahe zu Amos 8,9-10 stehen dabei die Schlussverse Amos 5,16-17.
Das dritte Unheilswort Am 8,11-14 ("Siehe, Tage kommen ...") kündigt das Ausbleiben des göttlichen Wortes an und setzt damit einen Kontrapunkt zur "Wort-Vertreibung", d. h. zum Redeverbot und Rauswurf des Propheten in Amos 7,10-17.
Vers 8 schiebt zwischen erstes und zweites Unheilswort die Frage ein, ob angesichts des enormen Unrechts nicht die ganze Schöpfung in Aufruhr geraten sollte, und greift dabei auf Motive aus dem insgesamt dreistrophigen Namen-Gottes-Hymnus zurück (Amos 4, 13; 5,8; 9,5-6). Eine besondere Nähe zeigt sich zur dritten der genannten Strophen, wie das gemeinsame Stichwort "Nil" belegt.
Das erste Unheilswort: Verse 4-7
Mit Hilfe von Entlehnungen aus der Israelstrophe (Amos 2,6-16) entsteht ein neuer Schuldaufweis. Er hat die Funktion, innerhalb der gesamten fünf Visonen des Amosbuches genau an der Stelle, wo die auszurichtende Botschaft am härtesten formuliert ist - “Das Ende ist gekommen” (8,2) - diese Härte des Urteils zu begründen. Dazu werden aber nicht mehr verschiedene soziale Vergehen nebeneinandergestellt wie in 2,7-8, sondern eine einzige durchgängige Anklage wird formuliert. Sie schlüsselt das Verhalten der Angeklagten nach Ziel, innerer Haltung und Mitteln zur Durchsetzung ihres Ziels auf.
Das Ziel heißt in heutiger Sprache Gewinnmaximierung - um jeden Preis. Wörter wie "verkaufen", "kaufen" und "Geld" - zur biblischen Zeit keine Münzen, sondern ungeprägte Silberstücke, deren Wert vom Gewicht abhing - zeigen, dass allein der ökonomische Gesichtspunkt zählt. Bei den Mitteln ist man nicht zimperlich. Wer in diesem System "schwächelt", wird zum Opfer und verliert durch Aufkauf bzw. Weiterverkauf seinen Status als freier und damit rechtsfähiger Bürger. Kleinbesitz wird dem Großgrundbesitz zugeordnet, Abhängigkeiten werden zur Erpressung menschenunwürdiger Dienstleistungen ausgenutzt. Im freien Handel herrscht Betrug durch Manipulation der Messgeräte. Und die Feiertage des Neumondfestes und des Sabbats1, an denen man keine Geschäfte tätigte, werden weder als gottgeschenkte Zeiten des Atemholens noch als Tage für den Gottesdienst verstanden, sondern einzig als entgangene Geschäftsgelegenheit. Die aktuellen Diskussionen um geschäftsoffene Sonntage winken schon aus biblischer Zeit herüber.
Erkennbar wird hinter den genannten Beispielen eine Haltung der rücksichtslosen Vorteilssuche, der Streichung aller nicht geschäftlich verwertbaren Dimensionen aus dem Leben - auch der Dimension Gottes -, eine Haltung der Instrumentalisierung von allem und jedem und ein Wechsel von allgemein gültigem Recht zu privater Festsetzung der Spielregeln, die den Rechtsbruch z. B. in Form von Betrug erlauben. Zeitlich gehören diese Vorwürfe entweder in die Phase der Anwendung der Amosworte auf das Land Juda im ausgehenden 8. Jh. v. Chr. oder vielleicht sogar erst in die viel spätere Zeit der Rückkehr aus dem Exil. Denn gerade die dann regierenden Perser scheinen bei aller religiösen Toleranz einen erheblichen Wirtschaftsdruck und ein entsprechendes ökonomisch ausgerichtetes Denken verbreitet zu haben (vgl. Nehemia 5,1-5; das gesamte entsprechende Kapitel aus Nehemia findet sich wiedergegeben unter "Kontext").
Ein letztes Mal innerhalb des Amosbuches folgt ein JHWH-Schwur (vgl. bereits Amos 4,2; 6,8). Diesmal schwört JHWH aber nicht bei sich selbst, sondern beim “Stolz Jakobs”. Dieser dürfte hier - anders als in Amos 6,8 - nicht den Hochmut des Nordreichs meinen, sondern für das Land als gottgeschenktes Erbe stehen (vgl. Psalm 47,5 und Nahum 2,3 mit einer entsprechenden Redeweise vom “Stolz Jakobs”). Unausgesprochen steckt damit in der Beschreibung des Schwurs die Anklage, dass die Adressaten schlechte Verwalter des ihnen von Gott überantworteten Erbteils sind. Sein besonderer Blick für die "Armen" und "Gebeugten im Land" (Vers 4) findet keine Entsprechung im Leben der angesprochenen Menschen. Wenn diese auf Gottes Vergesslichkeit gesetzt haben sollten, so befinden sie sich im Irrtum: Gott gedenkt ihrer Taten; jede von ihnen wird festgehalten, und ihre den Täter selbst einholende Wirkung bleibt erhalten. Wann Gott die Täter der Wirkung ihrer Taten preisgibt, das bleibt im Text offen.
Eine Frage zum Nachdenken: Vers 8
Wie Amos 1,2 das in 1,1 genannte Erdbeben als Folge des Wirkens Gottes in der Schöpfung interpretiert, in dem er sein lebensspendendes Handeln widerruft, so interpretiert Am 8,8 den offen formulierten Vorgängervers im Sinne eines Erdbebens mit seinen Folgen, das kommen wird. Obwohl in Am 8,8 nicht ausdrücklich von Gott die Rede ist, lässt der Zusammenhang (Vers 7) keinen Zweifel, dass hinter dem Erdbeben kein anderer als JHWH selbst steht. Die gewaltige kosmische Erschütterung als Folge der zuvor genannten Untaten könnte als unverhältnismäßig erscheinen. Doch die rhetorische Frage, die auf ein Ja zielt, will gerade zur Einsicht führen, dass Gott zu solcher Katastrophe alles Recht auf seiner Seite hätte. Vgl. dazu unter "Auslegung".
Das zweite Unheilswort: Verse 9-10
Im hebräischen Text besteht eine Lautbrücke zwischen "Nil" (hebräisch: ye’ôr) in Vers 8 und "Licht" (hebräisch: ’ôr) in Vers 9. Die Formulierung der Einheitsübersetzung "am helllichten Tag" heißt wörtlich: "am Tag des Lichts" und gibt sich damit als Anspielung auf Amos 5,18-20 zu erkennen, wonach der "Tag des Lichts" für die Adressaten des Amos zum "Tag der Finsternis" werden wird.
Dies bedeutet zunächst einmal, dass Vers 8 ein Scharniervers ist, der sowohl auf Vers 7 und andere frühere Texte zurückverweist, aber zugleich auch schon zur Fortsetzung ab Vers 9 überleitet. Das Verbindende ist die Aufhebung der Schöpfungsordnung durch den Schöpfer selbst. Sie betrifft nicht nur die räumlichen Dimensionen, sondern auch die Zeit. Die von den festgesetzten "Lichtzeiten" abhängige Zeit- und Lebensordnung gilt nicht mehr. Das Licht als Metapher für das Leben wird ersetzt durch die Finsternis als Metapher des Todes. Der lebensunfähige Ausgangszustand der Schöpfung, aus dem Gott erst ein Lebenshaus durch sein "Es werde Licht" erschuf (Genesis/1. Buch Mose 1,1-5), taucht drohend als Szenario auf.
Dazu passt auch Vers 10, der über das Motiv der Trauer und der Totenklage diese Welt des Todes weiter ausmalt. Bei genauerem Hinsehen erweist sich Vers 10 als eine Unheilsankündigung, die ihr "Material" vor allem aus dem 5. Kapitel des Amosbuches bezieht. Dies gilt in doppelter Weise: Besonders Amos 5,1-3 und 5,16-17 kündigen Unheil in der indirekten Form an, dass es Anlass zu großer Trauer geben wird. Die "Feste" und "Lieder" hingegen sind aus den Versen 5,21.23 bekannt. Sie stehen für den sinnentleerten Kult, der Gott nur noch bestechen und das Unrecht im Alltag vertuschen soll.
Wenn man so will, ordnet sich auch Vers 10 in die Perspektive der Zeit ein, um die es in Versen 9-10 geht. Dies zeigt der Blick auf einen berühmten Text aus dem Buch Kohelet. Dieser Weise schreibt u. a., es gebe "eine Zeit zum Weinen und eine Zeit zum Lachen, eine Zeit für die Klage und eine Zeit für den Tanz" (Kohelet 5,4). Amos 8,10 kündet eine reine Zeit des Weinens und Klagens ohne Aussicht auf Lachen und Tanzen, auf Feiern und Singen an.
Das dritte Unheilswort: Verse 11-14
Die letzte Einheit ist ein Doppelspruch, der mit seinen beiden unterschiedlichen Einleitungen ("Siehe, es kommen Tage" [Vers 11] und "An jenem Tag" [Vers 13 wie bereits vorher Vers 9]) einerseits einen uneinheitlichen Eindruck macht, andererseits aber durch das Wort "Durst" (Verse 11 und 13) zusammengehalten wird.
a) Verse 11-12
Entscheidender ist der Wechsel zwischen Vers 10 und Vers 11. Denn jetzt wird ein neues Thema eingeführt: das "Wort des HERRN". Das erinnert zwar der Sache nach an die Amos-Amazja-Szene in Amos 7,10-17. Hier geht es ja gerade darum, dass Amos die Möglichkeit genommen wird, das Wort Gottes in Bet-El zu verkünden. Man verbietet ihm den Mund. Und tatsächlich fällt auch der markante Begriff "Wort des HERRN" in diesem Absatz (7,16: "Darum höre jetzt das Wort des HERRN ..."). Aber er hat hier klängst nicht die grundsätzliche Bedeutung wie in Amos 8,11-12. Hier steht nicht mehr das Einzelwort eines Propheten im Auftrag seines Gottes zur Debatte, sondern das Sprechen Gottes an und für sich. Ohne dieses Sprechen gäbe es nicht ein einziges der Worte der Propheten und auch keinen Buchstaben der Heiligen Schrift. Es geht um das Wort Gottes als die eigentliche Lebensquelle. Diese Vorstellung stammt nicht aus dem Amosbuch. Hintergrundtexte sind vielmehr Verse wie Deuteronomium/5. Buch Mose 8,3b und Jesaja 55,1-3:
"Er wollte dich erkennen lassen, dass der Mensch nicht nur von Brot lebt, sondern dass der Mensch von allem lebt, was der Mund des HERRN spricht" (Deuteronomium 8,3b).
"1 Auf, alle Durstigen, kommt zum Wasser! Die ihr kein Geld habt, kommt, kauft Getreide und esst, kommt und kauft ohne Geld und ohne Bezahlung Wein und Milch! 2 Warum bezahlt ihr mit Geld, was euch nicht nährt, und mit dem Lohn eurer Mühen, was euch nicht satt macht? Hört auf mich, dann bekommt ihr das Beste zu essen und könnt euch laben an fetten Speisen! 3 Neigt euer Ohr und kommt zu mir, hört und ihr werdet aufleben! Ich schließe mit euch einen ewigen Bund: Die Erweise der Huld für David sind beständig" (Jesaja 55,1-3).
Hier geht es nicht um das Schöpferwort, das alles ins Dasein ruft (vgl. Genesis 1), sondern um Gottes Wort der Weisung, wie es sich in der Weisung der Tora des Mose und ebenso in den wegweisenden Worten der Propheten findet. Es will Orientierung geben, wie Leben gelingen kann ohne sich von dem abhängig zu machen, was mit Geld zu bezahlen ist. Damit wird nicht der Armut das Wort geredet, wohl aber der Vergottung des Geldes und dessen, wofür es steht, eine Absage erteilt: z. B. Macht, Blindheit für die, die weniger oder nichts haben, Käuflichkeit von allem und jedem auch unter Akzeptanz des Rechtsbruchs usw. . Das Wort Gottes will Weisung geben, mit allen anderen zu leben und nicht auf Kosten anderer.
Was ist, wenn niemand mehr dieses Wort wachhält? Was ist, wenn es keine Prophetinnen und Propheten mehr gibt? Genau diese Situation wird in Aussicht gestellt, aber nicht als etwas, das die Menschen gleichgültig, sondern sie suchen lässt - wie sie einst in der Wüste vom Hunger getrieben nach Manna suchten (Amos 8,12 ["dann ziehen sie"/wörtlicher: "dann streifen sie umher"] und die Mannasuche in Numeri/4. Buch Mose 11,8 ["Das Volk streifte umher und sammelte ..."] sind durch dasselbe auffällige hebräische Wort schûṭ "umherstreifen" miteinander verbunden). Eine eigentümliche Unheilsdrohung: Gott lässt weltweit ("von Meer zu Meer") den Entzug seine Wortes als geistliche Not verspüren. Das setzt natürlich voraus, dass sich aus denen, die Gott das Wort verbieten wollten (vgl. Amos 7,10-17) erst einmal solche geworden sind, die die Bedeutsamkeit des Wortes Gottes wieder erkannt haben. Wo aber diese Sehnsucht gegeben ist, da ist es schwer vorstellbar, dass Gott sich entzieht - so wenig, wie sich im Gleichnis vom Verlorenen Sohn bzw. Barmherzigen Vater eben dieser Vater dem heimkehrenden, zur Besinnung gekommenen Sohn entzieht (vgl. Lukas 15,11-24).
Der Spruch aus Amos 8,11-12 richtet sich wohl bereits an die aus Juda vertriebene, im Exil lebende jüdische Gemeinde, die ihre Sehnsucht nach dem Wort Gottes ja nicht verlieren soll. Die Verse ordnen sich in sehr eindringlichen Worten einmal mehr in die Theologie des 4 Kapitels des Buches Deuteronomium ein, das sowohl den Zustand des Exils (Verse 27-28) als auch der heilvollen Wende (Verse 29-30) umschreibt:
27 Der HERR wird euch unter die Völker verstreuen. Nur einige von euch werden übrig bleiben in den Nationen, zu denen der HERR euch führt. 28 Dort müsst ihr Göttern dienen, Machwerken von Menschenhand, aus Holz und Stein. Sie können nicht sehen und nicht hören, nicht essen und nicht riechen. 29 Dort werdet ihr den HERRN, deinen Gott, wieder suchen. Du wirst ihn auch finden, wenn du dich mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele um ihn bemühst. 30 Wenn du in Not bist, werden alle diese Worte dich finden. In späteren Tagen wirst du zum HERRN, deinem Gott, zurückkehren und auf seine Stimme hören. (Deuteronomium 4,27-30).
b) Verse 13-14
In diesen Versen wird die geistliche Not - die Sehnsucht nach dem Wort - in eine leibliche, körperlich erfahrbare Not gewandelt. Die innere Verbindung zwischen beiden Teilsprüchen besteht dabei darin: Es gibt die Gefahr, die Bedeutsamkeit des Wortes Gottes gänzlich zu vergessen (Verse 11-12); es gibt aber auch die Gefahr, sich Ersatzlösungen zu schaffen und die "Lebensmittel" von selbstgeschaffenen Göttern zu erwarten. Für diese stehen hier die Heiligtümer von Bet-El, Samaria und Beerscheba in Vers 13-14.
Die Gefahr, seine Lebensquellen nicht mehr im Gott Israels zu suchen, sondern in anderen (Fruchtbarkeits-)Göttern oder auch in weltlichen Bündnissen oder den eigenen Kräften zu suchen, ist alt. Schon Hosea (8. Jh. v. Chr.) lässt dies deutlich erkennen. Hier lässt der Prophet Israel, das er wenig freundlich mit einer ehebrecherischen, zur Prostitution neigenden Ehefrau vergleicht, sagen:
"Ich will meinen Liebhabern hinterhergehen. Sie geben mir Brot und Wasser, Wolle und Leinen, Öl und Getränke." Hosea 2,7)
Von der Theologie des Buches Deuteronomium geprägt (die "Mädchen und jungen Männer" in Vers 13 erinnern z. B. an Deuteronomium 32,25: "Auf der Straße raubt das Schwert und in den Zimmern der Schrecken den jungen Mann und das Mädchen ..."), will der Schreiber dieser Verse genau davor warnen: sein Heil in Ersatzlösungen zu suchen, die nichts mit dem einen Gott zu tun haben. Solche Lösungen werden sich als trügerisch erweisen.
Dieser Gedanke tauchte bereits in Amos 5,26 auf ("Ihr werdet den Sakkut als euren König vor euch hertragen müssen und den Kewan, euren Sterngott, eure Götter, die ihr euch selber gemacht habt."). Es könnte der selbe Verfasser dahinter stehen. Geschickt knüpft er aber auch an ein Wort des Amos an. Denn der Schluss von Vers 14 ("... sie werden zu Boden stürzen und sich nicht mehr erheben.") erinnert deutlich an Amos 5,2: "Gefallen ist sie und steht nicht wieder auf, die Jungfrau Israel; sie liegt zerschmettert auf ihrem Boden, niemand richtet sie auf." Amos 8,11-14 aktualisiert die Botschaft des Amos für die nachexilsiche Zeit.